TAG DES FLÜCHTLINGS 1998
Leben in der Illegalität:
Eine Bestandsaufnahme
Cornelia Bührle rscj
Herausgegeben zum Tag des Flüchtlings am 2. Oktober 1998
Herausgeber: PRO ASYL, Arbeitsgemeinschaft für Flüchtlinge mit freundlicher Unterstützung der Deutschen Stiftung für UNO- Flüchtlingshilfe e. V., dem Deutschen Caritasverband e. V., dem Hessischen Ministerium für Umwelt, Energie, Jugend, Familie und Gesundheit und dem Interkulturellen Beauftragten der Ev. Kirche in Hessen und Nassau.
Der Tag des Flüchtlings findet im Rahmen der Woche der ausländischen Mitbürger (27. September bis 3. Oktober 1998) statt und wird von PRO ASYL in Zusammenarbeit mit dem Ökumenischen Vorbereitungsausschuß zur Woche der ausländischen Mitbürger vorbereitet.
INHALT
- I. WER MENSCHENRECHTE VERGISST, VERGISST SICH SELBST.
- Initiativen zum Tag des Flüchtlings 1998
- UN-Kritik an Deutschland
- Menschenrechte und Asyl – Hubert Heinhold
- siehe auch: Europas neuer Pförtner (Beat Leuthardt)
- Die Auseinandersetzung mit Kanthers Flüchtlingswelle
- »Wer Menschenrechte vergißt, vergißt sich selbst.« Mindestanforderungen an ein neues Asylrecht
- Die Ausländerpolitik neu gestalten – Nein zu Fremdenfeindlichkeit und Rassismus
- Der Einstieg in den Ausstieg aus dem Völkerrecht
- Kinderflüchtlinge – Flüchtlingskinder
- »Verfolgte Frauen schützen!« Zwischenbilanz und Perspektiven der Kampagne
- Europäisches Parlament: Entschließung zur Achtung der Menschenrechte in der Europäischen Union
- Menschenrechte – Kein Thema für Deutschland?
- II. RECHTLOS IN DEUTSCHLAND
- Leben in der Illegalität – Eine Bestandsaufnahme
- Schlepper, Schleuser, …. – Von Fluchthelfern und Wegelagerern
- III. SOZIAL AUSGEGRENZT
- Gängelung, Entmündigung, Entrechtung, Aushungerung – Die Realität des Asylbewerberleistungsgesetzes
- Ausgrenzung kommt von oben – Kontinuitäten der Sozialpolitik von Weimar bis heute
- Die erfundene Massenflucht
- IV. DER EINZELFALL ZÄHLT
- Bundesarbeitsgemeinschaft »Asyl in der Kirche« ausgezeichnet
- Kurdische Flüchtlinge aus dem Irak – Ein Beispiel für die Entrechtung von Schutzsuchenden
- Kurzinformationen zu der Situation in den Hauptherkunftsländern von Flüchtlingen
- Der Widerstand der Nonnen von Dinklage gegen den Bruch eines Kirchenasyls
- Entscheidungsdruck und rassistische Textbausteine – die Anhörung von Asylsuchenden beim Bundesamt
- Gewalttätiger Abschiebealltag
- Gefangener des Verfahrens – Tutsi als Buchautor
- »Kurdische Männer halten viel aus«
Wenn im folgenden die Rede von »Menschen ohne Aufenthaltsrecht« ist, dann geschieht dies in deutlicher Absetzung zu einem weitverbreiteten öffentlichen Diskurs, der diese Menschen fast ausnahmslos als »Illegale« bezeichnet. Das kommt einer Kriminalisierung dieser Menschengruppe gleich. Übersehen wird hierbei, daß die »Kriminalität« dieser Menschen zunächst lediglich darin besteht, daß sie kein Aufenthaltsrecht besitzen: Nach §92 Ausländergesetz macht sich strafbar, wer sich in Deutschland aufhält, ohne mindestens eine Duldung zu besitzen. Hinzu kommt, daß sich hinter der pauschalen Bezeichnung »Illegale« eine Vielfalt an Ursachen für das fehlende Aufenthaltsrecht sowie unterschiedlichste Lebensumstände verbergen. Deshalb ist ein Höchstmaß an Differenzierung geboten. (…) Der Umgang des Staates mit AusländerInnen ohne Aufenthaltsrecht spielt sich vor allem auf folgenden drei Ebenen ab:

Foto: Andreas Herzau/SIGNUM
1. Die Duldung als Status gesetzlicher Illegalität
Eine Duldung, wie sie zumindest anfangs die meisten Bürgerkriegsflüchtlinge aus Ex- Jugoslawien erhalten haben, begründet nach §§ 55, 56 Ausländergesetz kein Aufenthaltsrecht, sondern setzt im Gegenteil einen rechtswidrigen Aufenthalt voraus. Insofern sind auch die InhaberInnen einer Duldung illegal in Deutschland. Eine Duldung gewährt jedoch vorläufigen Abschiebeschutz sowie bestimmte Schutz- und Leistungsansprüche nach dem Ausländergesetz bzw. dem Asylbewerberleistungsgesetz.
