Neshe, die Fröhliche
Bürger kämpfen für ein kurdisches Mädchen
Frankfurter Rundschau (ZEIT UND BILD)
Von Jörg Schindler
Fena ist türkisch und bedeutet „Die Unerwünschte“. Neshe ist türkisch und bedeutet „Die Fröhliche“. Neshe Özmen hieß 13 Jahre lang Fena, bis sie nach Deutschland kam, um hier leben zu dürfen. Eine Weile ging das gut, dann mußte sie gehen, weil Politiker und Bürokraten es so wollten. Für sie ist Neshe bis heute Fena.

Christina Osterwald hat Neshes Leben in Ordnern gesammelt. Hat jede Aktennotiz, jeden Zeitungsartikel, jedes Behördenschreiben penibel abgeheftet. Mit der Zeit ist ein bemerkenswertes Nachschlagewerk über deutsche Asylpolitik daraus geworden – Blatt für Blatt, so hat es Martin Walser ausgedrückt, eine „traurige Groteske“. Erst kürzlich, als Neshe aus Ankara verschwunden war, sind wieder ein paar Seiten dazugekommen. Nach Lage der Dinge werden es nicht die letzten gewesen sein. „Sie können sicher sein“, sagt Christina Osterwalds Mann Kurt, „bis Sie in Pension gehen, werden wir an dem Fall dranbleiben.“ Dabei bin ich erst dreißig.
Schwer zu sagen, wann der „Fall Neshe“ beginnt. Mit ihrer Ankunft in Heidelberg? Mit ihrer Abschiebung? Mit der Behördenauskunft, daß von einer „außergewöhnlichen Härte“ hier nun wirklich nicht die Rede sein kann? Mit dem Protest von Heidelbergern, der nun schon mehr als ein Jahr lang andauert und den Pro Asyl als „einmaliges demokratisches Beharrungsvermögen in Deutschland“ bezeichnet hat? Vielleicht auch viel früher.
Neshe Özmen wurde in einem Dorf nahe Cizre geboren. Das liegt in Ostanatolien, dort, wo die türkische Armee seit Jahrzehnten einen Krieg gegen die Kurden führt. Weil ein Onkel angeblich PKK-Mitglied war, kamen eines Tages – als die Mutter mit Neshe hochschwanger war – Soldaten ins Dorf. Sie trieben, so erzählt es Neshe, fast alle Männer zusammen und brachten sie um. Viele Frauen wurden mißhandelt. Neshes Mutter ist seither gelähmt und kann nicht mehr sprechen. Als ihre Tochter zur Welt kam, gab sie ihr – in Erinnerung an das Massaker – den Namen Fena. Nach deutscher behördlicher Lesart keine außergewöhnliche Härte.
Neshes älterer Bruder, auch er als PKK-Sympathisant verfolgt, floh vor Jahren nach Deutschland. Weil er nachweisen konnte, daß er in der Türkei gefoltert worden war, wurde er als Asylbewerber anerkannt. Er lebt seither in Heidelberg. Vor vier Jahren kam auch seine von der Familie unerwünschte Schwester nach Deutschland und beantragte Asyl. Fena Özmen war damals 13 Jahre alt und konnte keine Folter nachweisen. Ihr Antrag wurde abgelehnt. Danach wurde sie bis auf weiteres nur noch „geduldet“.
„Neshe hat hier Unglaubliches geleistet“, sagt Marianne Link. Sie war die Deutschlehrerin des kurdischen Mädchens, und sie war es, die Fena – „weil sie einen so fröhlichen Charakter hat“ – den Namen Neshe gab. Ohne größere Probleme, sagen Mitschüler und Lehrer, habe sich Neshe auf der Internationalen Gesamtschule in Heidelberg eingelebt. Schon früh hatte sie eine Lehrstelle als Zahnarzthelferin in Aussicht, und Anfang Juli 1997 machte sie einen guten Hauptschulabschluß. Das Zeugnis freilich konnte sie nicht mehr entgegennehmen.
