TAG DES FLÜCHTLINGS 1998
Kurdische Flüchtlinge aus dem Irak
Ein Beispiel für die Entrechtung von Schutzsuchenden
Herausgegeben zum Tag des Flüchtlings am 2. Oktober 1998
Herausgeber: PRO ASYL, Arbeitsgemeinschaft für Flüchtlinge mit freundlicher Unterstützung der Deutschen Stiftung für UNO- Flüchtlingshilfe e. V., dem Deutschen Caritasverband e. V., dem Hessischen Ministerium für Umwelt, Energie, Jugend, Familie und Gesundheit und dem Interkulturellen Beauftragten der Ev. Kirche in Hessen und Nassau.
Der Tag des Flüchtlings findet im Rahmen der Woche der ausländischen Mitbürger (27. September bis 3. Oktober 1998) statt und wird von PRO ASYL in Zusammenarbeit mit dem Ökumenischen Vorbereitungsausschuß zur Woche der ausländischen Mitbürger vorbereitet.
INHALT
- I. WER MENSCHENRECHTE VERGISST, VERGISST SICH SELBST.
- Initiativen zum Tag des Flüchtlings 1998
- UN-Kritik an Deutschland
- Menschenrechte und Asyl – Hubert Heinhold
- siehe auch: Europas neuer Pförtner (Beat Leuthardt)
- »Wer Menschenrechte vergißt, vergißt sich selbst.« Mindestanforderungen an ein neues Asylrecht
- Die Ausländerpolitik neu gestalten – Nein zu Fremdenfeindlichkeit und Rassismus
- Der Einstieg in den Ausstieg aus dem Völkerrecht
- Kinderflüchtlinge – Flüchtlingskinder
- »Verfolgte Frauen schützen!« Zwischenbilanz und Perspektiven der Kampagne
- Europäisches Parlament: Entschließung zur Achtung der Menschenrechte in der Europäischen Union
- Menschenrechte – Kein Thema für Deutschland?
- II. RECHTLOS IN DEUTSCHLAND
- Leben in der Illegalität – Eine Bestandsaufnahme
- Schlepper, Schleuser, …. – Von Fluchthelfern und Wegelagerern
- III. SOZIAL AUSGEGRENZT
- Gängelung, Entmündigung, Entrechtung, Aushungerung – Die Realität des Asylbewerberleistungsgesetzes
- Ausgrenzung kommt von oben – Kontinuitäten der Sozialpolitik von Weimar bis heute
- Die erfundene Massenflucht
- IV. DER EINZELFALL ZÄHLT
- Bundesarbeitsgemeinschaft »Asyl in der Kirche« ausgezeichnet
- Kurdische Flüchtlinge aus dem Irak – Ein Beispiel für die Entrechtung von Schutzsuchenden
- Kurzinformationen zu der Situation in den Hauptherkunftsländern von Flüchtlingen
- Der Widerstand der Nonnen von Dinklage gegen den Bruch eines Kirchenasyls
- Entscheidungsdruck und rassistische Textbausteine – die Anhörung von Asylsuchenden beim Bundesamt
- Gewalttätiger Abschiebealltag
- Gefangener des Verfahrens – Tutsi als Buchautor
- »Kurdische Männer halten viel aus«
- Materialbestellung
Adressen
Hintergrundtext
Flugblatt – Kurdische Flüchtlinge aus dem Irak – Ein Beispiel für die Entrechtung von Schutzsuchenden
Am 16. März 1988 bombardierte die irakische Armee die kurdische Stadt Halabja mit Giftgas. Auf der Stelle starben etwa 5.000 Zivilisten, weitere 7.000 in der Folgezeit. Der Angriff auf Halabja war der Höhepunkt des Vernichtungsfeldzuges der irakischen Armee gegen die kurdische Bevölkerung. Mehr als 4.000 Dörfer und Städte wurden binnen weniger Jahre zerstört, ihre Bewohnerinnen und Bewohner ermordet oder in militärisch kontrollierte Sammelstädte deportiert. Große Teile der Region wurden vermint. Mehr als 400.000 Menschen wurden verschleppt, und bis heute gibt es keine Informationen, was mit den meisten von ihnen geschehen ist; die Sammelstädte glichen riesigen Internierungslagern, in denen die Menschen auf Gedeih und Verderb dem Regime und seinen Sicherheitskräften ausgeliefert waren.
