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TAG DES FLÜCHTLINGS 2000

»In diesem Garten kann ich reisen«

Annette Volland

Herausgegeben zum Tag des Flüchtlings am 29. September 2000

Herausgeber: PRO ASYL, Arbeitsgemeinschaft für Flüchtlinge mit freundlicher Unterstützung von: Deutsche Stiftung für UNO-Flüchtlingshilfe e.V., Deutscher Caritasverband e.V., Interkultureller Beauftragter der Ev. Kirche in Hessen und Nassau, Kirchlicher Entwicklungsdienst der Evangelischen Kirche in Deutschland durch den ABP, Land Hessen.

Der Tag des Flüchtlings findet im Rahmen der Woche der ausländischen Mitbürger/Interkulturellen Woche (24. bis 30. September 2000) statt und wird von PRO ASYL in Zusammenarbeit mit dem Ökumenischen Vorbereitungsausschuß zur Woche der ausländischen Mitbürger vorbereitet.

INHALT

Beispiele und Anregungen

Bosnische Frauen pachteten 1996 in Göttingen ein Stück Land. Heute pflanzen und säen vierzig Familien aus 14 Ländern in den Internationalen Gärten in Göttingen. Und die Sache trägt immer mehr Früchte.

Es ist ein harter Brocken Erde, den Tassew Shimeles in seinen Händen hält. Der groß gewachsene Mann hockt am Rande eines kargen Ackerstücks und bricht mit Kraft den trockenen, grauen Klumpen. Im Inneren sieht man jetzt kleine schwarze Stellen. »Der schlechte Boden ist unser größtes Problem«, erklärt Shimeles und weist mit dem Fin- ger aufs Schwarze: »Das ist der Kom- post, den wir im letzten Jahr als Dünger untergegraben haben. Aber er hat nichts gebracht. Ohne Mutterboden können wir hier nichts werden.«

Geben und nehmen

Der neue Teil der Internationalen Gärten, auf dem der 44-jährige Agraringenieur und sieben andere aus der Gruppe an diesem Juni-Nachmittag arbeiten, liegt an einem Grashang hinter dem Gemeindezentrum Göttingen-Geismar. Unten trennt eine Hecke die Wiese von einem Schulhof. Rechts und links führen Straßen im sanften Bogen den Hügel hinauf. Aber nur selten brummt ein Auto vorbei, Vögel singen, ein paar Insekten surren im Gras. In der Mitte der Wiese warten feingeharkte Beete auf erste Sämereien: Mutterboden, den Tassew Shimeles in vielen Telefonaten organisiert hat. Als Gegenleistung konnte die Spender-Firma Abraum in einer Mulde auf dem Gelände loswerden – woanders hätte sie dafür bezahlen müssen.

»Wir wollen nicht bloß die Empfänger von etwas sein, wir geben auch zurück«, sagt Shimeles. Der Satz meint nicht nur diesen einen gelungenen Deal. Er ist Projekt-Philosophie. Praktisch funktioniert er zum Beispiel so: Stadt und Kirchengemeinden stellen Brachland zur Verfügung, die Gartenfrauen und -männer pflegen und bepflanzen es und mähen für den Besitzer die angrenzende Wiese auch noch mit.

»Plock…, plock…« – neben dem Holzschuppen, der Hacken, Harken und Spaten beherbergt, wirft die diplomierte Arabistin Najeha Abid handtellergroße Steine vom Sammelhaufen in einen Plastikeimer. »Die Steine haben wir hier im letzten Jahr mit den Händen aus dem Boden geklaubt«, erzählt Shimeles und lächelt: »Eine Sauarbeit. Hat uns zwei Monate beschäftigt.«

Najeha Abid trägt den gefüllten Eimer zu ihrer Parzelle. Erst seit einer Woche pflanzt und sät sie auf diesem Stück, aber schon duftet die Pfefferminze und sprießen erste Kressetriebe. Wie ein Mosaik legt die Frau jetzt die Steine auf den schmalen Weg zwischen die handtuchgroßen Beete. »Darunter trocknet die Erde nicht so schnell.«

Ableger, Vokabeln, Rezepte

Najeha Abid ist im Irak geboren, Hajat Ardjomande in Persien und Tassew Shimeles in Äthiopien. Zur Gruppe gehören Kinder aus Sri Lanka und eine alleinstehende Rentnerin aus Russland, man trifft Menschen jeder Altersstufe und jeden Bildungsgrads aus insgesamt 14 Ländern, auch ein paar Deutsche. Sie tauschen Ableger, Vokabeln und Rezepte, machen sich über weiß getünchte deutsche Mülltonnen lustig und lernen voneinander, wie tief man Samenkörner in die Erde legen muss.