Am frühen Morgen des 9. Juli 1997 suchen Polizeibeamte die Wohnung von Neshes Bruder, ihrem Vormund, auf. Die 16jährige wird geweckt, man drückt ihr den Widerruf ihrer Duldung in die Hand, fordert sie auf, die nötigsten Sachen zu packen und nimmt sie mit. Neshe wird zum Rhein-Main-Flughafen nach Frankfurt gebracht. Dort startet an diesem Morgen eine Lufthansa-Maschine in Richtung Türkei. Als der Kapitän das Mädchen sieht, das sich weinend auf das Flugfeld setzt, weigert er sich, sie an Bord zu nehmen. Die Beamten müssen Neshe unverrichteterdinge wieder wegführen.
Noch am selben Morgen wird Neshe zurück nach Heidelberg gebracht. Stundenlang hält man sie auf dem dortigen Polizeirevier fest. „Wie ein Verbrecher“ sei sie behandelt worden, sagt Neshe. Am Abend wird das Mädchen erneut in einen Polizeiwagen gesetzt. Das Ziel ist diesmal Köln, wo sie schließlich in eine türkische Nachtmaschine nach Ankara gezwungen wird. Am 10. Juli, gegen halbfünf morgens, landet das Flugzeug. Was sich danach ereignet, schildert Neshe später in einem Fax so: „Als ich am Flughafen in Ankara ankam, warteten schon die Polizisten vor dem Flugzeug. Ich wurde auf das Polizeirevier gebracht und bekam kein Essen. Gegen 15 Uhr kamen zwei Vorsitzende der Menschenrechtsorganisation zum Flughafen, woraufhin ein Protokoll aufgenommen wurde. Nach einem Arztbesuch wurde ich vernommen.“ Beamte von der „Terrorismusbekämpfungsstelle“ wollen von dem Mädchen genaue Einzelheiten über ihren Bruder, den vermeintlichen PKK-Aktivisten, erfahren. Als sie glauben genug zu wissen, wird Neshe am Abend schließlich den Menschenrechtlern übergeben. Von Neshes Familie ist niemand nach Ankara gekommen, um sie in Empfang zu nehmen.
Daß Neshe vergleichsweise problemlos wieder freikam, hat sie aller Wahrscheinlichkeit nach Freunden in Heidelberg zu verdanken. „Wir haben den türkischen Menschenrechtsverein informiert“, berichtet Marianne Link, „und wir haben über die deutsche Botschaft nachgefragt, was mit Neshe passiert.“ Deswegen und nur deswegen, da ist sich Kurt Osterwald sicher, sei dem Mädchen in Polizeigewahrsam nichts angetan worden. „Da konnte nichts still und leise geschehen.“ Mit dieser Strategie halten es Neshes Unterstützer auch weiterhin. Die Verlegerin Christina Osterwald – eine von etlichen Heidelbergern, die nicht gewillt sind, die Abschiebung ohne weiteres hinzunehmen – beginnt, die ersten Akten abzuheften. Spätestens jetzt ist Neshe zu einem öffentlichen „Fall“ geworden. Und das soll er, geht es nach dem Willen der Bürger, bleiben – solange, bis Neshe wieder nach Deutschland darf.
Es ist nicht überliefert, ob Thomas Schäuble die Entscheidung, Neshe abzuschieben, schon einmal bedauert hat. Nach allem, was man liest über den Christdemokraten und kleinen Bruder von Eventualitätskanzler Wolfgang Schäuble, ist das eher unwahrscheinlich. Andererseits: Hätte der Innenminister des Landes Baden-Württemberg geahnt, wieviel Bürgerzorn, wieviel politische Schelte und wieviel juristische Schwierigkeiten er sich mit der „Rückführung“ der jungen Kurdin zuziehen würde – wer weiß, wie die Entscheidung dann ausgefallen wäre.
Denn nicht das Einzelschicksal Neshes ist das Besondere an diesem Fall – dafür setzt die Bundesrepublik Monat für Monat zu viele Flüchtlingskinder vor die Tür. Nicht der „bürokratische Zynismus“, wie es Pro-Asyl-Sprecher Heiko Kauffmann nennt, fällt in diesem Fall besonders ins Auge – der ist nicht einmalig in einem Staat, der die UN-Kinderrechtskonvention nie sonderlich ernst genommen hat. Und auch die Abschiebeprozedur kann beim besten Willen nicht als außerordentlich drastisch eingeschätzt werden – da gibt es andere, noch schlimmere Fälle, in denen die politischen Ordnungshüter ebenfalls keine besonderen Härten zu entdecken vermochten.