Halabja ist zum Sinnbild geworden für eine Vernichtungskampagne, in deren Verlauf die kurdische Bevölkerung zu Flüchtlingen und Vertriebenen im eigenen Land gemacht wurde. Ohne die Unterstützung der Bundesrepublik wäre diese Kampagne so nicht möglich gewesen.
Das irakische Regime war als Gegner des Irans großzügig mit westlichen Waffensystemen hochgerüstet worden. Neben konventionellen Waffen wurden von deutschen Firmen Labore und Fertigungsmaterial geliefert, mit denen chemische und biologische Kampfstoffe hergestellt wurden, – Kampfstoffe, mit denen Halabja bombardiert wurde. Deutsche Behörden leisteten in den 80er Jahren auch Hilfe bei der Ausbildung der Sicherheitsdienste, die bis heute die gesamte irakische Bevölkerung terrorisieren.
Die Bundesregierung kennt ihre Mitverantwortung – dennoch, von einer Entschädigung der Opfer war nie die Rede. Im Gegenteil: Statt »Wiedergutmachung« exponiert sich die Bundesrepublik mittlerweile als Motor in der Europäischen Union im Hinblick auf Fluchtverhinderungs- und Abschottungsmaßnahmen gegenüber Flüchtlingen aus dem Irak.
Als im Januar 1998 die Schiffe mit kurdischen Flüchtlingen an der italienischen Küste strandeten, riefen einige deutsche Innenminister fast den Notstand aus und forderten lautstark die Zurückweisung der Flüchtlinge in die Türkei und die strikte Abriegelung der europäischen Außengrenzen.
Waren Flüchtlinge aus dem Irak bis vor kurzem noch eine Flüchtlingsgruppe par excellence mit vergleichsweise hohen Asylanerkennungsquoten, werden sie nun nur noch als Bedrohung wahrgenommen. Die Politik handelt nach der Devise: Anstatt die Fluchtursachen zu beseitigen, werden die Flüchtlinge bekämpft.
p class=“petrol“»Fast alle Mitgliedsstaaten der Europäischen Union sind von der irakischen Migrationwelle betroffen. Sie müssen dieser Herausforderung deswegen gemeinsam und geschlossen mit dem gesamten präventiven und repressiven Instrumentarium begegnen. (…) Das Konzept muß sich an dem Leitprinzip orientieren, dem Migrationsphänomen nahe am Ausgangsherd entgegenzutreten, wo es sich noch im Zustand der Beherrschbarkeit befindet und somit effizienter zu bewältigen ist.«
(Innenminister Kanther auf der EU- Ratstagung in Birmingham am 4./5.12.1997)
»Inländische Fluchtalternative« Nordirak:
Der innerkurdische Krieg und die Interventionen von außen
Im März 1991, kurz nach Beendigung des Golfkrieges mit der militärischen Niederlage des Iraks, erhoben sich sowohl im Süden des Iraks als auch in Kurdistan Menschen gegen die Diktatur. Nachdem die Eliteeinheiten der irakischen Armee, die »Republikanischen Garden«, den Widerstand im Süden des Iraks brutal niedergeschlagen hatten, wendeten sie sich dem Norden zu. Unter den Augen der Weltbevölkerung eroberte die irakische Armee die befreiten Städte Kurdistans zurück. Eine Massenflucht in die umliegenden Berge setzte ein. Monatelang beherrschten die Bilder der Flüchtlinge, die unterernährt und frierend in provisorischen Lagern lebten, die Medien. Ihnen Schutz zu gewähren war der offizielle Grund, die Operation »Provide Comfort« zu beginnen. Eine Schutzzone nördlich des 36. Breitengrades wurde ausgerufen und den Flüchtlingen sichere Rückkehr unter Geleit alliierter Soldaten versprochen. Zudem startete eine vergleichsweise große Hilfsaktion für die Betroffenen. De facto eigenständig und unter kurdischer Verwaltung, wurde der Nord- Irak den Statuten des Völkerrechts entsprechend, weiterhin als integraler Teil des Iraks angesehen.
