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12.01.1998

In einem Land namens „Transitfiktion“.

Mitten in Deutschland und doch nicht hier:
Ein Gang durch die Flüchtlingsunterkunft am Flughafen Frankfurt.

Frankfurter Rundschau
Von Pitt von Bebenburg


Es ist Neuschwanstein, König Ludwigs Schloß inmitten wilder Alpenromantik. Ein Stück Deutschland, in 2.500 Teile geschnitten. Der junge Mann in schwarzem Anzug und buntem Hemd breitet sie langsam auf dem ehemals weißen Resopaltisch vor sich aus. Ob Teile fehlen, wird der Kurde erst in vielen Stunden wissen, wenn das deutsche Idyll sich seiner Vollendung nähert; und es ist gut, daß es so lange dauert. Der junge Mann hat Zeit.

Ein paar Meter neben seinem Tisch spielen zwei Männer unkonzentriert ein paar Bälle über die Tischtennisplatte hin und her. Es sind Algerier. Sie wirken ausgepowert, auch wenn sie die rot-blauen Trikots von Bayern München tragen, dem deutschen Fußballmeister.

Bayerische Schlösser, bayerischer Fußball: Ein bißchen Teilhabe an Deutschland suchen die Ausländer in dem stickigen Raum, der Flüchtlingsunterkunft am Frankfurter Flughafen. Wer in dieses Gebäude C 182 kommt, will nach Deutschland, ist aber nicht in Deutschland, rechtlich gesehen. Wenn die Bewohner aus dem nicht zu öffnenden Fenster schauen, können sie die Worte „Frankfurt/Main“ am Terminal erblicken; aber da befinden sie sich nach Auffassung der Juristen nicht. Fachleute haben für diese gleichzeitige An- und Abwesenheit das schöne Wort „Transitfiktion“ erfunden.

„Das erste, was die begreifen müssen, ist, daß sie nicht in Deutschland sind“, stellt der Bayer mit den hochgekrempelten Hemdsärmeln fest: „Die Flucht ist keineswegs zu Ende, sondern höchstens die touristische Komponente.“ Clemens Niekrawitz weiß, wovon er spricht. Er ist Leiter des Flughafensozialdienstes, zu dem die Flüchtlingsunterkunft gehört.

Dieses Land namens „Transitfiktion“ ist noch jung. Gegründet wurde es 1993 von den Koalitionsparteien und der SPD mit ihrem „Asylkompromiß“. Seitdem kommen die meisten Asylbewerber, die per Flugzeug landen, in ein Schnellverfahren, das nach drei Wochen beendet sein soll – das sogenannte „Flughafenverfahren“. Nur wer einen gültigen Paß besitzt – das ist nach Angaben des Bundesgrenzschutzes nicht einmal jeder zehnte -, darf gleich einreisen. Andere werden noch vor dem Flughafenverfahren gestoppt: Wenn sie zuletzt am Airport eines „sicheren Drittstaates“ waren, schickt sie der BGS gleich dorthin zurück.

Während das Flughafenverfahren läuft, dürfen die Flüchtlinge nicht einreisen, sondern bleiben im Gebäude C 182. Obwohl das Gesetz die Drei-Wochen-Frist vorschreibt, dauerte der Aufenthalt in der Unterkunft in den vergangenen beiden Jahren für etwa hundert Flüchtlinge länger als 25 Tage. Einer mußte 268 Tage in dem ehemaligen Frachtgebäude verbringen. Der Grund: Meistens fehlen Papiere, und das Herkunftsland weigert sich, die Betroffenen zurückzunehmen.

Zwar hat das Oberlandesgericht eine lange Aufenthaltsdauer verboten. Doch der Bundesgrenzschutz umgeht die Bestimmung mit einem Kniff: Asylbewerber läßt er eine „Freiwilligkeitserklärung“ für ihren Aufenthalt unterschreiben. Flüchtlingsbetreuer erzählen, dabei werde zuweilen Druck ausgeübt – mit der Behauptung, man müsse unterschreiben oder wandere gleich ins Gefängnis. Der Bundesgrenzschutz betont dagegen, die Flüchtlinge würden „ganz sachlich“ mit Hilfe von Dolmetschern informiert – und könnten ihre Erklärung auch jederzeit wieder rückgängig machen.

Als gravierenden Mangel hat das Bundesverfassungsgericht im Mai 1996 herausgestellt, daß Flüchtlinge im Flughafenverfahren keine Rechtsberatung bekommen. Auch anderthalb Jahre nach dem Asylurteil hat sich an dieser verfassungswidrigen Situation nichts geändert. „Pro Asyl“ hat jetzt provokativ darauf aufmerksam gemacht, indem es die Beratung in den ersten beiden Monaten des neuen Jahres bezahlt und dies als „Weihnachtsgeschenk für Manfred Kanther“ bezeichnet, der eigentlich für ein entsprechendes Handeln zuständig sei. Aber das Thema Asyl hat keine Konjunktur: Der Mißstand erregt in der politischen Öffentlichkeit kaum Aufsehen.

