TAG DES FLÜCHTLINGS 2000
Rückkehrdruck à la Bayern
Die Selbsthilfeaktion der Eltern albanischer Flüchtlingskinder
gegen die Verweigerung des Schulbesuchs
Michael Stenger
Herausgegeben zum Tag des Flüchtlings am 29. September 2000
Herausgeber: PRO ASYL, Arbeitsgemeinschaft für Flüchtlinge mit freundlicher Unterstützung von: Deutsche Stiftung für UNO-Flüchtlingshilfe e.V., Deutscher Caritasverband e.V., Interkultureller Beauftragter der Ev. Kirche in Hessen und Nassau, Kirchlicher Entwicklungsdienst der Evangelischen Kirche in Deutschland durch den ABP, Land Hessen.
Der Tag des Flüchtlings findet im Rahmen der Woche der ausländischen Mitbürger/Interkulturellen Woche (24. bis 30. September 2000) statt und wird von PRO ASYL in Zusammenarbeit mit dem Ökumenischen Vorbereitungsausschuß zur Woche der ausländischen Mitbürger vorbereitet.
INHALT
- Grußwort des UNHCR-Vertreters in der Bundesrepublik Deutschland
- Recht statt Willkür
- Fragen und Antworten zum Thema Asyl
- Nichtstaatliche Verfolgung als Asylgrund
- Bosnische Flüchtlinge in der Bundesrepublik Deutschland
- Härtefallregelungen im Ausländergesetz – längst überfällig und dringend nötig
- Bad Grund – statt Mitgefühl Stigmatisierung
- » … wir sollen euch davon nichts sagen … «
- Von der Krankheit zum Tode – ein Sondereinsatzkommando erschießt einen Flüchtling
Beispiele und Anregungen
- Umtauschbilanz 1999
- »Sie denken, dass wir Bettler sind«
- Gelebte Demokratie
- Größtmögliche Gemeinheit
- Die Fluchtwohnung
- »Langer Atem«
- Das längste Kirchenasyl in Niedersachsen ging nach 941 Tagen zu Ende
- Protest gegen die Verweigerung von Abschiebungsschutz für eine Kranke
- Rage against Abschiebung
- Denkzettel
- Schüler setzen sich für Flüchtlingsfamilie ein
- Flugblatt
- Medizinische Flüchtlingshilfe erhält Preis
- Betreuung ohne Krankenschein
- »In diesem Garten kann ich reisen«
- Rückkehrdruck à la Bayern
- »Wie Schlachthof oder Leichenhalle«
- Eltern haften ohne ihre Kinder
- Von Deutschland in den türkischen Folterkeller
Unter den aus Mazedonien evakuierten Flüchtlingen aus Kosova befanden sich auch viele Kinder. Noch während des Krieges im Kosova und des NATO-Krieges gegen Restjugoslawien wurde das Bayerische Kultusministerium darauf hingewiesen, dass es notwendig sei, die Flüchtlingskinder einzuschulen. Von dort allerdings hieß es in einem Schreiben vom 19. April 1999 an den Münchner Flüchtlingsrat zunächst, die Kinder der evakuierten Flüchtlinge seien weder schulpflichtig noch schulberechtigt. Auch das Diakonische Werk und die Caritas bemühten sich um die Schulangelegenheit. Am 19. Mai ließ man dann verlautbaren, dass eine Entscheidungsfindung vorbereitet würde. Das Kultusministerium ließ dann wissen, dass das Innenministerium jedoch eine Einschulung der Kontingentkinder untersagt habe, weil »die im Herbst alle zurückgehen«.
Eine gemeinsame Initiative der Flüchtlinge und die pressewirksame Unterstützung durch das Kosova-Kommunikationszentrum München brachten dann im November die nicht mehr erwartete positive Wende. Presseerklärung vom 4. November 1999:
»Vor kurzem wurden viele von ihnen aus dem Kreisgebiet evakuiert, wo ihnen 10 Jahre lang der reguläre Schulgang verwehrt wurde. Jetzt wird gegen diese Gruppe, für die man während des Krieges ein hohes humanitäres Engagement vorgab, der Schulkrieg erklärt und das Schul-Trauma fortgesetzt. Mit diesem Druck auf Kinder und Eltern sollen sie dazu gedrängt werden, noch vor dem Winter das Land zu verlassen und ins nach wie vor bestehende Chaos und die Obdachlosigkeit nach Kosova zurückkehren. Ihnen schlägt die gleiche kinderfremde Haltung des Schulamtes ent- gegen wie den unbegleiteten minder- jährigen Flüchtlingen seit Jahren.«
Der Eltern-Initiative folgte eine breite Pro-Kinder-Front verschiedener Verbände, Organisationen, Gewerkschaftsgruppen und Parteien. Sie forderten, dass die Kinder unmittelbar nach den Herbstferien eingeschult werden. Die Entschiedenheit der Eltern und der breit angelegte öffentliche Druck erwirkten schließlich die Einschulung der Kinder. Im Vorfeld hatten sich das der Regierung von Oberbayern nachgeordnete Staatliche Schulamt München (generell zuständig für Einschulungsfragen) und das Städtische Schulreferat (für Schulräume und Beförderungsfragen zuständig) den schwarzen Peter hin- und hergeschoben. Während dieser öffentlichen Aktion und Debatte hatte das Schulamt stets vorgegeben, es scheitere alles nur an der Weigerung des Münchner Schulreferates, die anfallenden Kosten zu übernehmen. Die Briefe des Bayerischen Kultusministeriums an den Münchner Flüchtlingsrat bestätigen jedoch das eingangs Dargelegte eindeutig.