2. Illegalisierende behördliche Bescheinigungen
In solchen Fällen stellt die Ausländerbehörde Papiere aus, die unterhalb des Rechtsstatus einer Duldung liegen, obwohl der Aufenthalt der Person nicht beendet werden soll bzw. kann. Die bekannteste Form ist die sogenannte Grenzübertrittsbescheinigung. Ihre »Erteilung« ist im Gesetz gar nicht vorgesehen; sie ist insoweit außerhalb des Gesetzes frei »erfunden«. »Bescheinigt« wird, daß die Person die Bundesrepublik innerhalb einer bestimmten Frist (meist 14 Tage) zu verlassen hat, obwohl Gründe vorliegen, die eine fristgerechte Ausreise unmöglich machen. De facto dient das Papier deshalb nicht zur Bestätigung der Ausreise, sondern wird als ein Identitätspapier verwendet und von den Behörden gegebenenfalls immer wieder verlängert.
Aber auch andere willkürliche »Aufenthaltsbescheinigungen« offizieller Art tauchen immer wieder auf. Es ist gesetzlich nicht vorgesehen, daß solche Papiere zur Regelung des Aufenthalts hergenommen werden dürfen. Sie schaffen vielmehr auf der Ebene der Verwaltungspraxis einen rechtswidrigen Aufenthalt und illegalisieren damit Menschen.
Die Betroffenen werden (auch) insofern »illegalisiert», als die Behörde ihren rechtmäßigen Status nicht mehr verlängert, obwohl ihr Aufenthalt nicht beendet werden soll bzw. kann. Angehörige dieser Gruppe unterhalten oft noch Kontakt zur Ausländerbehörde und beziehen zuweilen auch Sozialhilfe nach § 2 Asylbewerberleistungsgesetz. Dazu gehören etwa:
- abgelehnte AsylbewerberInnen, denen keine Duldung erteilt wird bzw. denen aufgrund einer politischen Entscheidung die Duldung gegen eine Grenz übertrittsbescheinigung »eingetauscht« wurde;
- ehemalige Bürgerkriegsflüchtlinge, die ebenfalls keine Befugnis oder Duldung mehr erhalten, sondern lediglich noch eine Grenzübertrittsbescheinigung;
- Flüchtlinge, die sich der Umverteilung nach dem Asylverfahrensgesetz entziehen;
- ehemalige vietnamesische VertragsarbeitnehmerInnen der ehemaligen DDR, die kein Bleiberecht erhalten konnten und teilweise jahrelang mit einer Grenzübertrittsbescheinigung leben müssen;
- aus der Abschiebehaft entlassene AusländerInnen, denen man eine Grenzübertrittsbescheinigung ausstellt, obwohl sie tatsächlich nicht abgeschoben werden können;
abgelehnte AsylbewerberInnen im Land Brandenburg, denen die Ausländerbehörden sehr verschiedene, eigens ausgedachte Papiere ausstellen und regelmäßig verlängern.
3. Keinerlei Papiere mehr: die »sans papiers«
Betroffen sind AusländerInnen, deren vorher gültige Papiere abgelaufen sind, ohne daß sie weiter in Kontakt mit der Ausländerbehörde stünden oder AusländerInnen, die ohne die erforderlichen Papiere eingereist sind.