1994 entwickelte sich der seit langem schwelende Konflikt zwischen den großen kurdischen Parteien – Kurdische Demokratische Partei (KDP) und Patriotische Union Kurdistans (PUK) – zu einem offenen Krieg. Seitdem ist die Region auch geographisch in zwei Lager gespalten: Der nördliche Badinan wird von der KDP kontrolliert, während sich der südliche Soran unter der Kontrolle der PUK befindet. Beide Parteien kontrollieren die jeweilige Region in Alleinherrschaft. Regierungs- und Verwaltungsfunktionen haben seitdem fast ausschließlich Parteifunktionäre inne; faktisch existieren zwei voneinander unabhängige Entitäten im Nordirak. Gelder, wie Zolleinnahmen und andere Gebühren, die vorher der Regierung zugute kamen, fließen jetzt in die Kassen der Parteien; ein Teil dieser Einnahmen wird in die Bewaffnung weiterer parteieigener Milizverbände für regelmäßig auftretende Parteienkämpfe in vestiert. Diese militärischen Auseinandersetzungen führten zu einer weiteren Destabilisierung der Region, wobei der innerkurdische Warenverkehr zeitweilig völlig zum Erliegen kam. Hoffnungsund Perspektivlosigkeit in großen Teilen der Bevölkerung sind seitdem verbreitete Grundstimmung. Auf diese verfahrene Lage reagierten die beiden Parteien, indem sie ihre Strukturen militarisierten und nach innen die 1991 erkämpften Freiräume immer weiter einschränkten. Hierbei bedienen sie sich äußerst repressiver Methoden.
»Sowohl die Kurdische Demokratische Partei (KDP) als auch die Patriotische Union Kurdistans (PUK) sowie die Islamistische Bewegung in Irakisch Kurdistan (IBIK) sind für weitreichende und schwerwiegende Menschenrechtsverstöße im Nordirak verantwortlich.«
(amnesty international: Auskunft an das VG Arnsberg vom 23.10.1997, Bonn)
Politische Gegner, darunter auch Anhänger kurdischer Organisationen aus der Türkei und dem Iran, werden unter menschenunwürdigen Bedingungen inhaftiert, zum Teil gefoltert. Extralegale Hinrichtungen sind keine Seltenheit. Der militarisierten Logik zufolge ist jeder, der nicht explizit auf seiten der jeweils regional herrschenden Partei steht, verdächtig, mit der Gegenseite zu kooperieren. Freie Meinungsäußerung, Pressefreiheit und andere Grundrechte sind in dieser Atmosphäre nicht gewährleistet. Bisher gelang es den beiden Parteien nicht, aus diesem selbstzerstörerischen Zirkel der Gewalt auszubrechen; Versuche, eine Friedenslösung zu finden, scheiterten regelmäßig. So besteht auch nur eine vage Hoffnung, daß die aktuellen Friedensverhandlungen zu einem positiven Resultat führen.
Wie trügerisch die Sicherheiten, die der Schutzzone 1991 gegeben worden waren, sind, zeigte sich Ende August 1996. Im Krieg gegen die rivalisierende PUK rief KDP- Führer Massud Barzani irakische Truppen zur Hilfe. Irakische Elitetruppen rückten in die Hauptstadt des kurdischen Nordiraks, Arbil, ein und zerschlugen binnen eines Tages den oppositionellen Widerstand. Tagelang durchkämmten Geheimdiensteinheiten der irakischen Regierung die Stadt nach Oppositionellen. Hunderte wurden verhaftet und zum Teil später hingerichtet. Alle internationalen Appelle, der »Invasion« ein Ende zu setzen, blieben erfolglos: Die irakischen Truppen hatten lediglich gültiges irakisches Recht auf eigenem Territorium exerziert. Keine Grenze und kein internationales Abkommen existierten, auf die sich die kurdische Bevölkerung zum Schutz berufen konnten. Die Invasion wurde so nicht nur zum Desaster für die irakische Opposition, deren Mitglieder schutzlos den irakischen Sicherheitsdiensten ausgeliefert waren, sondern für die gesamte kurdische Bevölkerung. Die Illusion von Sicherheit, die auf der stillschweigenden Übereinkunft zwischen Hussein und den Golfkriegs- Alliierten beruhte, war zerstört. Als Konsequenz evakuierte die amerikanische Regierung über 5.000 Kurdinnen und Kurden, die für amerikanische Regierungs- und Hilfsorganisationen gearbeitet hatten. Ihre Sicherheit war nicht mehr zu garantieren.
Der irakische Geheimdienst agiert bis heute relativ ungehindert auf kurdischem Territorium; unliebsame Oppositionelle oder Überläufer werden regelmäßig ermordet oder in den Zentralirak verschleppt.
