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TAG DES FLÜCHTLINGS 2000

»Langer Atem«

Münster hat als bislang einzige Stadt
in Deutschland zwei Deserteure aufgenommen

Volker-Maria Hügel

Herausgegeben zum Tag des Flüchtlings am 29. September 2000

Herausgeber: PRO ASYL, Arbeitsgemeinschaft für Flüchtlinge mit freundlicher Unterstützung von: Deutsche Stiftung für UNO-Flüchtlingshilfe e.V., Deutscher Caritasverband e.V., Interkultureller Beauftragter der Ev. Kirche in Hessen und Nassau, Kirchlicher Entwicklungsdienst der Evangelischen Kirche in Deutschland durch den ABP, Land Hessen.

Der Tag des Flüchtlings findet im Rahmen der Woche der ausländischen Mitbürger/Interkulturellen Woche (24. bis 30. September 2000) statt und wird von PRO ASYL in Zusammenarbeit mit dem Ökumenischen Vorbereitungsausschuß zur Woche der ausländischen Mitbürger vorbereitet.

INHALT

Beispiele und Anregungen

Über drei Jahre hatte es gedauert. Hartnäckige Arbeit, zähes Verhandeln und eine breite Unterstützung machten es endlich möglich, dass aus einem ursprünglich utopischen Gedanken konkrete Hilfe im Einzelfall – die Aufnahme von zwei serbischen Deserteuren in Deutschland – wurde.

Zurück zum Herbst 1995: Münster, die Stadt des Westfälischen Friedens von 1648.

Im Rahmen der bevorstehenden Festivitäten zu 350 Jahre Westfälischer Frieden waren auch Friedens- und Menschenrechtsgruppen aufgerufen, einen Beitrag zu leisten. Ein Bündnis aus friedensbewegten, menschenrechtlich orientierten Gruppen und Einzelpersonen schloss sich zum Bündnis 8. Mai zusammen. Schnell kam man zu der Überlegung, dass es gut wäre, wenn Münster als konkreten Friedensbeitrag Deserteure aufnehmen würde. Der Krieg in Jugoslawien hatte gezeigt, dass das deutsche Asylrecht Deserteure nicht schützt. Vorbild für unsere Überlegungen war der Baseler Appell, der die Aufnahme von Deserteuren in Kommunen fordert. Vertreter des Bündnisses führten Einzelgespräche, eine öffentliche Veranstaltung zum Thema Deserteure fand statt. Neben vielen positiven Stim- men gab es auch viel Skepsis. Immerhin kam es zu konkreten Gesprächen mit Personen, die innerhalb der politischen Mehrheitsfraktionen in Münster mit Asyl- und Migrationsfragen zu tun hatten und dem Ordnungsdezernat. Dort gab es zunächst rechtliche Bedenken, die das Bündnis aber schließlich ausräumen konnte. Unseren Vorschlägen ist die Verwaltung der Stadt Münster dann im Wesentlichen gefolgt.

Folgender Ratsbeschluss kam zustande:

  1. »Der Rat der Stadt Münster fordert die Verwaltung auf, so weit deutsche Auslandsvertretungen in Einzelfällen im Rahmen von Verfahren nach § 30 Abs. 1 des AuslG die Zustimmung inländischer Ausländerbehörden einholen, stimmt die Verwaltung der Erteilung von Visa an solche Ausländer zu, die in ihrem Heimatland desertiert sind.
  2. Der Rat der Stadt Münster nimmt zur Kenntnis,
    1. dass diese Zustimmung zur Visaerteilung die ausschließlich der Auslandsvertretung obliegende Anerkennung humanitärer oder politischer Gründe nicht ersetzt,
    2. dass in diesen Einzelfällen die notwendigen finanziellen Mittel zur Sicherung des Lebensunterhaltes, der Kosten der Wohnung sowie der Versorgung im Krankheitsfall und bei Pflegebedürftigkeit im notwendigen Rahmen aus Haushaltsmitteln der Stadt Münster bereitgestellt werden müssen.«

Die Bedeutung dieses Ratsbeschlusses, der uns selbst in seinem schnellen Zustandekommen überrascht hatte, war klar. Es handelte sich hier um etwas Besonderes, denn die Stadt hatte sich zur Kostenübernahme verpflichtet und sich nicht auf Absichtserklärungen beschränkt. Zwar gehört die Umsetzung des Ausländergesetzes nicht zum Bereich der kommunalen Selbstverwaltung. Aber mit dem Beschluss hatte Münster seine Absicht bekundet, nach erfolgter Einreise auf der Basis des § 53 AuslG eine Aufenthaltsbefugnis zu erteilen. Daran gab es für das Innenministerium des Landes nichts zu beanstanden.

Wie sollte dieser Ratsbeschluss nun konkret umgesetzt werden? Wer sollte kommen dürfen?

Wir wollten die Auswahl der in Frage kommenden Personen nicht der Stadt Münster überlassen, sondern Organisationen, wie z. B. Connection e.V., die mit Deserteuren arbeiten. Es musste sichergestellt werden, dass es sich um Deserteure handelt, die nach Münster kommen wollen.

So war die Planung: Die Initiativen geben die persönlichen Daten von Menschen, die für diese Aufnahmemöglichkeit in Frage kommen, an die Münsteraner Ausländerbehörde und an uns. Daraufhin würde von Münster aus zur zuständigen Auslandsvertretung ein Fax geschickt werden mit dem Hinweis, für die Person übernimmt die Stadt Münster die Kosten und falls bei der Visumserteilung die Zustimmung der Ausländerbehörde erbeten wird, sagt diese dazu ja.
Der nächste Schritt ist dann die deutsche Auslandsvertretung, wobei aus den Erfahrungen der vergangenen Monate und Jahre gesagt werden muss, dass auch in den Fällen, in denen das von Kommunen mitbetrieben wird, insbesondere, wenn die Kosten für den Aufenthalt geregelt sind, die Chancen der Visumserteilung zwar steigen, die Auslandsvertretungen dennoch aber häufig das Visum verweigern.

