Tod einer polnischen Staatsangehörigen in einer Gewahrsamszelle
des Bundesgrenzschutzes am 6. Mai 1993
Mehrere Organisationen stellen Fragen an die Staatsanwaltschaft
Zum Fall der am 6. Mai 1993 auf dem Rhein-Main-Flughafen in einer Gewahrsamszelle des Bundesgrenzschutzes zu Tode gekommenen polnischen Staatsangehörigen Miroslawa Kolodziejska haben die Organisationen
- IPPNW – Deutsche Sektion der internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges, Ärzte in sozialer Verantwortung e.V.,
- SOS Rassismus – Zivilcourage Frankfurt e.V.,
- Z.O.P. – Zivile Oppositions Politik,
- Antifa Offenbach
- Verein demokratischer Ärztinnen und Ärzte sowie
- die bundesweite Arbeitsgemeinschaft für Flüchtlinge PRO ASYL e.V.
die folgenden Fragen an die Staatsanwaltschaft bei dem Oberlandesgericht in Frankfurt übermittelt.
Die unterzeichnenden Organisationen sind der Auffassung, daß diese zentralen Fragen nach viereinhalbjähriger Ermittlungszeit weiterhin unbeantwortet sind. Sie fordern deshalb die Staatsanwaltschaft Frankfurt auf, einer internationalen Untersuchungskommission zu ermöglichen, in diesem Fall selbständig zu recherchieren und die Kommission dabei zu unterstützen.
- Wie kann es sein, daß der beauftragte Gutachter in einem ersten Gutachten von „autoaggressiver“ Selbsttötung in Folge religiösen Wahns redet, in einem zweiten Gutachten von der Möglichkeit eines panikartigen „Schocktodes“ und in einer dritten Version behauptet, er habe stets eine Mischform für möglich gehalten?
- Wie ist es möglich, daß ein Gutachter, der selbst kein Psychiater oder Psychologe ist, Erklärungsansätze über Todesursachen mit psychologischem Hintergrund liefert, ohne je eine Voranamnese der Patientin vorgenommen zu haben? Diese Vorgehensweise erscheint nicht seriös. Insbesondere ist zu fragen, warum die Staatsanwaltschaft Frankfurt sich weigert, einen anderen Gutachter zu bestellen.
- Die Staatsanwaltschaft geht davon aus, daß ein 40 cm langer Stoffstreifen mit zwei Heiligenbildchen auf einer Bank neben der Toten vorgefunden wurde. Der Notarzt dagegen vermerkt in seinem Protokoll ein 12 cm langes Stoffteil sowie zwei 3 cm lange Stoffteile, die er aus dem Rachen der Toten entfernt hat und die ein Sanitäter in einer Nierenschale außerhalb der Zelle einem Beamten gegeben hat. Wie kommt es zu diesem Widerspruch?
- Die Staatsanwaltschaft hat im Laufe des Verfahrens behauptet, die Stoffteile könnten nicht mehr näher auf Blut- und Speichelspuren untersucht werden, da sie nicht mehr vorhanden seien. Der Akte war aber zu entnehmen, daß Stoffteile an den Ehemann ausgehändigt wurden. Dieser hat die Stoffteile der Staatsanwaltschaft erneut zur Verfügung gestellt. Trotzdem ist bis dato eine Untersuchung unterblieben. Wie erklärt dies die Staatsanwaltschaft?
- Wie ist zu erklären, daß einer der Hauptverdächtigen aussagt, daß Sanitäter der Flughafenklinik zweimal in der Gewahrsamszelle vor Ort gewesen seien, obgleich der Computerausdruck der Flughafenleitstelle klar und deutlich ausweist, daß Sanitäter nur einmal kamen?
- Wie ist es möglich, daß für die bereits leblose Frau Kolodziejska diese Sanitäter angefordert werden mit dem Bemerken, man habe Zeit, da es sich lediglich um einen Krankentransport in die Psychiatrie handele, was dazu führte, daß die Sanitäter irregeleitet nicht einmal einen Notfallkoffer mit zum Einsatzort nehmen?
Warum wird nicht wegen fahrlässiger Tötung ermittelt, wenn eine anscheinend hilflose Person in eine gekachelte, fensterlose Zelle verbracht und nicht einem Arzt überstellt wird?
- Wie kommt es, daß seitens der Staatsanwaltschaft Frankfurt jahrelang behauptet wird, der Verstorbenen gegenüber sei keine körperliche Gewalt angewandt worden, obgleich nach viereinhalb Jahren nun doch Beamte zugeben, daß die Verstorbene gewaltsam in die Zelle verbracht wurde?
Wie kann es seitens der Staatsanwaltschaft Frankfurt zu der Erklärung kommen, die Verstorbene habe sich Hämatome an ihrem Arm durch ihren religiösen Wahn selbst zugefügt?