Seit 1994 ist die türkische Armee mindestens siebenmal im Rahmen großangelegter militärischer Operationen in den Nordirak eingedrungen. Bei diesen Operationen wurden auch unter der irakischkurdischen Bevölkerung Verhaftungen durchgeführt. Während der Invasion im Frühjahr 1995 wurden innerhalb des irakischen Territoriums Internierungslager der türkischen Armee eingerichtet und irakisch- kurdische Dörfer mit Artillerie beschossen. 1997 drang die türkische Armee bis tief ins Zentrum der Region – ungefähr 200 Kilometer von der türkischen Grenze entfernt – vor und unterstützte die verbündete KDP im innerkurdischen Parteienkampf. Unabhängigen Beobachtern zufolge bombardierten türkische Kampfflugzeuge Stellungen der irakisch- kurdischen PUK mit Napalm.
Diese letzte Großoffensive, an der mehr als 50.000 türkische Soldaten beteiligt waren, hatte eine dauerhafte Präsenz türkischer Sicherheitskräfte im kurdischen Nordirak zur Folge.
»Neben der Gefährdung von vermeintlichen Oppositionellen durch gezielte Verfolgungsmaßnahmen seitens der irakischen Sicherheitskräfte und Geheimdienste ist die allgemeine Sicherheitslage in der Schutzzone im Nordirak durch äußerste Instabilität gekennzeichnet. Die Sicherheit in dem Gebiet wird durch militärische Operationen wiederholt von verschiedener Seite (sowohl der irakischen, türkischen und iranischen Armeen als auch der kurdischen Milizen) verletzt.«
(amnesty international: Auskunft an das VG Bayreuth betreffend die Lage in der UNO- Schutzzone vom 17.11.1997, Bonn)
Der Nordirak gleicht seit 1991 immer mehr einem riesigen Flüchtlingslager. Viele arabische Flüchtlinge aus dem Süden des Landes, denen eine Flucht ins Ausland nicht möglich war, haben dort Zuflucht gesucht. Schätzungsweise 20.000 – 30.000 türkische und mehrere tausend iranische Kurdinnen und Kurden leben im Nordirak. Rund ein Drittel der irakisch- kurdischen Bevölkerung konnte bislang nicht wieder angesiedelt werden. Zehntausende wurden während der türkischen Militäroffensiven in den vergangenen Jahren zur Flucht gezwungen. Nach UN- Angaben ist alleine aufgrund der innerkurdischen Auseinandersetzungen und der türkischen Interventionen ein Drittel der Bevölkerung vertrieben worden. (Reuter, 15.10.1997)
Zehn Jahre nach dem irakischen Giftgasangriff auf Halabja und sieben Jahre nach dem Ende des Golfkrieges glauben die Flüchtlinge nicht mehr daran, daß sie mit internationaler Unterstützung in dieser Schutzzone ungefährdet leben können.
Die Flüchtlinge, die heute diese Elendsregion verlassen, ziehen die Ablehnung und Abwehr der potentiellen Aufnahmeländer auf sich.
Europa macht die Schotten dicht:
Fluchtverhinderung und Abschottung gegenüber kurdischen Flüchtlingen aus dem Irak
In zahlreichen Treffen haben die Staaten der Europäischen Union (EU) unter Federführung der Bundesrepublik ein Aktionsprogramm zur Fluchtverhinderung und Abschottung der Außengrenzen speziell gegen kurdischen Flüchtlinge aus dem Nordirak beschlossen. O-Ton Bundesinnenministerium: »Massive illegale Zuwanderung irakischer Kurden.«
Einige Kernpunkte dieses Maßnahmenpaketes sind:
- Verstärkung des Schutzes der Außengrenzen.
- Konsultationen mit der Türkei über verstärkte Ausreisekontrollen.
- Verhandlungen mit der Türkei als wichtigstem Transitland über ein Rückübernahmeabkommen, welches »sich auch auf Staatsangehörige anderer Drittländer als der Türkei erstreckt«.
(Schlußfolgerungen des EU- Gremiums CIREFI vom 21.10.1997)
In der Türkei fanden in der Folge Razzien gegen Transitflüchtlinge statt. In den ersten zehn Tagen dieses Jahres verhaftete die türkische Polizei circa 3.000 »illegale Immigranten«– überwiegend Flüchtlinge aus dem Irak, Pakistan und Bangladesh. Die türkische Armee errichtete im Nordirak einen Sperriegel, um irakische Flüchtlinge schon im eigenen Land zu stoppen.