Zu dieser Gruppe zählen vor allem:
- abgelehnte AsylbewerberInnen, die aus Angst vor Abschiebung untergetaucht sind;
- Menschen, die nach Deutschland kommen und gar keinen Asylantrag mehr stellen, weil sie meinen, sowieso nicht anerkannt zu werden;
- mit Touristenvisum Eingereiste, die nach Ablauf der Gültigkeit weiter im Land bleiben;
- Arbeitssuchende aus Osteuropa und anderen Nicht- EU- Staaten ohne Kontakt zur Ausländerbehörde;
- Frauen, die unter falschen Versprechungen rechtswidrig einreisten und sich in einer Zwangslage befinden (Sexarbeiterinnen, Opfer von Frauenhandel);
- Kinder, EhepartnerInnen oder andere Familienangehörige von rechtmäßig in Deutschland lebenden AusländerInnen, die ohne gültigen Aufenthalt bei ihrer Familie leben;
- StudentInnen, deren Aufenthaltsbewilligung abgelaufen ist und die ohne gültigen Aufenthalt weiter in Deutschland leben;
- Staatenlose und Menschen mit ungeklärter Staatszugehörigkeit.
Die Lage der Menschen, die nicht einmal über eine Duldung verfügen, ist insgesamt geprägt von weitgehender Rechtlosigkeit. Das fängt bei den sozialen Rechten an: So sind sie zumindest de facto z. B. vom öffentlichen Gesundheitssystem ausgeschlossen, sind von Obdachlosigkeit bedroht und können keine Ausbildung oder legale Arbeit aufnehmen. Menschen ohne Aufenthaltsrecht können sich nicht auf legale Weise gegen Verbrechen, die an ihnen verübt wurden, wehren. Zwar können sie – theoretisch – Strafanzeige erstatten, müssen dann aber mit ihrer sofortigen Abschiebung rechnen. Sie haben erst recht keine politischen Beteiligungsrechte.
Nicht viel besser steht es um DuldungsinhaberInnen. Zwar haben sie einige wenige Rechte, doch sind auch diese durch die derzeitige Politik gefährdet. Besonders illegalisierte Menschen und »sans papiers« (vgl. Gruppen 2 und 3) sind staatlichem Druck ausgesetzt, etwa wenn nach nur oberflächlicher Prüfung Abschiebungshaft angeordnet wird. Werden sie festgenommen, z. B. bei spontanen Personenkontrollen oder gezielt geplanten Razzien, so drohen ihnen nach § 92 Ausländergesetz allein aufgrund ihres rechtswidrigen Aufenthalts in Deutschland bis zu dreijährige Gefängnisstrafen. Normalerweise kommen sie jedoch in »Sicherungshaft», die (nach § 57 Ausländergesetz) auf richterliche Anordnung verhängt werden kann, im Extremfall für 18 Monate, ohne daß sie je für eine andere Straftat als wegen »rechtswidrigen Aufenthaltes« verurteilt wurden. In Abschiebehaft kommen all diejenigen, gegen die ein »begründeter Verdacht« auf Untertauchen besteht. Dazu reicht es z. B. bei abgelehnten AsylbewerberInnen schon aus, daß sie außerhalb ihres zugewiesenen Aufenthaltsortes angetroffen werden. Dazu gehören im übrigen auch jene Fälle, in denen Betroffene von Berlin nach Brandenburg fahren, weil sie nur dort an einem muttersprachlichen Gottesdienst teilnehmen können.
Entgegen der Auffassung vieler versuchen Menschen ohne Aufenthaltsrecht in der Regel, sich im Alltagsleben so korrekt und unauffällig wie möglich zu verhalten und leben in ständiger Angst vor der Polizei oder Denunziation. Einmal »Schwarzfahren», ja sogar einmal bei Rot über die Straße gehen, kann für einen »Illegalen« schon das »Aus« bedeuten.
Viele der Betroffenen versuchen, ihre Lage selbst vor guten Bekannten geheimzuhalten, denn ein Streit könnte genügen, um verraten zu werden. Um auf ihr Schicksal aufmerksam zu machen, sind sie vollständig auf die Hilfe und Solidarität von Deutschen und von legal hier lebenden AusländerInnen angewiesen. Diese Situation verletzt in ihrer Gesamtheit die Würde und die Menschenrechte der Betroffenen.