Viele, die an diesem Nachmittag im neuen Garten in Geismar arbeiten, pflanzen und ernten auch in Hetjershausen, einem dörflichen Vorort am anderen Ende der Stadt. Wo seit zwei Jahren Johannisbeeren, Mangold, Kohl, Zwiebeln, Koriander und mindestens fünf verschiedene Sorten Pfefferminze gedeihen, wollen sie jetzt Ableger für Geismar holen. Fast zwanzig Minuten geht es auf kurdisch, iranisch und deutsch hin und her zwischen den Beeten, manchmal mit zwei bis drei Übersetzungsstufen, dann ist die Sache klar: Es gibt zwei Autos, alle fahren mit. Auch die Kinder natürlich.

Kräuter gegen Heimweh

Mehr Frauen als die Polizei erlaubt drängeln sich lachend in Shimeles alten Golf. Der Agraringenieur ist die AB-Kraft des 1998 gegründeten Vereins Internationale Gärten e.V. und die »Integrationsfigur«, wie er selber sagt. Neben seiner Organisationsarbeit für vier Gärten und vierzig Familien bewirtschaftet er ein Hetjershauser Beet – dienstlich sozusagen –, aus dem sich alle bedienen dürfen. In Hetjershausen und Geismar gärtnern sonst vor allem die Frauen.

Zum Beispiel Hajat Ardjomande, seit 32 Jahren in Deutschland. Die energiesprühende Perserin guckt auch im Spanien-Urlaub ganz genau, wie man dort Tomaten hält. Seit vier Jahren ackert sie in »den Gärten«, obwohl sie einen eigenen hinter dem Haus hat. »Wir haben hier so viel Spaß!«, ruft sie strahlend. »Es sind immer viele Leute da. Und hier wachsen Kräuter, die man sonst in Deutschland nicht findet. Das hilft alles wunderbar gegen Heimweh!«

Die resolute Frau guckt der AB-Kraft auf die Finger: »Shimeles«, schimpft sie und stupst ihn an der Schulter, »verschenk nicht die ganze Pfefferminze!« Der Agraringenieur schüttelt sich vor Lachen. Er weiß, wie verrückt die Frau mit ihrer Pfefferminze ist.

Handfeste Leute

Der Garten in Duderstadt ist fest in Männerhand. »Interessanterweise eine ganz andere Atmosphäre«, überlegt Shimeles, der als Wanderer zwischen den Gärten vergleichen kann. »Da geht es mehr um Leistung und Ergebnis. – Wahrscheinlich auch darum, sich als Ernährer zu beweisen.« Viele der Männer, von Haus aus gewohnt, die Familie zu versorgen, dürfen in Deutschland nicht arbeiten. Ein Amt versorgt die Familie. Seit es den Garten gibt, ziehen die Männer Kohlköpfe, Kräuter, Äpfel, Bohnen und Zwiebeln heran. Die legen sie ihren Familien stolz auf den Tisch.

»Eins ist ganz wichtig«, darauf dringt Koordinator Shimeles zweimal an diesem Nachmittag, »Antrieb für unser Projekt war keine Institution, auch wenn uns die Kirchengemeinden jetzt sehr unterstützen. Die Sache ist nicht auf dem Papier entstanden. Wir haben einfach angefangen.« Dass aus den Gärten Sprach- und Alphabetisierungskurse in der Evangelischen Erwachsenenbildungsstätte erwachsen sind, ein älterer Mann zuerst deutsch, dann lesen und schreiben gelernt hat und jetzt einen Computerkurs besucht – das alles ist sinnvoll. Deswegen wird es gemacht.

Wer hier im Garten nach einem amtlich abgestellten Sozialarbeiter oder Seelsorger Ausschau hält, kann lange suchen. Diese Leute helfen sich selbst. Sie sind aber geduldig mit denen, die mal vorbei kommen, um sich etwas abzugucken. Jetzt im Sommer sind es drei Besuchergruppen in der Woche; das kostet Zeit und wohl auch Nerven. »Ist nur schade, dass man von den meisten nie wieder was hört«, grinst Hajat Ardjomande. Auf dem Papier und im Formulieren seien viele zwar sehr gewandt.