Die Bundesregierung hat zwischenzeitlich eine Bürgschaft über 60 Millionen DM für die Lieferung von Geräten zur elektronischen Grenzüberwachung an die Türkei übernommen.
(Deutscher Bundestag/Drucksache 13/8564)
Das türkische Regime erhofft sich davon, sowohl den Fluchtweg von kurdischen Flüchtlingen aus der Türkei in den Nordirak abzuschneiden, als auch umgekehrt eine erneute Fluchtwelle von irakischen Kurdinnen und Kurden in die Türkei zu verhindern. Die deutsche Regierung erhofft sich davon ein wirksames Hindernis, um eine Weiterflucht nach Europa zu erschweren.
Der Preis für die Flucht steigt weiter, im doppelten Sinne: Sie wird teurer und riskanter.
Bundesdeutsche Abschreckungsmaßnahmen gegenüber
kurdischen Flüchtlingen aus dem Irak
Flüchtlinge, denen die Flucht in die Bundesrepublik gelungen ist, müssen in Zukunft mit einer restriktiven Anerkennungspraxis und Statusverlust rechnen. Obwohl sich die Lage im gesamten Irak stetig verschlechtert, werden aufgrund veränderter Lageberichte des Auswärtigen Amtes asylrelevante Fluchtgründe relativiert. Das Interesse der Bundesregierung ist klar: Senkung der vergleichsweise hohen Anerkennungsquoten.
Neue Lageberichte und die Folgen
Im März 1997 bat das Bundesinnenministerium das Auswärtige Amt zu prüfen, ob der Nordirak insbesondere für kurdische Flüchtlinge als »inländische Fluchtalternative« angesehen werden könne. Das zentrale Motiv dieses Ansinnens: die nach Auffassung des BMI relativ hohen Zugangs- und Anerkennungszahlen von Asylsuchenden aus dem Irak – circa 70% davon sind kurdische Flüchtlinge.
Im Juni und August 1997 lieferte das Auswärtige Amt die gewünschten veränderten Lageeinschätzungen. Die Folgen der vermeintlich neuen Realität in Nordirak: sinkende Anerkennungsquoten und flächendeckende Anfechtungsklagen des weisungsgebundenen Bundesbeauftragten gegen positive Entscheidungen seit Juli 1997.
Die Zahl der Widerrufsverfahren gegen rechtskräftig anerkannte Flüchtlinge nimmt zu.
Wie sich die veränderte Lageeinschätzung in Bundesamtsentscheidungen niederschlägt, zeigt exemplarisch folgender Fall:
Ein kurdischer Flüchtling aus Arbil reiste am 21.12.1996 auf der Ladefläche eines Lkw in die Bundesrepublik ein. Er wurde am 30.12.1996 vom Bundesamt angehört. Mit Bescheid vom 04.08.1997 lehnte das BAFl die Anerkennung als Asylberechtigten ab und stellte fest, daß die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 Ausländergesetz (AuslG) sowie Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG nicht vorliegen. Der kurdische Flüchtling wurde aufgefordert, die Bundesrepublik innerhalb eines Monats nach Abschluß seines Asylverfahrens zu verlassen. Für den Fall der nicht fristgerechten Ausreise wurde ihm die Abschiebung in den Irak angedroht, mit Ausnahme »der Gebiete des Iraks außerhalb der von Kurden kontrollierten Region im Norden des Iraks«. Mit anderen Worten: Man drohte ihm die Abschiebung in den Nordirak, in die sogenannte UN- Schutzzone, an.
Die zentralen Argumentationsfiguren des BAFl entsprechen den neuen Textbausteinangeboten: Die irakische Zentralgewalt habe im kurdischen Nordirak die Gebietsgewalt verloren. Der Nordirak besitze eine »De facto- Autonomie«. Eine Gefährdung durch kriegerische Auseinandersetzungen zwischen PUK und KDP stelle keine staatlichen Verfolgungsmaßnahmen dar. Bezüglich der Gefährdung durch eine Asylantragstellung sei es höchst zweifelhaft, ob irakische Stellen überhaupt Kenntnis von der Asylantragstellung erlangten.
Gegen den Bundesamtsbescheid hat der Flüchtling am 12.08.1997 Klage erho ben. Am 29.11.1997 stellte das Verwaltungsgericht (VG) Freiburg fest, daß die Voraussetzung des §51 Abs. 1 AuslG vorliegen.