Dabei hat er beträchtliche Auswirkungen, wie Clemens Niekrawitz erläutert. Denn: „Es gab keinen Fall, in dem ein Flüchtling ohne Anwalt die Einreise erlangt hat.“ Etwa jeder Dritte bringt nach seiner Schätzung genug Geld mit für einen Anwalt oder hat hier Verwandte, die ihm helfen. Bei den anderen müssen sich die Flüchtlingsbetreuer irgendwie um Rechtsbeistand kümmern – eine Aufgabe, für die sie weder ausgebildet sind noch die Mittel haben. Die Kirchen, die den Sozialdienst tragen, springen zwar mit Geld ein wie „Pro Asyl“ oder der UN-Flüchtlingskommissar. Aber es reicht nicht. So lesen die Sozialbetreuer Akten, um diejenigen auszudeuten, für die sie im Verfahren die besten Chancen sehen – eine Aufgabe, bei der Nicht-Juristen wie der Diplom-Pädagoge Niekrawitz und seine Kollegen sich sehr unwohl fühlen.

Das – für manche monatelange – Leben in der „Transitfiktion“ ist zermürbend. Für die meisten Asylbewerber, von denen viele aus der Verfolgung geflohen sind, ist die erneute Unsicherheit über die eigene Zukunft das schlimmste. Flüchtlinge in ihrer Extremsituation schreiben Abschiedsbriefe, verschlucken Rasierklingen, schneiden sich die Pulsadern auf, machen mit Hungerstreiks auf sich aufmerksam. Dann nimmt auch die Öffentlichkeit ausnahmsweise Notiz vom Leben in den elf stickigen Schlafsälen und in den beiden Aufenthaltsräumen.

Der Platz im ehemaligen Frachtgebäude reicht für 70 Menschen; in einer benachbarten Notunterkunft gibt es noch einmal etwa 80 Betten. Aber auch das genügte schon zweimal nicht, als plötzlich mehr als 200 Menschen unterzubringen waren, zuletzt vor einem Jahr.

Lüften kann man nirgends wegen Fluchtgefahr. Zweimal am Tag dürfen die Insassen raus aus dem Muff. Dann fährt der BGS-Bus quer über den Flughafen auf das Gelände der US-Air Base. Zu einer Wiese, die mit Stacheldraht umzäunt ist. Es gibt vier Bäume und Sträucher dort, eine Tischtennisplatte und eine überdachte Sitzbank. Der Flughafen-Sozialdienst nennt das Areal „Freiganggelände“. Wie in einem Gefängnis. Da trifft er sich mit der Auffassung des Frankfurter Oberlandesgerichts. Die Richter kamen nach einer Ortsbesichtigung zu dem Schluß, die Räumlichkeiten in C 182 seien „abgeschlossen und so eng begrenzt, daß sie als Hafträume im Sinne des Gesetzes anzusehen sind“.

Der kleine Ibrahim ist bei unserem Besuch der Sonnenschein des Hauses, aber wer weiß, wie lange er bleibt. Zwischen dem Puzzleleger und den Pingpongspielern rennt der achtjährige Junge aus Eritrea in seinem gebügelten bunten Leinenhemdchen herum und versucht, mit den Lippen zu schnalzen. Um den kaputten Fernseher und die beiden Telefonapparate herum steht eine Gruppe von Tamilen. Sie machen Ibrahim vor, wie man ein Geräusch hinkriegt. „Das sind die besten Spiele“, sagt Niekrawitz: „Dafür braucht man nichts, und es ist umsonst!“

Ibrahims wache braune Augen haben nicht allzuviel von diesem Land gesehen, in das seine Eltern mit ihm geflüchtet sind. Die Beton-Rollbahn, wo die Familie von Uniformierten des Bundesgrenzschutzes als Flüchtlinge erkannt wurde. Das Innere des VW-Busses, der sie zu den Räumen der Beamten gebracht hat, zur „grenzpolizeilichen Erstbefragung“. Und dann, direkt nebenan, dieses unansehnliche frühere Frachtgebäude. Durch die dreckigen Fenster – man kann zwischen den Scheiben der Doppelfenster nicht putzen – erblickt der kleine Eritreer vor allem Wellblechwände, drei Meter hoch. Darüber lugen zuweilen die Flossen von Lufthansa-Jets hervor. Auch auf den Bildern, die die Kinder malen, tauchen immer wieder Flugzeuge auf; sie sind oft das Bunteste in der Erinnerung.

Wolfgang Grenz, Asylexperte von amnesty international, stellt die Grundsatzfrage: „Muß das sein, daß Leute unter gefängnisähnlichen Bedingungen leben müssen?“ Der Aufwand und die unwürdigen Bedingungen für die Betroffenen stünden in keinem Verhältnis zum Ergebnis, argumentiert Grenz. Von den 2.180 Flüchtlingen, die im Jahr 1997 kamen, konnten die allermeisten – etwa 80 Prozent – innerhalb der Drei-Wochen-Frist einreisen. „Da fragt man sich, warum macht man das überhaupt?“ sagt er.

Ibrahim hat dem Zivildienstleistenden überraschend echt auf deutsch nachgeplappert: „Bis gleich!“ Dann sind wir mit Clemens Niekrawitz über den Flughafenbeton zurückgelaufen, durch die eine oder andere Kontrolle hindurch. Nach der Drehtür von „Tor 12“ haben wir die „Transitfiktion“ verlassen. „Jetzt sind wir wieder in Frankfurt“, sagt Niekrawitz.


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