TAG DES FLÜCHTLINGS 1995
Kirchenasyl ist geteilte Angst
Unterstützung für armenische Kriegsflüchtlinge
INHALT
- Grußwort der Vertreterin der Hohen Flüchtlingskommissarin der Vereinten Nationen (UNHCR) in der Bundesrepublik Deutschland
- Kriegsflüchtlinge brauchen eine Lebensperspektive
-
GRENZEN: LAND, WASSER, LUFT
- Justizlotto am Flughafen
- Kein faires Verfahren für nigerianische Flüchtlinge
- Datenschutz ist Flüchtlingsschutz
- Ein natürlicher Tod
- Deutsche Ufer – Tod an der Grenze
- Festung Europa: Die Odyssee eines Deserteurs aus Kosova
- Verhaftet, gefoltert, verschwunden – wenn deutsche Behörden abschieben
- Lageberichte des Auswärtigen Amtes: Verharmlosung von Menschenrechtsverletzungen?
- Zweierlei Wahrnehmungen: Behördliche Auskünfte und die Realitäten vor Ort
IN DEN HERKUNFTSLÄNDERN
»Kirchenasyl ist geteilte Angst«, so formuliert es Pfarrer Peter Spengler aus Jena nach sieben Wochen harten Kampfes um ein Bleiberecht für ca. 60 Armenier in Thüringer Kirchen. Bis zu dieser Feststellung, ausgesprochen in der Jenaer Stadtkirche St. Michael, in der allein 21 Armenier, darunter vier Kinder, Zuflucht und Hilfe gefunden hatten, war es ein langer Weg. Viel wurde unternommen, um den letzten Schritt – die Gewährung von Kirchenasyl- zu vermeiden.
Im Dezember 1993 rief die Bürgerinitiative Asyl e.V. die Jenaer Bevölkerung erstmals zu Aktivitäten auf. Gebeten wurde, Postkarten an den damaligen Thüringer Innenminister Schuster (CDU) zu schreiben. Das Engagement verschiedener Organisationen, unter anderem auch jene Postkartenaktion, führte schließlich dazu, daß das Thüringer Innenministerium die Abschiebung armenischer Asylbewerber in ihr Heimatland bis zum 30. Juni 1994 aussetzte. Das Argument für die erteilte Duldung war jedoch nicht der Kriegszustand in Armenien, sondern der harte und kalte Winter, auf den sich ein im Januar aus Thüringen abgeschobener Asylbewerber nicht hätte vorbereiten können.
Eine Verlängerung dieser Duldung, so die Auffassung des Thüringer Innenministers, wäre nur im Einvernehmen mit dem Bundesinnenminister möglich gewesen, werde jedoch aus Bonn verweigert.
Nach übereinstimmender Auffassung der verschiedensten Menschenrechtsorganisationen herrscht zwischen Armenien und Aserbaidschan weiterhin Krieg um die Enklave Nagorni Karabach. Verstöße gegen die Menschenrechte und das internationale Völkerrecht sind an der Tagesordnung. Eine Erklärung der UNO stuft diesen Krieg als völkerrechtswidrig ein. Wenn Menschen aus diesem Krieg fliehen, weil sie beispielsweise als Soldaten nicht Mittäter gegen Menschen und das Völkerrecht werden wollen, stellt Deutschland sich schwerhörig.
Zwar hat der Bundesgesetzgeber bei der letzten Änderung des Ausländergesetzes eine besondere Regelung für Kriegs-und Bürgerkriegsflüchtlinge eingefügt. § 32a Ausländergesetz sieht vor, daß sie ein Bleiberecht außerhalb des Asyls erhalten können. Da die Regelung jedoch voraussetzt, daß alle Bundesländer und der Bund sich einigen müssen, wer in diese Kategorie fällt, bleibt die Regelung wirkungslos. Denn ein Bundesland stimmt allemal dagegen. Auch können sich Bund und Länder über die Finanzierung der so aufgenommenen Flüchtlinge nicht einig werden. So wurden alle armenischen Flüchtlinge durch das Nadelöhr des Asylverfahrens gepreßt. Dort sahen sie sich mit den Fußangeln der Rechtsprechung und einer falschen Einschätzung ihrer Gefährdung konfrontiert. Alle wurden als »offensichtlich unbegründet« abgelehnt.
Obwohl sich viele der Asylantragsteller aufgrund ihrer Gewissensentscheidung, nicht in den Krieg zu ziehen, großem Druck der staatlichen Stellen ausgesetzt sahen, stellt dies nach Auffassung des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge keine politische Verfolgung dar. Es weiß sich dabei einig mit der Rechtsprechung, nach der weder Desertion noch die Flucht vor kriegerischen Ereignissen ohne weiteres Asylgründe darstellen.