(VG Freiburg /Az: A 10 K 11270/ 97)
Asylbewerber aus dem Irak 1994 – 1997

Quelle: BMI, Grafik: PRO ASYL Asylbewerber
Das Gericht kritisiert u. a. im Hinblick auf die Lageberichte vom Juni und August 1997, daß keine neuen Erkenntnisse vorhanden seien, die »die Folgerung zuließen, für abgelehnte Asylbewerber aus dem Irak sei eine Verfolgung wegen der bloßen Asylantragstellung im Ausland mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen«. Die Berichte des Auswärtigen Amtes würden keine Quellen benennen, die diese geänderten Einschätzungen belegten.
Es stellte fest, daß für den kurdischen Flüchtling der Nordirak keine »inländische Fluchtalternative« darstelle. Der Kläger sei eine Person, an deren Ergreifung die irakische Zentralregierung ein besonderes Interesse hege und deshalb bestehe für ihn die beachtliche Wahrscheinlichkeit, auch im Nordirak von Saddam Husseins Sicherheitskräften verfolgt und in asylrelevanter Weise belangt zu werden.
Gegen diese Entscheidung wurde Antrag auf Zulassung der Berufung gestellt, über den der Verwaltungsgerichtshof (VGH) Baden-Württemberg noch nicht entschieden hat.
Klar und eindeutig stellt das Bayerische Verwaltungsgericht München zur Frage »inländische Fluchtalternative« Nordirak fest:
»Weder die UN-Schutzzone noch die Flugverbotszone nördlich des 36. Breitengrades stellen eine inländische Fluchtalternative dar. (…) Eine inländische Fluchtalternative setzt jedoch voraus, daß der Asylsuchende in dem in Betracht kommenden Gebiet vor politischer Verfolgung sicher ist und ihm dort keine anderen Nachteile und Gefahren drohen. Diese Voraussetzungen sind weder in der UN- Schutzzone noch allgemein im Kurdengebiet erfüllt.«
(Urteil des Bayerisches Verwaltungsgerichts München vom 04.12.1997 / M 27 K 97.53035, S. 7)
Ende Februar 1998 berichtete der Leiter des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge, die Anerkennungsrate bei kurdischen Flüchtlingen aus dem Irak sei innerhalb von neun Monaten von 90% auf 50% gesunken. Die Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte ist zu diesem Zeitpunkt noch uneinheitlich. Konkretisieren wird sie sich mit den ersten Oberverwaltungsgerichtsurteilen zu der vermeintlich neuen Lage aufgrund der Berichte des Auswärtigen Amtes. Bei der Entwicklung der obergerichtlichen Rechtsprechung zu anderen Herkunftsländern hat sich gezeigt, daß die Gerichte geneigt sind, den Aspirationen der Politik Rechnung zu tragen. Dies ist auch im Falle des Iraks zu befürchten.
Widerrufsverfahren, Erschwernis bei der Familienzusammenführung
Im Herbst 1997 – zu einer Zeit, als die türkische Armee erneut in den Nordirak einfiel, Splitterbomben und Napalm gegen Zivilisten einsetzte – erhielten viele kurdische Flüchtlinge aus dem Irak vom Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge ein Schreiben mit dem Textbaustein:
»Bezüglich Ihrer Anerkennung als Asylberechtigter in der Bundesrepublik wurde aufgrund der zwischenzeitlich geänderten Situation in Ihrem Heimatland gemäß §73 Asylverfahrensgesetz ein Widerrufsverfahren eingeleitet. Es ist beabsichtigt, Ihre Anerkennung zu widerrufen und festzustellen (…), daß keine Abschiebehindernisse vorliegen.«
Das Bundesamt leitet zunehmend Widerrufsverfahren gegen Asylberechtigte oder mit Abschiebungsschutz versehene Flüchtlinge in Fällen ein, in denen Reisen in den Irak, gemeint ist der Nordirak, bekannt werden.
(Deutscher Bundestag/Drucksache 13/8906)
Ende 1997 wurden die bereits restriktiven Bedingungen für die Familienzusammenführung weiter verschärft. Es werden original irakische Ausweise der nachzugswilligen Familienangehörigen von den bundesdeutschen Behörden verlangt. Seit 1991 gibt es aber keine autorisierte irakische Stelle in der Schutzzone, die Pässe ausstellen und verlängern könnte. Von der irakischen Verwaltung verblie bene Vordrucke wurden verwendet, ohne daß diese in der Regel von der deutschen Botschaft in Ankara beanstandet wurden. Inzwischen werden nach langwierigen Überprüfungsverfahren solche Pässe als gefälscht eingestuft und der Visumantrag abgelehnt. Den nachzugswilligen Familienangehörigen wird zur Identitätsklärung ein Speicheltest zugemutet, um die Abstammung der Kinder von den Eltern feststellen zu können.
