TAG DES FLÜCHTLINGS 1997
»Ich bin ein Mißbraucher«
Zur deutschen Politik der Entdemokratisierung und Entsolidarisierung
Heribert Prantl
INHALT
- Grußwort der Vertreterin der Hohen Flüchtlingskommissarin der Vereinten Nationen (UNHCR) in der Bundesrepublik Deutschland
- Ich bin ein Mißbraucher
- Juristisch wegdefiniert
- Europa nutzt die baltische Sehnsucht nach neuen Grenzen – eine Reportage aus Litauen
- Informelle Zusammenarbeit – Tor zu für Flüchtlinge
-
ABSCHIEBEHAFT
- Weggesperrt zum Abtransport
- »Gib dem Herrn die Hand, er ist ein Flüchtling«
- Sachsens evangelischer Bischof besuchte Abschiebungshäftlinge in Leipzig
- In Lumpen gehüllt
- FRAUEN
- »Verfolgte Frauen schützen!«
- Geschlechtsspezifische Menschenrechtsverletzungen
- Europaparlament: Asylpolitik muß der Lage von Frauen Rechnung tragen
- KIRCHENASYL
- Zur Notwendigkeit des »Kirchenasyls«
-
BEISPIELE UND ANREGUNGEN ZUM TAG DES FLÜCHTLINGS 1997
- Anregungen zum Tag des Flüchtlings 1997
- Dem Gedächtnis der Namenlosen
- Eine Verkettung unglücklicher Umstände? oder »Der Trend geht zur Urne«
- Der Tod eines unbedeutenden Mitläufers
- »Abgeschobene erwartet ein gefährliches Folterpotential«
- Die Härtefallkommission
- Illegalisierte Flüchtlinge
Es gibt sogenannte Asyl-Mißbraucher und sogenannte Sozial-Mißbraucher, es gibt die Mißbraucher jedweden Grundrechts. Mißbrauch – das Wort hat Hochkonjunktur in der politischen Sprache. Und die Politik hat alle Hände voll zu tun, immer wieder neuen Mißbrauch zu erfinden.
Denn: Deutschland befindet sich im Stadium der Umwandlung. Aus der Bundesrepublik Deutschland wird die Standort Deutschland Aktiengesellschaft. In dieser AG zählt historische Verantwortung zu den Altlasten, zu entsorgen auf der Deponie für Sondermüll. Wer bei der Umwandlung nicht funktioniert, wer dabei stört oder gar wer Widerspruch erhebt, der ist, wie gesagt, ein Mißbraucher.
Mißbraucher – das ist die Bezeichnung für Menschen, die sich angeblich zu viel herausnehmen. Der Standort Deutschland wird, so behaupten Vorstand und Aufsichtsrat der Standort Deutschland AG, bedroht von den Menschen, die dort leben und von den Grundrechten, die diese in Anspruch nehmen.
Der bloße Gebrauch dieser Rechte sei ein Mißbrauch und gefährde die Produktivität des Standorts Deutschland. Die Zeiten, in denen das politische Motto »mehr Demokratie« hieß, sind lange her. Es ging um Chancengleichheit, soziale Gerechtigkeit, um Toleranz und Akzeptanz, um Schutz und Hilfe für die Schwachen.
Jetzt geht es um »mehr Wachstum«, und dieses Wachstumsprogramm wird begleitet von Kampagnen, die suggerieren, das Land sei bevölkert von Millionen von Nichtsnutzen und Schmarotzern, von Kampagnen, die versuchen, den Skandal der Massenerwerbslosigkeit zu relativieren.
In der gegenwärtigen politischen Debatte ist »mehr Wachstum« das Tarnwort für eine Bereicherungssucht, die immer mehr Menschen an den Rand drängt und ihnen das Gefühl eintrichtert, an ihrem Schicksal selbst schuld zu sein.
Das Wort Gemeinwohl sprechen die Propagandisten des Wachstums mit sichtbarem Ekel aus. Gemeinwohl – das ist für sie das Synonym für einen angeblich leistungsfeindlichen Zeitgeist, ein Wort, mit dem die Bequemen und Faulen verschleiern, wie unverschämt sie den Leistungsträgern in die Tasche greifen.