Nein, um Mißverständnisse zu vermeiden: Die Geschichte von Neshe Özmen soll hier nicht als außergewöhnliches Schauermärchen dargeboten werden. Die Geschichte, soweit sie bisher erzählt wurde, ist – auch wenn es zynisch klingt – nur eine von vielen. Sie ist, wenn man so will, beinahe normal.
Bemerkenswert wird sie an einer anderen Stelle. Dort nämlich, wo Menschen seit nunmehr zwölf Monaten Unglaubliches leisten, um den Fall Neshe, wie sie selbst sagen, „nicht in Vergessenheit geraten zu lassen“. Wo sich Bürger aus allen Ecken Heidelbergs zusammengetan haben, um „die in Stuttgart“ und „die in Bonn“ nicht aus ihrer Verantwortung zu entlassen.
Als der Protest losging, sagt Marianne Link, „haben die gedacht, wir werden die Sommerferien nicht überstehen“. Da haben „die“ sich offensichtlich getäuscht. Inzwischen sind zweimal Sommer-, einmal Weihnachts-, einmal Osterferien vorbei, hält die „Initiativgruppe Neshe“ Woche für Woche auf dem Heidelberger Marktplatz eine Mahnwache für Neshe ab. Und nicht nur das.
Völlig ungeplant, erzählt Ursula Grimm-Asemota, die Elternvertreterin der Internationalen Gesamtschule, sei dieser Protest gewachsen. Kurz nachdem die Behörden Neshe für Fena erklärt hatten, hätten Eltern und Lehrer eine außerordentliche Versammlung abhalten wollen. Und plötzlich war das Lehrerzimmer der Schule überfüllt. „Es war unglaublich, wer da plötzlich aus welchen Himmelsrichtungen erschien.“ Gemeinsam zogen die etwa 600 Leute durch die Neckarstadt und gemeinsam beschlossen sie, weiter für Neshe zu trommeln.
Und so sah sich Thomas Schäuble bald schon mit einer Delegation von Schülern und Lehrern konfrontiert, die nach Stuttgart kamen, um Hunderte Unterschriften zu überreichen. So konnte er beinahe jeden Tag von neuem über Aktionen der Initiativgruppe zunächst in der lokalen Rhein-Neckar-Zeitung, später auch in Spiegel, Stern und Frankfurter Rundschau lesen: Etwa von der Menschenkette um die Gesamtschule, von der symbolischen Feier zu Neshes 17. Geburtstag und von den vielen Zeitungsanzeigen, die Neshes Schulkameraden mit demonstrativen Glückwünschen schalteten. Und sollte der Christdemokrat am Sonntag, dem 29. März, ferngesehen haben, dann durfte er sich über Neshe Özmen auch via „Lindenstraße“ informiert fühlen.
Alle möglichen Verbände, Organisationen, Firmen, Kirchen und Einzelpersonen haben sich dem Protest inzwischen angeschlossen. Der Deutsche Gewerkschaftsbund in Heidelberg hat auf seinem Haus eine Flagge gehißt, die er erst wieder einholen will, wenn Neshe zurück in Heidelberg ist. Pro Asyl hat gemeinsam mit der „National Coalition“ eine Postkartenaktion gestartet – deren Adressat unter anderen: Thomas Schäuble. Und erst kürzlich, zum ersten Jahrestag der Abschiebung, harrten die Heidelberger eine ganze Nacht lang aus, um den Namen Neshe im kollektiven Gedächtnis zu halten.
Genutzt hat es bislang wenig. Wenn man einmal davon absieht, daß sich der Petitionsausschuß des Stuttgarter Landtags, ungewöhnlich genug, schon zweimal mit der jungen Kurdin beschäftigt hat. Die CDU freilich hat es – da ja eine außergewöhnliche Härte nicht besteht – beide Male abgelehnt, Neshe ein Rückkehrrecht nach Deutschland einzuräumen. Beide Male durfte die Partei dabei auf die tatkräftige Unterstützung der rechtsextremen „Republikaner“ zählen. Die feierten denn auch via Pressemitteilung: „Die Republikaner haben sich im Fall Fena Özmen durchgesetzt.“
Nach der zweiten Sitzung schien Schäuble so etwas wie Kompromißbereitschaft erkennen zu lassen: Neshe, so ließ er verlauten, dürfe noch im Laufe dieses Jahres „zu Besuchszwecken“ nach Deutschland kommen – wenn sie vorher ein paar Bedingungen erfüllt. Gefragt, um welche Bedingungen es sich handele, antwortete der CDU-Minister lapidar: Sie müsse „glaubhaft machen“, daß sie nach dem Besuch wieder abreist, darüber hinaus solle sie nachweisen, daß sie in der Türkei über eine Wohnung und über einen Ausbildungsplatz verfügt. Und außerdem, assistierte die Karlsruher Regierungspräsidentin Gerlinde Hämmerle, müßte das Mädchen noch die Abschiebekosten in Höhe von 11 000 Mark zurückzahlen. „Pervers“, sagt Ursula Grimm-Asemota.