Wozu Gesetze führen können:
Ursachen und Folgen der Illegalität
Seit der Verschärfung des Asylrechts durch den »Asylkompromiß« 1993 ist für politisch Verfolgte die juristische Anerkennung ihrer Fluchtgründe sehr schwierig geworden. Entscheidend dafür, daß ihre Fluchtgründe überhaupt noch geprüft werden, ist der Fluchtweg. Daher kommen die Schutzsuchenden oft nur noch mit dem Bundesgrenzschutz und der Polizei in Berührung. Seit 1993 ist der Bundesgrenzschutz für die Zurückweisung von Asylbewerbern zuständig, die nunmehr per Definition »unberechtigt« sind, sofern sie aus sogenannten »sicheren Herkunftsstaaten« bzw. »sicheren Drittstaaten« (dies sind unter anderem alle Nachbarstaaten Deutschlands) kommen. Durch den Abschluß von »Rücknahmeverträgen« zwischen der Bundesrepublik Deutschland einerseits und Polen, Rumänien, Bulgarien, Tschechien u. a. andererseits wurde die Verantwortung für den Schutz von Flüchtlingen auf die Transitstaaten von Asylsuchenden abgewälzt, die dieser Aufgabe ihrerseits nicht gewachsen sind. Die Bundesregierung setzte diese Verträge gegen den z. T. erheblichen Widerstand der osteuropäischen Staaten durch. (…)
Die Erfahrung zeigt, daß eine weitere Konsequenz des staatlichen Abschottungsversuchs darin liegt, daß sich während der letzten vier Jahre die Zahl der Menschen, die, um überhaupt hier leben zu können, mit nichts anderem als einem abgelehnten Asylantrag oder einer abgelaufenen Grenzübertrittsbescheinigung in der Tasche in die Illegalität abtauchen, deutlich erhöht hat.
Zwar ist das Phänomen der irregulären Zuwanderung und des Lebens in der Illegalität kein spezifisch deutsches. Die verengte Sicht von Deutschland als einem vorrangigen »Land nur für die Deutschen« verhindert jedoch Handlungsspielräume für politische Öffnung sowie für Integrationsmaßnahmen und spiegelt sich auch in der Gesetzgebung wider.
Das wird an zwei Beispielen besonders deutlich. Das Ausländergesetz in Deutschland geht von einem sehr engen Familienbegriff aus. Dies hat zur Folge, daß es für hier lebende AusländerInnen fast unmöglich ist, z. B. alte und kranke Eltern bzw. Großeltern zu sich nach Deutschland zu holen. Es bleibt dann nichts anderes übrig, als die Familienzusammenführung auf irreguläre Weise zu bewirken – mit allen Konsequenzen, die das mit sich bringt.
Selbst AusländerInnen, die schon sehr lange in Deutschland leben und arbeiten, können plötzlich vom Verlust ihres Aufenthaltsrechts bedroht sein. Dies ist dann der Fall, wenn sie ihre Arbeit verlieren und nicht bereits mindestens acht Jahre ununterbrochen in Deutschland gelebt haben. Die Gründe für eine solche längere Unterbrechung des Aufenthalts werden dabei nicht geprüft.
In anderen Staaten gab es wegweisende Maßnahmen zur Legalisierung und Amnestierung von Menschen ohne Aufenthaltsrecht. Ist die Öffentlichkeit in Deutschland jedoch erst einmal von Ausmaß und Intensität der Problematik in Kenntnis gesetzt, wird sich vermutlich eher der Ruf nach schärferen Gesetzen, Kontrollen und Strafen Gehör verschaffen, als Forderungen nach Legalisierung bzw. sozialer Integration von Menschen ohne Aufenthaltsrecht. (…)
Vom Bundesgrenzschutz wurden nach eigenen Angaben allein 1994 über 250.000 Menschen an deutschen Grenzen und Flughäfen als »Illegale« identifiziert, um anschließend »zurückgewiesen« oder »zurückgeschoben« zu werden. 1995 waren es mehr als 200.000 Menschen. Geldstrafen gegen Flugunternehmen, die Passagiere ohne oder mit falschen Papieren nach Westeuropa bringen (die selbst dann erhoben werden, wenn den Beförderten anschließend der Flüchtlingsstatus zugestanden wird), sowie Beamte des Bundesgrenzschutzes auf ausländischen Flughäfen tun ein übriges, um die Abschottungsmechanismen zu perfektionieren.