Am Standort Deutschland gibt es aber nicht nur die angeblichen Asyl- und die Sozial-Mißbraucher.
Es gibt die angeblichen Mißbraucher der Meinungsfreiheit, die Soldaten als Mörder bezeichnen. Es gibt die angeblichen Mißbraucher der Demonstrationsfreiheit, die zu Zigtausenden gegen Gorleben oder gegen das Sparpaket protestieren. Es gibt die Schwulen und Lesben, die heiraten wollen und schon mit dieser Absicht und Forderung angeblich den Schutz der Ehe und Familie mißbrauchen. Es gibt die Wehrdienstverweigerer, die, sobald sie zu zahlreich werden, angeblich Sicherheitsrisiko und Mißbraucher der Gewissensfreiheit sind. Es gibt die angeblichen Mißbraucher der Glaubensfreiheit, die sich gegen die staatlich verordnete Anbringung von Kruzifixen im Klassenzimmer wehren. Es gibt die angeblichen Mißbraucher der Pressefreiheit, die Unregelmäßigkeiten in Staat und Verwaltung aufdecken, dabei Dienstgeheimnisse verletzen und deshalb von Polizei und Staatsanwaltschaft durchsucht werden. Im Strafverfahren gibt es immer mehr angebliche Mißbraucher der Unschuldsvermutung, weil Beschuldigte einfach nicht gestehen wollen, daß sie schuldig sind.
Überhaupt: Wer sich auf seine Grundrechte und Grundfreiheiten beruft, der macht sich neuerdings verdächtig. Ein guter Standort-Bewohner hat das nämlich nicht nötig. Er hat nichts zu verbergen und nichts zu befürchten. Wer sich also auf seine Rechte beruft, der wird schon wissen, warum. Er ist per se ein Risiko.
Wer sich auf seine Rechte beruft, der ist per se ein Risiko
Auf diese Weise wird jeder Mensch zum potentiellen Mißbraucher. Die wahren Mißbraucher freilich sind die, die am lautesten über den angeblichen Mißbrauch der Grundrechte klagen.
Erinnern wir uns an die Kruzifix-Kampagne in Bayern. Zu eben dieser Zeit wurden in bayerischen Verwaltungsbehörden Abschiebehaftbefehle gegen die drei- und vierjährigen Kinder der kurdischen Flüchtlingsfamilie Simsek beantragt. Ach würden doch die Kreuze, die in diesen Amtsstuben hängen, dabei von der Wand fallen.
Und so wird der angebliche Mißbrauch mißbraucht, um die Grundrechte einzuschränken. Die Politik der Entde-mokratisierung geht mit der Politik der Entsolidarisierung Hand in Hand. Konservative Politiker klagen gerne über den Verlust des Gemeinsinns. Dabei war es auch ihre Politik, die humanitäre Solidarität preisgegeben hat.
Nirgendwo ist die Entsolidarisierung, die staatlich organisierte Entsolidarisierung so schrecklich weit gediehen wie in der Flüchtlings- und Asylpolitik.
Damit fing es an.
Wenn heute darüber geklagt wird, wie der Staat mit Sozialhilfe-Empfängern, Arbeitslosen, Alleinerziehenden, Kranken und Behinderten verfährt und wie wenig Widerstand das findet, dann muß man, um dies zu erklären, auf die Flüchtlings- und Asylpolitik der letzten zwanzig Jahre eingehen. In der Asyldebatte wurde das Wort Humanität zum Schimpfwort. »Humanitätsduselei« war noch das Mildeste, wer für Schutz und Hilfe warb, wurde ausgelacht.
Wer die Logik der Debatte umzudrehen versuchte, wer also den »kritischen Dialog« des Menschenrechtsverwalters Kinkel kritisierte, also nicht die kurdischen Flüchtlinge, sondern die deutschen Waffenlieferungen in die Türkei zum Thema machte, der wurde (und wird!) als politischer Romantiker und ewiger Moralist belächelt.
Moral geriet zum Schimpfwort. Gleichwohl: Politik ohne Moral ist unmoralische Politik.
Wer das Grundrecht erhalten wollte, wurde beschimpft.
Wer dagegen Flüchtlinge Schmarotzer nannte, konnte mit donnerndem Applaus rechnen.