Nach Informationen des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen (UNHCR) werden Wehrdienstverweigerer in Armenien zur Ableistung des Militärdienstes herangezogen, wenn man ihrer habhaft geworden ist. Die in Deutschland Asyl beantragenden Armenier gelten alle als Deserteure und Verräter. Nach ihrer Ankunft in Armenien werden sie in Strafbataillonen im Krieg um Nagorni-Karabach eingesetzt. Die Vertretung des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen in Deutschland kam deshalb zu der Bewertung, daß bei Kriegsdienstverweigerern aus Armenien Abschiebehindernisse gemäß § 53 Abs. 6 Ausländergesetz vorliegen, da eine unmittelbare Gefährdung für Leib und Leben besteht. Das Bundesamt und das Verwaltungsgericht Gera ignorierten die vorliegenden Erkenntnisse. Die Ausländerbehörden waren bereit, die Armenier als Kanonenfutter für den Krieg abzuschieben.
Nach Ansicht der Bürgerinitiative Asyl e.V. hätten die nach und nach bekannt gewordenen Erkenntnisse und Beweismittel die Stellung eines Asylfolgeantrages gerechtfertigt. Das Bundesamt verweigerte jedoch die Durchführung von Folgeverfahren. Am 9. September 1994 stand es unwiderruflich fest: Eine Chartermaschine sollte fünf Familien, darunter sechs Kinder und neun alleinstehende junge Männer, direkt nach Armenien bringen. Der Rechtsweg war ausgeschöpft. Um den in vielen Fällen sicheren Tod abzuwenden, gab es keinen anderen Weg, als mit Hilfe des Kirchenasyls zum Ausdruck zu bringen, daß diese rechtsstaatliche Wirklichkeit mit unserem Gewissen nicht mehr vereinbar war. Die evangelische Kirchgemeinde Jena gewährte den armenischen Asylbewerbern schließlich, was ihnen der Staat verweigert: Ein Recht auf Schutz vor akuter Gefahr für Leib und Leben. Alle Beteiligten, Christen wie Nicht-Christen, aktive Helfer, die rund um die Uhr in der Kirche weilten und solche, die durch ihre Spenden die täglichen Bedürfnisse absicherten, waren sich in einer Sache einig: Hier rechtfertigt das Gewissen einen Rechtsbruch, um ein höheres Recht – das Recht auf Leben – zu sichern.
Was ist geschehen in der Stadtkirche, der St. Michaeliskirche zu Jena, die als Schutzpatron jenen Drachen erschlagenden Mann mit dem Schwert hat? Hat dort eine Schlacht stattgefunden? Nein, es wurde um etwas gerungen. Es wurde um Einsicht bei den zuständigen Behörden und um die Anerkennung der Wahrheit gebeten. Wahrscheinlich wurde letztendlich Familien aus Armenien das Leben gerettet. Die Kritiker dieser lebensrettenden Aktion nennen die ausgeübte Beistandspflicht »Kirchenasyl«, bezeichnen es als rechtsfreien Raum, den eine Kirche nicht in Anspruch nehmen könne und verkennen dabei, daß es sich um ein ausgeübtes Grundrecht handelt, nämlich das der Gewissens- und Glaubensfreiheit.
Nach der friedlichen Revolution von 1989 war eines gewiß: Die Zeiten sind vorbei, in denen jeder zwar denken konnte, was er wollte, danach aber nicht handeln durfte. Die Zeiten sind vorbei, in denen eine führende Rolle der Partei festlegte, was Frieden ist, in denen Institutionen, Behörden und Innenminister festlegen konnten, was Kirche ist und was nicht, wo der Gewissenentscheidung der Einzelnen Mauern aus Gesetzen entgegengesetzt wurden. Wenn sich Recht und Menschenrecht trennen, so bedarf es der Menschen, um das Recht wieder zum Menschenrecht zu machen. Wenn armenische Kriegsflüchtlinge von Deutschland aus in einen Krieg geschickt werden, vor dem sie nach Deutschland geflohen sind, so wird durch den Beistand für sie Recht wiederhergestellt, wo die Gesetze versagen. Wenn solcher Beistand für bedrohte Menschen zum Widerstand gegen den Staat wird, so liegt dies nicht an den Menschen, sondern am Staat.
