Generic selectors
Nur exakte Ergenisse
Suchen in Titel
Suche in Inhalt
Post Type Selectors

TAG DES FLÜCHTLINGS 1995

Kein faires Verfahren
für nigerianische Flüchtlinge

Massive Menschenrechtsverletzungen in Nigeria sind insbesondere in den Jahren 1993 und 1994 von vielen Menschenrechtsorganisationen dokumentiert. Allein der Jahresbericht 1994 von amnesty international weist auf mehrere Hundert Kritiker und Gegner der Regierung hin, die ohne Anklage in Gewahrsam genommen worden sind, sowie auf extralegale Hinrichtungen durch die Sicherheitskräfte und grob unfaire Prozesse vor Sondertribunalen. Anlässe genug, um das Vorbringen nigerianischer Flüchtlinge sorgfältig zu prüfen.

Im Laufe des Jahres 1994 stellte PRO ASYL fest: Die Chance für Flüchtlinge aus Nigeria, das Schnellverfahren auf dem Flughafen Frankfurt zu überstehen und zu einem regulären Asylverfahren im Inland zugelassen zu werden, ist extrem gering. Im ersten Halbjahr 1994 durften lediglich 13,5% der Ankommenden ein Asylverfahren im Inland betreiben. 31 von 37 Flüchtlingen aus Nigeria wurden bereits am Flughafen zurückgewiesen.

PRO ASYL gab daraufhin eine Untersuchung in Auftrag, um festzustellen, inwieweit die geringe Einreisechance von Nigerianern auf dem Frankfurter Rhein-Main-Flughafen auf die Befragungs- und Entscheidungspraxis des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge zurückzuführen ist. Untersucht wurden schwerpunktmäßig die protokollierten Aussagen der Flüchtlinge im Rahmen der Anhörung vor dem Bundesamt und die Begründungen der Entscheidungen. Nachgewiesen wurde, dass die rechtlichen Anforderungen an eine vernünftige Sachverhaltsaufklärung durch das Bundesamt regelmäßig verletzt werden. Die Befragungspraxis bei nigerianischen Flüchtlingen ist unfair. Ablehnungen sind die logische Folge. Deren Begründungen sind überwiegend unzureichend. Dennoch bestätigen die Verwaltungsgerichte regelmäßig die schlampige Behördenpraxis. Wir dokumentieren einen Einzelfall aus unserer Untersuchung.

Herr I.

Herr I. floh im August 1993 aus Nigeria und begründete diesen Schritt folgendermaßen: Nach der Anullierung der Wahlen durch die Militärregierung sind in Nigeria schwere Unruhen ausgebrochen, der Generalstreik wurde ausgerufen. Ich mußte mitansehen, wie mein Vater von Mitgliedern der NCR (der bei der Wahl unterlegenen Partei) zu Tode geprügelt wurde. Da ich Mitglied der SDP (der bei den Wahlen siegreichen Partei) bin, befürchte ich, ebenfalls von diesen Leuten getötet zu werden. In meiner Heimatstadt Ibadan sind die politischen Auseinandersetzungen zu Kämpfen zwischen den Volksgruppen der Yoruba und Haussa eskaliert. In der Straße, wo ich wohne, haben Yorubas die Häuser von Haussas angezündet und auf die Menschen geschossen, die vor dem Feuer flüchteten. Viele wurden getötet. In dem Wohnblock, wo ich lebe, wohnen auch viele Haussas. Die Haussas verfolgen auch uns Yorubas. Ich hatte daher Angst um mein Leben und entschloß mich zur Flucht. Als ich auf dem Weg nach Lagos zum Flughafen war, gab es an der Autobahn Straßensperren. Ich habe gesehen, wie Leute aus ihren Autos geholt und auf der Stelle erschossen wurden.

Das Bundesamt lehnte den Asylantrag als offensichtlich unbegründet ab (AZ. C 1765406-232) und stützte sich dabei im wesentlichen darauf, Herrn I’s Angaben seien unglaubwürdig:

1. Dies wurde u.a. damit begründet, daß Herr I. bei der Anhörung vor dem Bundesgrenzschutz nur von Verfolgung aufgrund seiner Volkszugehörigkeit, nicht aber aufgrund seiner SDP-Mitgliedschaft gesprochen hatte. In der Anhörung vor dem Bundesamt hatte der Befrager korrekterweise an diesem Punkt nachgehakt:

Frage: Gestern haben Sie beim Bundesgrenzschutz angegeben, daß … es Unruhen zwischen Yorubas und Haussas gebe, heute sprechen Sie von Kämpfen zwischen NCR und SDP-Anhängern.

Antwort: Gestern wurde ich gefragt, weshalb es diese Unruhen gibt, und ich habe erklärt, daß Ibadan den Yorubas gehört, die Haussas gehen gegen uns Yorubas vor. Heute wurde ich gefragt, zu welcher Partei ich gehöre, deshalb habe ich alles auf SDP und NRC bezogen. Im übrigen, Babangida ist ein Haussa, Abiola ist ein Yoruba.