Inzwischen liegt eine eidesstattliche Versicherung Neshes vor, daß sie nach ihrem Besuch tatsächlich wieder in die Türkei zurückfliegen werde. 70 Heidelberger Familien haben eine finanzielle Patenschaft für die junge Kurdin übernommen. Das aber reicht Schäuble nicht. Er glaube Neshe nicht, sagt er. Schließlich könne er lesen, und was die Initiativgruppe regelmäßig über die Presse von sich gebe, lasse ganz anderes als eine rasche Rückkehr Neshes vermuten. Es steht also zu erwarten, daß der Innenminister auch diesen Artikel als Indiz gegen das Mädchen ins Feld führen wird.
Die Initiativgruppe hat sich bislang auch davon nicht entmutigen lassen. Sie hat inzwischen etliche von denen, die in Deutschland Rang und Namen haben, angeschrieben. Und die schrieben fast ausnahmslos zurück. Richard von Weizsäcker etwa, der ehemalige Bundespräsident, ließ mitteilen, seine „wärmsten Wünsche“ begleiteten die Heidelberger. Die Schriftsteller Ingrid Noll, Hilde Domin und Martin Walser bekundeten ihre Solidarität. Der Opernregisseur August Everding wollte wissen: „Wie kann ich helfen?“ – aber da wußte keiner so recht eine Antwort. Zeit-Herausgeber und Ex-Bundeskanzler Helmut Schmidt sagte Unterstützung zu. Und selbst Bundesaußenminister Klaus Kinkel ließ ausrichten, er würde Neshe am liebsten persönlich wieder nach Deutschland zurückholen, um den „Härtefall“ zu einem guten Ende zu bringen.
Und Thomas Schäuble? Thomas Schäuble bleibt hart. „Aussitzen ist die Parole“, glaubt Franz Mersi, ein emeritierter Professor für Sonderpädagogik, der Neshe nicht einmal persönlich kennt, aber sich für sie einsetzt, als handele es sich um seine Tochter. Aussitzen bis zum 3. März 1999. Dann nämlich wird Neshe 18 – und dann gilt sie im deutschen Ausländerrecht nicht mehr als minderjähriger Flüchtling. Was soviel bedeutet wie: das Ende aller Hoffnung, zurückkehren zu können.
Noch aber ist es nicht soweit, noch ist die „Initiativgruppe Neshe“ weit davon entfernt aufzugeben und setzt bei ihrem Kampf nun vor allem auf Berthold Münch. Berthold Münch sieht mit seiner Akademikerbrille und seinem bubenhaften Gesicht nicht gerade aus wie einer, der in vorderster Linie auf die Barrikaden zu steigen pflegt. Das muß er auch nicht. Denn Münch ficht mit Paragraphen, er ist Neshes Anwalt, und er hat im Lauf der letzten 14 Monate eine Reihe von Merkwürdigkeiten zusammengetragen.
So war Münch dabei, als Neshe kurz vor ihrer Abschiebung einem Richter vorgeführt wurde. Und er will, so wie das kurdische Mädchen, gehört haben, daß der Richter Neshe versicherte, sie würde nicht abgeschoben – alles Weitere ist bekannt. Für „rechtlich sehr problematisch“ hält es Münch auch, daß ihm bis heute nicht der Widerruf der Duldung überstellt wurde, den man Neshe am Morgen des 9. Juli 1997 in die Hand drückte.