Während dessen ignorieren politische EntscheidungsträgerInnen entweder die menschenunwürdige Situation der Betroffenen oder sie versuchen, sie der Öffentlichkeit durch angebliche Unkenntnis vorzuenthalten. Die Unglaubwürdigkeit von Politikern steigt dabei in dem Maße, wie der Öffentlichkeit bewußt wird, daß in der Bundesrepublik weltweit einer der ausgearbeitetsten polizeilichen und nachrichtendienstlichen Überwachungs- und Kontrollmechanismen zur Verfügung steht, um die Festnahme von Ausländern zu ermöglichen.
So können z. B. nach dem Gesetz über das Ausländerzentralregister (AZR) vom Oktober 1994, der ersten gesetzlichen Regelung für eine »on- line«- Eingabe in Deutschland, personenbezogene Daten von über zehn Millionen AusländerInnen und sogar AusländerInnengruppen von nahezu allen staatlichen Behörden direkt eingegeben und abgerufen werden. Mit dem Ausländerzentralregister eng verknüpft ist das »ASYLON« (Asyl online) Verfahren des »Bundesamts für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge«. Daten über AusländerInnen und AsylbewerberInnen werden also vernetzt und staatlichen Behörden zugänglich gemacht. Nicht genug damit: Im Rahmen eines standardisierten Verfahrens wird staatlichen Institutionen wie dem Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge oder den Ausländerbehörden der Bundesländer auch die Pflicht auferlegt, ihre Erkenntnisse über AusländerInnen dem »allgemeinen Datenbestand« oder der »Visadatei« hinzuzufügen. Auch die »Denunziationspflicht« für öffentliche Stellen nach §76 Ausländergesetz hat sich mittlerweile trotz anfänglicher Proteste von Angestellten im öffentlichen Dienst fest etablieren können. Sie gilt z. B. für Sozial- und Jugendämter, die »ohne Ersuchen den Ausländerbehörden personenbezogene Daten von Ausländern, Amtshandlungen und sonstige Maßnahmen gegenüber Ausländern und sonstige Erkenntnisse über Ausländer mitzuteilen haben, (…) wenn sie Kenntnis erlangen von
1. dem Aufenthalt eines Ausländers, der weder eine erforderliche Aufenthaltsgenehmigung noch eine Duldung besitzt,
2. dem Verstoß gegen eine räumliche Beschränkung oder 3. einem sonstigen Ausweisungsgrund.«
Anläßlich des »Volkszählungsurteils« von 1983 bestätigte das Bundesverfassungsgericht, daß allen Menschen, und zwar unabhängig von Herkunft oder Nationalität, das »Recht auf informationelle Selbstbestimmung« zusteht. Diese Auffassung hat offensichtlich keine praktische Relevanz mehr für die deutsche Ausländer- und Abschottungspolitik, die sich immer mehr auf die alleinige und weitgehend kontrollfreie Entscheidungskompetenz der Exekutive stützt.
Hier tut sich eine Doppelbödigkeit politischer Wirklichkeit auf: Einerseits unternimmt der Staat alles Erdenkliche, um sogenannte Illegalität massiv zu bekämpfen. Andererseits kann er sich einem wirtschaftlichen Interesse an aufenthaltsrechtlich bedingter Schwarzarbeit durch Menschen ohne Aufenthaltsrecht nicht entziehen. Er nimmt dadurch nicht nur rechtsfreie Räume in Kauf, sondern ist mitverantwortlich für die Ausbeutung von Menschen, die für wenige Mark Stundenlohn und ohne jegliche soziale Absicherung arbeiten. Auch der Staat als Auftraggeber handelt nach dieser Logik, wenn er zum Beispiel Bauvorhaben in Berlin allein nach Maßgabe des billigsten Angebots vergibt, wohl wissend, daß bei solchen Angeboten illegale Arbeit einkalkuliert ist.