Als die Pläne für die Einschulung bekannt wurden, brach bei Eltern und Lehrerinnen und Lehrern gleichermaßen Entsetzen aus. Die Klassen sollten so aufgeteilt sein, dass die Jahrgangsstufen 1– 4 und 5 – 8 zusammengefasst und in einem Klassenzimmer und von einer Lehrkraft unterrichtet werden sollten,. Da uns die Anzahl der Kinder und der genehmigten Klassen bekannt war, arbeiteten wir im Elternrat einen Kompromissvorschlag aus, der eine Aufteilung in die Klassen 1 – 4, 5 – 6 sowie 7 – 8 vorsah und unterbreiteten diesen der Regierung von Oberbayern. Man bedankte sich für unser Engagement. Man werde die Sache regeln. Dies war die bis heute einzige Reaktion auf die Kompromissformel.
Der nächste Paukenschlag: Da dem Kultusministerium nichts anderes vorlag, wurde den Lehrerinnen und Lehrern, den Schülerinnen und Schülern der serbokroatischsprachige Schulplan vorgesetzt. Ein Affront für die Betroffenen, denn einer der auslösenden Faktoren für die kriegerischen Auseinandersetzungen in Kosova war eben dieser Schulplan, den man alle albanischen Lehrerinnen und Lehrer zwingen wollte zu unterschreiben, dass sie einzig danach unterrichten werden. Die kollektive Weigerung hatte Massenentlassungen und das Ende des regulären Schulbetriebs für die albanischen Kinder zur Folge.
Die Regierung erklärte sich dem Vorschlag gegenüber offen, den albanischen Schulplan, nach dem die Kinder nach der Rückkehr unterrichtet werden, zum Einsatz zu bringen. Von seiner Kosova- Reise im Januar brachte Michael Stenger (Kosova-Kommunikationszentrum) diesen Schulplan ebenso mit wie die diplomatische Note der UNMIK – Beauftragten für Kosova, Frau Steffie Schnoor (ehemalige Kultusministerin von Brandenburg / CDU), mit dem Vermerk, dass dieser Schulplan von der UNMIK geprüft und akzeptiert worden ist. Ebenso wurden dem Kultusministerium die Schulbücher zur Ansicht vorgelegt. Monatelang prüfte das Ministerium nun, ob die Bücher in Bayern eingesetzt werden können. Frau Schnoor (von der Schwesterpartei) habe ja schließlich keinen Eid auf die Bayerische Verfassung geschworen. Am Rande sei hierbei erwähnt, dass die Bayerische Verfassung in Artikel 129 festschreibt: »Alle Kinder sind zum Besuch der Volksschule und der Berufsschule verpflichtet.« Von den örtlichen Behörden in Prishtina bekam man sogar die Zusage, dass die benötigten Bücher unentgeltlich für die Kinder zu Verfügung gestellt würden. Sobald die Zusage der bayerischen Regierung da sei, werde geliefert. Bis heute warten die Kinder auf ihre Bücher. Bis Ende Februar warteten sie auf Deutsch-Unterricht.
Die Kinder ohne Schulunterricht zu lassen ist weder pädagogisch vertretbar noch ein Beitrag zur Zukunft Kosovas. Statt dessen werden Kinder Opfer einer eingleisigen innenpolitischen Strategie, die Kosova-Flüchtlinge mit jedem denkbaren Mittel wieder außer Landes zu schaffen. Dabei wollen die ganz überwiegend ohnehin so schnell wie möglich zurück. Die betroffenen Eltern haben inzwischen eine Bitte an das Bayerische Innenministerium gerichtet. Sie wollen bis zum Schuljahrsbeginn Anfang September mit ihren Kindern zu Hause sein und deswegen das Schuljahr in Bayern beenden. Viele von ihnen haben in Kosova noch nicht einmal ein Dach über dem Kopf in Aussicht.