Vor allem aber gilt die Aufmerksamkeit des Anwalts einem Fax der deutschen Botschaft in Ankara, über dessen Werdegang bis heute gestritten wird: Am Morgen des 9. Juli nämlich empfahl die Botschaft dem Innenministerium, Neshe nicht abzuschieben, da vermutlich – wie es dann auch eintrat – niemand von ihrer Familie da sein würde, um sie abzuholen. Während Münch überzeugt davon ist, daß das Fax absichtlich zurückgehalten wurde, tischte das Innenministerium eine andere Version auf: Das Papier sei erst am Nachmittag, nach der Entscheidung des Verwaltungsgerichts, eingegangen. Da aber war Neshe noch in Deutschland.
Auf Nachfragen, so Münch, habe die Abschiebebehörde behauptet, sie habe noch versucht, den Bundesgrenzschutz zu erreichen – unglücklicherweise aber seien dessen Leitungen belegt gewesen. Pech für Neshe. Im übrigen, sagt Münch, behaupteten die Behörden, mit Neshes Mutter über die Abschiebung der Tochter gesprochen zu haben. Da staunt die Initiativgruppe. Denn träfe das zu, dann hätte Neshes Mutter – wegen des Anrufs einer deutschen Behörde – nach 17 Jahren ihre Stimme wiedergefunden. Eine Klage wegen „Rechtswidrigkeit der Abschiebung“ wird in Karlsruhe noch bearbeitet. Sollte sie scheitern, plant die Initiativgruppe, bis zum Europäischen Menschengerichtshof vorzudringen. Soviel Bürgerengagement, sagt Münch, „habe ich noch nie erlebt“.
„Ich frage mich, ob sich von diesen Politikern schon einmal einer überlegt hat, daß er da mit dem Leben eines Menschen spielt“, sagt Franz Mersi. Denn nach 13 Jahren Ausgestoßensein von der Familie, nach drei Jahren „Gängelung“ durch deutsche Behörden und nach mehr als einem Jahr völliger Ungewißheit hat Neshe längst einen Großteil ihres ehedem „fröhlichen Charakters“ eingebüßt. So zumindest berichten es diejenigen, die nach wie vor telefonischen Kontakt zu dem Mädchen halten. Und ganz offensichtlich ist die Irrfahrt der Kurdin lange noch nicht vorbei.
Bis vor kurzem lebte Neshe in Ankara bei einem deutschen Ehepaar, das sich vor einem Jahr aufgrund der Presseberichte bereit erklärt hatte, das Mädchen aufzunehmen. Dem Paar gelang es, Neshe in der deutschen Botschaftsschule unterzubringen – mit dem kuriosen Ergebnis, daß sie seither die Werte eines Landes vermittelt bekam, das sie nicht mehr haben wollte. Im nun begonnenen Schuljahr wollte sie ursprünglich ihren Realschulabschluß machen. Aber wie so oft ist etwas dazwischengekommen.
Im August war Neshe – die sich bei Polizeikontrollen schon mal als Hausmädchen ihrer deutschen Gasteltern ausgegeben hatte – plötzlich verschwunden. Nach mehreren Tagen der Ungewißheit meldete sie sich schließlich telefonisch in Heidelberg: Sie sei von ihrer Familie gegen ihren Willen in ihr Heimatdorf gebracht worden und werde dort festgehalten. Vermutlich, sagt Pro-Asyl-Sprecher Kauffmann, habe es die Familie nicht länger geduldet, daß sich das minderjährige Mädchen weiter unter Ungläubigen in der Großstadt aufhalte. Die Initiativgruppe fürchtet nun, Neshe könne gegen ihren Willen verheiratet werden – oder noch Schlimmeres. Thomas Schäuble dürfte das nur recht sein, vermutet Kauffmann: „Der kann nun sagen: Was wollt ihr denn, das Mädchen ist doch wieder bei seiner Familie.“
In Heidelberg dagegen wächst mit jedem Tag die Unruhe. „Wir wissen nicht, wie lange Neshe das noch aushält“, sagt Christina Osterwald. „Viele hätten schon aufgegeben“, sagt Ursula Grimm-Asemota. „Andere Mädchen haben Liebeskummer, Neshe hat Lebenskummer“, sagt Franz Mersi. „Wir haben täglich Angst“, sagt Kurt Osterwald. „Ich hab schon oft gedacht, deutsche Beamte könnten Neshe auf dem Gewissen haben“, sagt Marianne Link. „Und wenn etwas passiert?“, fragen sich alle. Dann darf in Stuttgart und Bonn darüber abgestimmt werden, ob in diesem Fall nicht vielleicht doch eine außergewöhnliche Härte vorlag.