Deutlich wird diese Doppelbödigkeit der Politik auch an der Weigerung Deutschlands, die beiden Konventionen zu ratifizieren, mit denen die internationale Gemeinschaft erstmals versucht hat, Mindestnormen zum Schutz »illegaler MigrantInnen« zu schaffen, um so einem weltweiten Problem menschenwürdig Rechnung zu tragen. Das Übereinkommen Nr. 143 der Internationalen Arbeitsorganisation aus dem Jahr 1975 soll die Staaten vor allem dazu verpflichten, gegen Schlepper, Menschenhändler und Arbeitgeber vorzugehen, die sich an der Ausbeutung illegaler Arbeitskräfte bereichern – inklusive Gefängnisstrafe. Deutschland unterzeichnete es ebensowenig wie die UN- Konvention zum Schutz der Rechte aller ausländischen Arbeitskräfte und ihrer Familienangehörigen vom Dezember 1990. Deren Ziel ist es, die Geltung der Grundrechte insbesondere auf die weitgehend schutzlose Gruppe der ausländischen Arbeitskräfte ohne Aufenthaltsrecht und ihrer Familien auszudehnen. Nach Angaben des Parlamentarischen Staatssekretärs Rudolf Kraus wolle die Bundesregierung zwar »der Annahme des Übereinkommens im Konsens nicht widersprechen«, halte es aber »im Grunde für überflüssig und inhaltlich in so vielen Punkten für bedenklich«, daß eine Ratifizierung für sie »nicht in Betracht komme«.
Während die (deutschen) ArbeitnehmerInnen zur »Sicherung des Standortes Deutschland« »den Gürtel enger schnallen« sollen und in der Politik immer häufiger behauptet wird, daß Arbeitslosigkeit und Sozialabbau durch den weiteren Zuzug von außereuropäischen AusländerInnen unvermeidlich gesteigert werden, toleriert der Staat den weitverbreiteten Zustand der Illegalität – aus ähnlichen »Standort- Erwägungen«. Solange AusländerInnen ohne Aufenthaltsrecht den enormen Bedarf an billiger Arbeitskraft auf dem informellen Arbeitsmarkt decken, z. B. als ungelernte SaisonarbeiterInnen in Landwirtschaft und Gartenbau, Gastronomie, Textilindustrie oder Baugewerbe, wird im »nationalen Interesse« ein Auge zugedrückt. Dem steht nicht entgegen, daß es zuweilen öffentlich wirksame, einzelne »Razzien« gibt, die den Eindruck vermitteln sollen: »der Staat greift durch«.
Doch auch wenn es unternehmerischer Rationalität entsprechen mag, ein möglichst großes Reservoir an rechtlosen, unorganisierten Lohnabhängigen zur Verfügung zu haben, so ist dies nicht im Interesse der ArbeitnehmerInnen. Statt jedoch die Legalisierung »illegaler ArbeiterInnen« zu fordern, um so dem Konkurrenzdruck durch Dumpinglöhne die Grundlage zu entziehen, setzen auch GewerkschafterInnen zunehmend auf Ausgrenzung im »nationalen Interesse«. Damit allerdings konnten sie bisher eine Spaltung des Arbeitsmarktes nicht verhindern.
Interessant ist auch, daß besonders mittelständische Haushalte zunehmend die Arbeitskraft von AusländerInnen ohne Aufenthaltsrecht in Anspruch nehmen. Bauarbeiter zu Niedrigstlöhnen für private Eigenheime sind gesucht. Das gleiche gilt für Kinderfrauen, Tagesmütter, Haushalts- und Putzhilfen – manchmal sogar verbunden mit sogenannter Haushaltsprostitution: Haushaltshilfen werden mit Hinweis auf ihre Illegalität sexuell erpreßt.
Die herrschende Politik setzt auf die langfristigen Erfolge der europaweiten polizeilichen Zusammenarbeit gegen illegale Einwanderung und rechtswidrigen Aufenthalt, geht aber je nach konjunktureller und arbeitsmarktpolitischer Lage mal mehr, mal weniger repressiv gegen die »Illegalen« vor. Gleichzeitig wird aber versucht, durch Hinweise auf das Eskalationspotential der Ausländerfeindlichkeit in Deutschland den Solidarisierungsbewegungen, die sich in der Öffentlichkeit artikulieren wollen, das Wasser abzugraben.
Diese Strategie steht und fällt dabei mit der These, daß eine Rücknahme der staatlichen Repression gegenüber Menschen ohne Aufenthaltsrecht die Integration der übrigen, legal hier lebenden AusländerInnen verhindere. Es ist auffällig, wie sehr nach Argumenten gesucht wird, die die Unmöglichkeit der rechtlichen und sozialen Integration beweisen sollen und wie wenig darüber nachgedacht wird, wie Integration möglich gemacht werden kann.
Cornelia Bührle rscj, Die erzbischöflich Beauftragte für Migrationsfragen, Erzbistum Berlin Tübinger Straße 5, 10715 Berlin