Ob im Rahmen dieser mannigfaltigen Flüchtlingsabwehr- Aktivitäten in naher Zukunft auch Abschiebewege in den Nordirak realisiert werden, bleibt eine noch offene Frage.
Momentan besteht für kurdische Flüchtlinge aus dem Irak der einzige noch bestehende bundesweite Abschiebestopp nach § 54 Ausländergesetz. Es dürfen keine Abschiebungen über Bagdad erfolgen. Abschiebungen über den Landweg via Jordanien oder Türkei sind bis jetzt nicht möglich. Obwohl es zahlreiche Hinweise gibt, daß die Bundesregierung über ein Durchschiebeabkommen mit der Türkei bereits Verhandlungen geführt hat und auf europäischer Ebene dieses Abkommen in verschiedenen Gremien gewünscht wird, dementierte die Bundesregierung im Oktober und November 1997 jegliche Verhandlungen mit Transitländern wie Türkei und Jordanien über diese Frage.
Durch ihre Aufrüstung des Iraks und insbesondere durch die Giftgaslieferungen steht die Bundesrepublik gegenüber den irakischen Kurdinnen und Kurden tief in der Schuld. Es ist ihre Verpflichtung, diesen Flüchtlingen Schutz zu gewähren, statt sie mit immer neuen Abschottungsund Abschreckungsmaßnahmen abzuwehren.
Wir fordern die Bundesregierung auf
- sich für eine internationale KurdistanKonferenz einzusetzen, mit dem Ziel, eine dauerhafte und humanitäre Lösung für die Schutzzone zu erreichen, d. h. einen sicheren, international garantierten Status von Irakisch Kurdistan;
- langfristige wirkliche Aufbauhilfe im Nordirak zu leisten statt die wenigen Gelder für Nothilfe weiter zu kürzen;
- Druck auf die Türkei auszuüben mit dem Ziel, einen sofortigen Abzug der Truppen und Beendigung des militärischen Sperriegels gegenüber kurdischen Flüchtlingen zu erreichen;
- die Hermes- Bürgschaft für Grenzüberwachungsanlagen zurückzuziehen.
Bezogen auf die aktuelle Asylpraxis fordern wir,
- die Praxis flächendeckender Klagen des weisungsgebundenen Bundesbeauftragten gegen positive Entscheidungen des BAFl oder Anerkennnungen durch die Verwaltungsgerichte sofort einzustellen;
- die Politik der zunehmenden Widerrufsverfahren zu beenden;
- eine Korrektur der beschönigenden Lageberichte des Auswärtigen Amtes;
- Erleichterungen bei der Familienzusammenführung, d. h. kurzfristige Ausstellung von Paßersatzpapieren für die Familienangehörigen;
- sofortige Abschaffung des entwürdigenden Speicheltests;
- eine gemeinsame europäische Aufnahmepolitik für kurdische Flüchtlinge auf Grundlage der Genfer Flüchtlingskonvention, anstelle koordinierter Abschottung.
Veröffentlicht im Juni 1998 Wadi e. V. arbeitet in verschiedenen Ländern des Nahen Ostens. In Irakisch-Kurdistan führt Wadi, als eine der letzten verbliebenen deutschen Hilfsorganisationen, vor allem Projekte für Flüchtlinge, Frauen und Kinder von Vertriebenen durch. In Deutschland setzt Wadi sich für die Rechte von Flüchtlingen aus der Region ein. Spendenkonto- Nr.: 612305- 602 Postbank Frankfurt · BLZ 500 100 60
Wadi e. V. Verband für Krisenhilfe und solidarische Entwicklungszusammenarbeit Gutleutstr. 144 · 60327 Frankfurt/M. Telefon 069/236510 Telefax 069/231472 e-mail: wadi@ mailexcite. com
Förderverein PRO ASYL e.V. Postfach 160624 · 60069 Frankfurt/M. Telefon: 069/230688 Fax: 069/230650 internet: https://www.proasyl.de e- mail: proasyl@proasyl. de
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