Der Beweis, daß die Lageeinschätzung des Auswärtigen Amtes in Bonn zur Lage in Armenien falsch war, wurde von Jena aus geführt. Inzwischen hat das Auswärtige Amt das bestätigt, was verschiedene Menschenrechtsorganisationen schon lange behauptet haben und sagt: »Reguläre armenische Streitkräfte werden in dem Konflikt um Berg-Karabach eingesetzt. Aus diesem Grund ist nach der Rückkehr armenischer Wehrdienstverweigerer und Deserteure eine Gefahr für deren Leben nicht auszuschließen.«
Diese wenigen Sätze würden die Lage der Armenier in Thüringen ändern, so schien es wenigstens. Endlich konnte erneut um ein Bleiberecht verhandelt werden. Die Zuversicht war groß, daß das Bundesamt diesmal ein erneutes Asylverfahren einleitet. Selbst der Thüringer Innenminister, der den in der Zuflucht der Kirche, lebenden Armeniern das Stellen eines Asylfolgeantrags empfahl, also von einer immer noch möglichen Abschiebung absah, wird davon ausgegangen sein.
Auch bei vielen Flüchtlingsunterstützern ist die Meinung verbreitet, daß Stellungnahmen des Auswärtigen Amtes schwerer wiegen als die Aussagen des UNHCR und der Menschenrechtsorganisationen. Dies mag stimmen, solange die über die deutschen diplomatischen Kanäle gesammelten Informationen gegen Asylantragsteller sprechen. Für die Armenier in der Kirche wurde die Hoffnung enttäuscht: Keinem einzigen Asylfolgeantrag wurde stattgegeben. Wenn man zugunsten der Armenier unterstellte, daß eine Gefahr für Leib und Leben nicht auszuschließen sei, so entgegnete das Bundesamt, sei es ebenso nicht auszuschließen, daß die Betroffenen sich der Gefahr entziehen könnten. Solange jedoch Zweifel an der allgemeinen lebensbedrohlichen Situation bestünden, müsse abgeschoben werden.
Die Wahrheit und die Menschlichkeit hatten nur für kurze Zeit gesiegt. Die sieben Wochen, in denen die Nerven der Hilfesuchenden und ihrer Helfer mehr als einmal blank lagen, in denen jeder mehrmals bereits gedacht hatte, das »Ende der Fahnenstange sei erreicht«, wie dies Innenminister Schuster schon nach drei Tagen sagte, haben zu der bitteren Erkenntnis geführt: Wenn Gesetzestreue zum vorauseilenden Gehorsam wird, wenn sich der Erfolg einer Ausländerpolitik an der Zahl abgelehnter AsylantragsteIler und insgesamt sinkender Flüchtlingszahlen mißt, dann ist es eben auch möglich, daß sich eine Behörde wie das Bundesamt diesen Effizienzkriterien verpflichtet fühlt und Menschenrechte dabei auf der Strecke bleiben. Zwar sind die Entscheider des Bundesamtes nach dem Gesetz weisungsungebunden, überwiegend jedoch marschieren sie im Behördentrott.
Durch die Landtagswahl des Jahres 1994 bekam Thüringen einen neuen Innenminister, Herrn Dewes (SPD). Dieser setzte vorerst einmal alle Abschiebungen für Armenier aus. Wie bei seinem Amtsvorgänger geschah dies nicht aufgrund des Krieges und daher rührenden Gefahren für die Menschen, sondern aufgrund des strengen Winters. Erneut handelt es sich lediglich um eine Galgenfrist, ein Atemholen für die Flüchtlinge, deren Anspannung man sich nur schwer vorstellen kann. Wie wird es weitergehen? Notfalls wird der Kampf um die Wahrheit wieder angetreten werden.
Etwas bleibt aus der Zeit des Kirchenasyls auf jeden Fall: aus zuerst drei Tagen wurden 50. Aus einer Handvoll von Helfern und Helferinnen wurden Hunderte von Spendenden, Sympathisanten und UnterstützerInnen. So können wir heute sagen: Gott sei Dank, daß es Menschen gibt, die die öffentliche Heuchelei nicht ertragen. Menschen, die ganz einfach sagen, daß Gesetze Unrecht sind, wenn sie Menschen Unrecht zufügen. Menschen, die aus der Überzeugung handeln, daß es vor Gott und den Menschen eine Pflicht gibt, denjenigen zu helfen, die unseren Schutz brauchen.
Umfassende Information zum Thema Kirchenasyl bietet das Buch »Asyl von unten – Kirchenasyl und ziviler Ungehorsam – ein Ratgeber«, von Wolf-Dieter Just,
Rowohlt Taschenbuch-Verlag, Reinbek 1993
Praktische Erfahrungen mit dem Kirchenasyl: »Wir wollen, daß ihr bleiben könnt.
Kirchenasyl in Gilching – ein Beispiel«
Martin Pilgrom (Hg.)
Komzi-Verlag, Idstein 1995