Das Bundesamt in seiner Entscheidung: »Seine Einlassung, vom Bundesamt gefragt worden zu sein, zu welcher Partei er gehöre, so daß er nunmehr alles auf SDP und NRC beziehe, ist keine vernünftige, nachvollziehbare Auflösung der Widersprüche. Vielmehr ist diese Einlassung Indiz dafür, daß der Antragsteller dazu neigt, ad hoc seine Angaben so zu variieren, wie er es aus taktischen Erwägungen für günstiger erachtet«.

Liest man den letzten Satz von Herrn I`s Antwort, zeigt sich, daß der vom Bundesamt »gefundene« Widerspruch vermutlich gar nicht existiert. Herr I. deutet an, daß es in Nigeria zwischen Volksgruppen- und Parteizugehörigkeit gewisse Abhängigkeiten gibt. Es besteht also die Möglichkeit, daß der politische und der ethnische Konflikt die bei den Seiten derselben Medaille sind und Herr I. denselben Sachverhalt beim Bundesamt und beim BGS nur jeweils aus einer anderen Perspektive geschildert hat. Auch hier hat das Bundesamt den Sachverhalt keineswegs geklärt. Eine weitere Aufklärung erscheint im Gegenteil dringend geboten.

2. Das Bundesamt schreibt weiter: »Insoweit der Antragsteller behauptet, derzeit würden in Nigeria derartige Unruhen herrschen, daß SDP-Mitglieder von NCR-Mitgliedern getötet würden bzw. Yorubas und Haussas in blutigen Kämpfen ständen, kann diesem Vorbringen nicht geglaubt werden. Wie bereits dem Antragsteller in der Anhörung vorgehalten, geben die Berichterstattungen der West Africa, die wöchentlich vom Bundesamt Flughafen Frankfurt ausgewertet werden, nicht den geringsten Hinweis hierauf. Da Herr Abiola, der als Sieger der 12. Juni-Wahlen gilt…, vom Ausland aus die Weltöffentlichkeit nicht auf eine Verfolgung von SDP-Mitgliedern bzw. auf blutige Unruhen hinweist, kann davon ausgegangen werden, daß die Angaben des Antragstellers nicht den Tatsachen entsprechen. Laut Berichterstattungen der Frankfurter Rundschau finden zwar zur Zeit in Nigeria ständig Generalstreiks statt …, die aber offenkundig ohne Aufruhr und Übergriffe ablaufen. Das nationale Radio Nigerias verbreitet Parolen, die zur Ruhe aufriefen: ‚Schließt euch nicht denen an, die Chaos stiften, geht den normalen Tätigkeiten nach’«.

Die Argumentation des Bundesamtes ist also folgende: Da wir von dem Ereignis XY nichts erfahren haben, kann es auch nicht stattgefunden haben. Wenn der Asylbewerber dennoch behauptet, es gesehen zu haben, lügt er. Dieser Schluß widerspricht nicht nur den elementaren Gesetzen der Logik. Er ist auch rechtswidrig. Wenn der Sachverhalt nicht geklärt ist, hat das Bundesamt ihn zu ermitteln (§ 24 AsyIVfG). Angesichts der verworrenen Lage in Nigeria und dem durch Pressezensur eingeschränkten Nachrichtenwesen ist es jedenfalls unangebracht, von der Allwissenheit des Bundesamtes auszugehen, wie der Entscheider es offenbar tut. Der zitierte Radioaufruf deutet zudem darauf hin, daß es ganz ohne Aufruhr doch nicht abzugehen schien, ist doch von dem Chaos die Rede, das einige Leute stiften.

Wäre das Bundesamt seiner Ermittlungspflicht nachgekommen, hätte es beispielsweise von amnesty international folgendes erfahren: »Wir können bestätigen, daß es seit der Annullierung der Wahlen durch die Militärregierung in Nigeria zu schweren Unruhen gekommen ist, die Berichten örtlicher Menchenrechtsorganisationen zufolge hunderte Todesopfer forderten. … Es gelang der Militärregierung offenbar nur durch härtesten Einsatz, zahlreiche Verhaftungen und Einschränkung der Pressefreiheit, die Ruhe in etwa wieder herzustellen.« (Schreiben von a.i. an die Rechtsanwältin von Herrn I.). Dies sagt zwar über das persönliche Schicksal des Herrn I. und somit über seine Asylberechtigung noch nichts aus, das Bundesamt kann Herrn I’s Verfolgungsfurcht aber nicht mehr mit dem Argument für unbegründet erklären, es habe generell keine Verfolgungsgefahr bestanden. Herrn I’s Anwältin sucht bei dem Verwaltungsgericht um einstweiligen Rechtsschutz gegen die drohende Zurückweisung nach Nigeria nach. Sie hatte dafür gem. § 18a Abs. 4 AsylVfG drei Tage Zeit. Innerhalb von 14 Tagen – noch vor der Stellungnahme von amnesty international – entscheidet das Gericht über das weitere Schicksal von Herrn I. Es folgt im wesentlichen der Argumentation des Bundesamtes und lehnt den Eilantrag ab. In der Kürze der Zeit ist es nicht gelungen, aufzuklären, was in Ibadan im August wirklich geschehen ist.