Aber hinter bunten Broschüren und langen Konzepten steckt oft zu wenig, finden die Gartenfrauen und -männer: »Wir sind handfeste Leute geworden.«

Es wächst

Die Idee, gemeinsam einen Garten zu bearbeiten, hatten bosnische Frauen. Als Flüchtlinge in Deutschland vermissten sie ihre Gärten, die zu Hause selbstverständlich waren. 1996 taten sie sich mit iranischen, deutschen, kurdischen, einer afghanischen und der äthiopischen Familie Shimeles zusammen und pachteten ein Grundstück. »Die Frauen haben von Gartenarbeit wirklich was verstanden. Sie sind aber nicht mehr da. Jetzt müssen wir alleine klar kommen«, sagt Najeha Abid. »Wir hatten fast alle keine Ahnung. Zu Hause hatten wir zwar auch Gärten, aber um die haben sich Gärtner gekümmert.«

»Als Kind hab’ ich unter den Palmen im Garten gesessen und im Vorbeilaufen Aprikosen und Orangen gepflückt«, erzählt Temather Widaa. »Wie viel Arbeit ein Garten macht, wusste ich nicht.« Die 37-jährige war Sekretärin in einer Bank in Bagdad, bevor sie vor acht Jahren nach Deutschland kam. »Mein Sohn war nach dem Krieg vom Giftgas sehr krank. Ich habe gespart, um mit der Familie nach Deutschland zu fahren. Hier gibt es die beste Medizin. Es war aber schon zu spät. Mein Sohn ist gestorben.«

Temather Widaa hat selbst viel Gift im Körper. Wahrscheinlich ist das der
Grund dafür, dass sie nicht wieder schwanger werden kann – trotz deutscher Medizin. »Ich kann so nicht nach Hause«, sagt sie. »Mit leeren Händen, verstehst du?« Sie isst nur biologisch angebautes Gemüse, Chemie verwendet sie nicht, schon gar kein Gift. »Ich bin immer hier im Garten, wenn die Sonne scheint. Es ist so schön zu sehen, wie alles wächst und was es bei den anderen gibt. In diesem Garten kann ich reisen.« Auf der Erde hockend sät sie gerade Koriander aus einer großen Tüte, Pfefferminze und Maggikraut hat sie gestern gepflanzt. Gar keine Blumen? »Nö«, sagt sie zweifelnd, »die sind schön, aber nicht nützlich. Bei uns pflanzte man nur, was Früchte trägt.«

In Hetjershausen sitzen die Frauen nach der Arbeit unter einem alten Baum, während die Kinder über die Wiese toben oder den geduldigen Herrn Shimeles mit Fragen beschäftigen. Es gibt Tofubällchen mit Pfefferminze und Petersiliensalat, man erzählt und lacht, Fotos machen die Runde. »Hier sind wir raus aus der Wohnung – diesem Käfig«, ruft Nejah Abid und rangelt mit der achtjährigen Tochter Susan. Temather Widaa sieht lächelnd zu. Sie betreut Susan und die anderen Kinder, wenn Nejah Abid die Frauen im Alphabetisierungskurs unterrichtet.

Das Jahrbuch 1999/2000 »Ältere Menschen – Vergessene Flüchtlinge« der Deutschen Stiftung für UNO-Flüchtlingshilfe widmet sich aus Anlass des »Internationalen Jahres der Älteren Menschen«, dem Schicksal älterer Flüchtlinge. Die besonderen Bedürfnisse von älteren Menschen, die Krieg, Verfolgung, den Verlust der Heimat und die Flucht schwerer ertragen als jüngere Menschen, werden in Programmen für Flüchtlinge und in der staatlichen Flüchtlingspolitik zu wenig berücksichtigt.

Neben der Darstellung der Problematik und der Arbeit mit älteren Flüchtlingen aus internationaler Sicht machen Erfahrungsberichte über ältere bosnische und afghanische Flüchtlinge in Deutschland, die Bedürfnisse älterer Menschen in der Fremde, insbesondere ihre langfristige Versorgung und soziale Absicherung deutlich. Berichte über die Betreuung in Deutschland oder die Hilfe bei der Rückkehr ins Heimatland zeigen Möglichkeiten der Unterstützung älterer Flüchtlinge auf.

Das Jahrbuch »Flucht« der Deutschen Stiftung für UNO-Flüchtlingshilfe konzentriert sich in jedem Jahr auf einen unterschiedlichen Schwerpunkt. In den letzten Jahren waren darunter u.a. die Situation von Frauen auf der Flucht oder die Flüchtlingssituation in Afrika. Berichte aus den Herkunfts- und Aufnahmeländern, Flüchtlingsschicksale in Geschichte und Gegenwart und Reaktionen von Politik und Justiz in Deutschland werden von Experten in leicht lesbarer Form dargestellt. Von Willy Brandt bis Rigoberta Menchú reichen die Namen der Autorinnen und Autoren, die zu den Jahrbüchern beigetragen haben – Menschen, die sich für das Schicksal von Flüchtlingen engagieren.

Die Jahrbücher sind im Buchhandel oder über den Ost-West- Verlag, Postfach 1145, 53581 Bad Honnef, erhältlich.

Jahrbuch 1999/2000
»Ältere Menschen – Vergessene Flüchtlinge«, ISBN 3-931332-15-2, 94 Seiten, 19,80 DM

aus: »betrifft«, 3/99, herausgegeben
von der Ausländerbeauftragten des Landes Niedersachsen

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