Eine weitere Frage blieb: Eine Aufenthaltsbefugnis berechtigt nicht zum Daueraufenthalt. Allerdings gibt es für die Deserteure eine Lösung, wenn ihre Bedrohung fortdauern sollte: § 35 AuslG sieht vor, dass man nach acht Jahren Aufenthaltsbefugnis eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis erhalten kann.

Seit dem 22. Mai 1996, dem Tag des Ratsbeschlusses, haben wir mit Hilfe von Connection e.V. und anderen Organisationen mehrfach versucht, für Deserteure ein Visum zur Einreise nach Münster zu erhalten. Jedesmal scheiterte der Versuch an der deutschen Auslandsvertretung.

Begrüßung von Milan O. und Zoran P. durch den Vorsitzenden des Ausländerbeirates Spiros Marinos (li.).
Zum Schutz der beiden Deserteure sind ihre Gesichter unkenntlich gemacht.
Foto: Jürgen Tauras

Der Kosovo-Krieg hat dann zu einem verstärkten Engagement des Bündnisses 8. Mai geführt. Die politische Situation war u. E. so eindeutig geworden – die Nato hatte in Hunderttausenden von Flugblättern die Soldaten der serbischen Armee zur Desertion aufgefordert – aber niemand wollte die Deserteure aufnehmen. Wir haben dann die damalige Oberbürgermeisterin aufgefordert, sich ans Außenministerium zu wenden, um zu erreichen, dass die Auslandsvertretungen über den Münsterschen Ratsbeschluss informiert werden, damit der Beschluss endlich umgesetzt werden kann. Parallel dazu hat sich das Bündnis direkt an das Außenamt gewendet, um die Einreisehürden zu überwinden.

Von Mai bis November 1999 haben dann Pax Christi, Connection e.V. und das Bündnis 8. Mai mit Hilfe des Münsteraner Bundestagsabgeordneten von Bündnis 90/DIE GRÜNEN, Winnie Nachtweih, intensiv dafür gearbeitet, daß Milan O. und Zoran P., zwei serbische Deserteure, ein Einreisevisum für Deutschland erhielten. Die beiden waren vor dem Kriegsdienst nach Budapest in das von Connection e.V. mitbetriebene Deserteurshaus geflohen und ihnen drohte täglich die Abschiebung zurück nach Serbien, da ihre Aufenthaltsgenehmigung nur einen Monat Gültigkeit besaß. Ein Zwischenaufenthalt in Israel, ebenfalls nur für einen Monat, den sie unter großem Risiko etwas verlängerten, brachte Zeit, um weiter auf das ersehnte Visum zu hoffen.
Die ganze Zeit über wurde der Kontakt zwischen dem Bündnis 8. Mai über Connection e.V. mit Milan und Zoran per e-mail und Fax aufrechterhalten.
Zwei Tage schließlich vor Ablauf der letztmaligen Aufenthaltsgenehmigung für Milan und Zoran in Budapest wurde das Visum für Deutschland erteilt.
Milan und Zoran kamen dann mit dem Zug über Offenbach – dort ist der Sitz von Connection e.V. – am 15. November 1999 in Münster an und wurden von Politik und Verwaltung, dem Ausländerbeirat und natürlich dem Bündnis 8. Mai gebührend empfangen.

Da seit dem Ratsbeschluss vom 22.5.1996 die Stadtratsmehrheit gewechselt hatte, bestand Unklarheit darüber, ob der Beschluss auch so umgesetzt würde, wie vorgesehen. Aber die neue Stadtregierung hielt sich vollständig an den Beschluss, übernahm alle anfallenden Kosten, inklusive Intensivdeutschkurs für beide, die Anmietung und Erstausstattung einer eigenen Wohnung und sogar als Weihnachtsgeschenk zwei Fahrräder – Münster ist schließlich die Fahrradstadt Nummer eins in Deutschland.

Milan und Zoran sind bereits in Münster heimisch geworden, haben einen eigenen Freundeskreis aufgebaut und arbeiten sogar ehrenamtlich in der Verfahrensinformationsstelle für Flüchtlinge (ViS) als Dolmetscher mit.

Ein solcher Schritt, eine Kommune zu einem deutlichen Zeichen für einen Personenkreis zu bewegen, der auch in der Stadt Münster immer noch mit dem Stigma des »Drückebergers« verbunden ist, ist mehr als nur Hilfe für diese beiden Deserteure. Zugleich ist die Entscheidung der Stadt Münster auch als politisches Signal zur Änderung der bundesdeutschen Politik gegenüber Flüchtlingen zu sehen. Deserteure brauchen Flüchtlingsschutz, der ihnen durch das bundesdeutsche Asylrecht verwehrt wird. Münster könnte zum Vorbild werden.

Weitere Informationen zum Thema gibt eine Broschüre des Vereins Connection e.V. mit dem Titel »Zur Aufnahme von Deserteuren durch Städte«, die im November 1999 erschienen ist.

Preis: DM 10,- + Porto.
Bezug über:
Connection e.V., Gerberstraße 5, 63065 Offenbach, Tel.:069/82375534, Fax:069/82375535.


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