Erst im Februar 1994 erreicht die Anwältin ein Schreiben des UNO-Hochkommissars für Flüchtlinge (UNHCR):

»Wir nehmen Bezug auf Ihr Fax vom 20.9.1993 und erlauben uns, wenn auch möglicherweise für den konkreten Fall verspätet, Ihnen die erst nunmehr eingetroffene Antwort unserer Zentrale in Genf mitzuteilen. Es kann bestätigt werden, daß es nach Absage der Präsidentenwahl in Nigeria zu politischen Unruhen kam, die auch eine Reihe von gewalttätigen Ausschreitungen in Ibadan im Juli 1993 einschlossen. Es wird berichtet, daß die Mehrheit der Stammesangehörigen der Haussas … General Babangida unterstützten, während die Yorubas auf Seiten der SDP waren.«

Für Herrn I. kam diese Nachricht zu spät. Er war bereits im September 1993, einen knappen Monat nach seiner Ankunft in Frankfurt nach Nigeria zurückgewiesen worden.

Die vorläufige Bilanz ergibt folgendes: Der Entscheider hat zwar formal durch Nachfrage – dem Flüchtling die Gelegenheit zur Aufklärung eines möglichen Widerspruchs gegeben. Inhaltlich wurde sein Vorbringen nicht insgesamt gewertet, sondern nur insoweit überhaupt zur Kenntnis genommen, wie es das (Vor-)Urteil des Entscheiders bestätigte.

An diesem Fall zeigt sich auch, wie die Verfahrensregeln des neuen Asylrechts und konkrete Versäumnisse des Bundesamts und des Gerichts zum Schaden des Flüchtlings ineinandergreifen: Das Bundesamt schließt – rechtlich unzulässig – aus eigenen Informationslücken auf die Unglaubwürdigkeit des Flüchtlings, das Gericht versäumt es seinerseits (aus Zeitdruck?), die nötigen Ermittlungen anzustellen, und die Kürze des Rechtsmittelverfahrens macht es dem Anwalt unmöglich, durch eigene Nachforschungen rechtzeitig Beweise für die von dem Flüchtling geschilderten Ereignisse beizubringen.

Durch die Untersuchung von PRO ASYL werden weitere unfaire und rechtswidrige Praktiken des Bundesamtes belegt. Einige Beispiele:

Der Anhörer unterbricht den Flüchtling ständig und hält ihn zu kurzen Antworten an, so daß eine zusammenhängende Fallschilderung unmöglich wird.

  • Der Grundsatz des rechtlichen Gehörs verlangt, daß dem Flüchtling der Inhalt der für die Entscheidung herangezogenen Auskünfte dritter Stellen mitgeteilt wird, damit er dazu Stellung nehmen kann. Dieser Grundsatz wird mißachtet.
  • Ist die Auskunftslage widersprüchlich, legt das Bundesamt häufig für seine Entscheidung die dem Flüchtling ungünstigste Auskunft zugrunde. Günstigere Informationen werden, auch wenn sie dem Bundesamt zugänglich sind, nicht erwähnt.
  • Das Bundesamt zitiert zur Begründung der Ablehnung veraltete Auskünfte oder Auskünfte, die über eine ganz andere Situation Auskunft geben.
  • Eine Beweiserhebung findet auch dann nicht statt, wenn Beweise sich förmlich aufdrängen. Besonders tragischer Fall: Obwohl ein Flüchtling sichtbare Verletzungen aufwies, wurde seinem Bericht über erlittene Folter nicht nachgegangen.
  • Das Bundesamt legt die Nichterwähnung bestimmter Umstände als Unkenntnis aus, obwohl in der Anhörung nach ihnen überhaupt nicht gefragt worden ist.
  • Lassen sich weder die Glaubwürdigkeit des Flüchtlings noch die Möglichkeit der Verfolgung aufgrund der geschilderten Ergeignisse in Zweifel ziehen, greift das Bundesamt oft zu dem Argument, der Flüchtling sei nicht bedeutend genug, als daß es sich für seine Regierung lohne, ihn zu verfolgen.

Für die betroffenen Asylbewerber waren die Mängel der Befragungs- und Entscheidungspraxis irreparabel, da auch die Verwaltungsgerichte in den jeweiligen Eilverfahren die nötigen Ermittlungen nicht nachholten. Alle Flüchtlinge wurden nach Nigeria zurückgewiesen. Was dort mit ihnen geschah, ist unbekannt.


Nach oben