- Wie kann es sein, daß vernommene BGS-Beamte behaupten, sie hätten regelmäßig die nackte, auf dem Boden liegende Frau Kolodziejska fürsorglich durch einen Türspion beobachtet, und die Mordkommission heute feststellt, daß es in die Zelle nur einen einseitig verspiegelten Einblick gebe, der aber nur Schemen erkennen lasse, und daß weiterhin Bohrungen in der Tür vorhanden seien, die darauf schließen lassen, daß zu einem früheren Zeitpunkt ein Türspion vorhanden gewesen sein könnte, der aber einen Einblick auf den Zellenboden überhaupt nicht ermöglichte?
- Wie erklärt es sich die Staatsanwaltschaft, daß der erst nach drei Jahren behauptete Totallichtausfall in allen früheren Protokollen nicht erwähnt wird?
- Warum stellt die Staatsanwaltschaft im vierten Ermittlungsanlauf – nachdem der Ehemann der Verstorbenen den Vorwurf der Fahrlässigkeit durch Einschließen erhob – in Frage, ob die Zelle überhaupt verschlossen gewesen sei, obwohl dies aus früheren Aussagen eindeutig hervorgeht?
Warum wird nicht wegen unterlassener Hilfeleistung mit Todesfolge ermittelt, wenn eine anscheinend verwirrte und hilflose Person eine Stunde nackt bäuchlings in ihren Exkrementen liegengelassen wird?
Die unterzeichnenden Organisationen weisen darauf hin, daß die Nichtöffentlichkeit der Gewahrsamszellen des Bundesgrenzschutzes durch mehrfache Mißhandlungsvorwürfe von Flüchtlingen und durch den Fall des „falschen Doktors“, der drei Monate lang bis zu seiner Enttarnung Anfang Juli dieses Jahres für den Bundesgrenzschutz gearbeitet und Flüchtlinge medikamentiert hatte, ins Gerede gekommen ist. Ebenso wie der Fall Kolodziejska belegen diese Fälle, daß der Zugang von Nicht-Regierungsorganisationen zu den Gewahrsamszellen gewährleistet werden muß.
gez. Prof. Dr. Ulrich Gottstein
Ehrenvorstandsmitglied der IPPNW – Deutsche Sektion der internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges, Ärzte in sozialer Verantwortung e.V.
gez. Heiko Kauffmann
Sprecher der bundesweiten Arbeitsgemeinschaft für Flüchtlinge PRO ASYL e.V.
SOS Rassismus – Zivilcourage Frankfurt e.V.
Z.O.P – Zivile Oppositions Politik
Antifa Offenbach
Verein demokratischer Ärztinnen und Ärzte
Zum Hintergrund des Falles:
Die 59-jährige Miroslawa Kolodziejska wurde am frühen Morgen des 6. Mai 1993 von einem Mitarbeiter der Flughafen AG im Transitbereich entdeckt. Da die Frau auf den Versuch der Ansprache nicht reagierte, wurde sie für möglicherweise geistig verwirrt gehalten. In den Diensträumen des Bundesgrenzschutzes sollte ihre Identität festgestellt werden. In die Haftzelle des BGS überstellt wurde sie durchsucht und sollte dann in eine psychiatrische Klinik eingeliefert werden. Die Zelle jedoch verließ Frau Kolodziejska nicht mehr lebend.
Als der Notarzt und Sanitäter der Flughafenklinik gegen 9.30 Uhr die Zelle betreten, ist die Polin bereits tot. Im Rachenraum der Frau entdeckt man Filzstücke mit aufgenähten Heiligenbildchen und ein etwa 40 cm langes Klebeband aus Textilfaser. Im Rachen und im Magen der Toten – aber auch am Boden der Zelle – finden sich Teile ihrer Zahnprothese. Ein Obduzent kommt zu dem Ergebnis: Eine Gewalteinwirkung durch Dritte sei ausgeschlossen. Frau Kolodziejska habe sich in Folge massiver Autoaggression – Ergebnis eines religiösen Wahns – selbst getötet. Auf die entsprechende Erkrankung aber gibt es keinen Hinweis in der Lebensgeschichte der Frau.
Was ist wirklich in den etwa 90 Minuten vor 9.30 Uhr in der Gewahrsamszelle des BGS passiert? Nach viereinhalbjährigen Ermittlungen, mehreren Verfahrenseinstellungen und mehrmals wieder aufgenommenen Ermittlungen, bleiben viele Fragen ungeklärt. Die frühzeitige Festlegung der Staatsanwaltschaft auf die Version der Selbsttötung als Folge eines religiösen Wahns und die danach zumindest zeitweise schleppend betriebenen weiteren Ermittlungen, schaffen die Unklarheiten, deren Klärung nunmehr durch die öffentlich gestellten Fragen vorangetrieben werden sollen.