Das neue Asylrecht ist die Manifestierung der Entsolidarisierung
Man tat so, als sei der Artikel 16 ein Privileg für sogenannte »Asylschwindler« und ein gefundenes Fressen für alle Armen dieser Welt. Man machte ihn zum Sündenbock und bürdete ihm so lange Lasten auf, bis er zusammenbrach.
Artikel 16 und die Flüchtlinge waren an allem Schuld, sogar noch daran, daß die Asylbewerber-Heime brannten. So konnte das alte Asylrecht entsorgt werden.
Kaum waren die alten Mauern zwischen Ost und West gefallen, hat der Westen neue Mauern errichtet, sie heißen Schengen, sie bestehen aus Paragraphen, aus Infrarot, Nachtsichtgeräten, Hubschraubern und über fünfzehntausend Grenzschützern – an der deutschen Ostgrenze, der bestbewachten Grenze in Europa. Weil man den Reichtum nicht teilen wollte, hat man sich eingemauert – in der Hoffnung, so bleibe der Wohlstand drinnen und die Armut draußen.
Das neue Asylrecht ist die Manifestierung der Entsolidarisierung. – Ist es Zufall, daß mit der Abschottung nach außen die Aufrüstung nach innen einhergeht? Starker Staat: Das Grundrecht der Unverletzlichkeit der Wohnung steht zur Disposition. Die Trennung von Polizei und Geheimdienst gilt nicht mehr als zeitgemäß. Das Wort »organisierte Kriminalität« wird benutzt wie ein Generalschlüssel, der alles aufsperrt – jedes Tabu, jedes Grundrecht.
Das Rechtsschutz-System, aufgebaut in den letzten 45 Jahren, wird aufgeweicht. Und was dabei national nicht schnell genug durchzusetzen ist, wird über Europa erledigt. In Den Haag, in der Zentrale von Europa, verschwindet zum Beispiel das Recht auf informationelle Selbstbestimmung.
Im starken Staat kommt der Schwache zuletzt.
Bei den Flüchtlingen wurde die Politik der Entsolidarisierung eingeübt. Opfer waren die Rechtlosesten unter den Rechtlosen. Jetzt folgen die anderen. Erst war jeder Flüchtling ein potentielles Risiko für die Stabilität des Gemeinwesens. Jetzt werden andere Schwache und Schutzbedürftige, Ausländer, Minderheiten zu einem potentiellen Risiko für die Leistungsfähigkeit der Volkswirtschaft deklariert.
Bundesverfassungsrichter Dieter Grimm definiert im Evangelischen Staatslexikon das Solidaritätsprinzip so: »Es verteidigt den Wert des Individuums unabhängig von seiner Sozialnützlichkeit.« Wie dieser Wert vom Staat »verteidigt« wird, das können Sie vor allem in den Abschiebegefängnissen der Republik besichtigen.
Sie können auch in das Sparpaket schauen oder in die jüngsten Reformen der Sozialhilfe – und dort weitere Beispiele für organisierte Verweigerung von Solidarität finden: Künftig werden fast 30 Prozent der Bewohner von Pflegeheimen ganz ohne Pflege bleiben. Wer morgen durch einen Unfall gelähmt wird und rund um die Uhr Pflege benötigt, der darf nicht mehr entscheiden, wie er leben möchte,ob im Heim oder zu Hause. Ausgrenzung wurde zum Gesetz, aus Kostengründen wird geistig Behinderten und desorientierten alten Menschen die notwendige Hilfe verweigert. Behinderte werden verschoben: für die Pflegeversicherung sind sie zu teuer.
Die Frage nach den Kosten steht über der Menschenwürde. So ist das also, wenn sich die Politik mit dem Bundesverband der Industrie solidarischer fühlt als mit denen, die Hilfe wirklich brauchen. Sicherlich: die Beschränkung der Lohnfortzahlung allein treibt niemand in die Armut, aber sie ist ein Steinchen in einem großen politischen Puzzle der Ungerechtigkeit, das die Opfer der Krise zu Tätern macht, am unteren Viertel zuallererst spart und das wohlhabende Fünftel der Bevölkerung schont und entlastet.
Die Kampagne gegen Asyl und Asylbewerber hatte einen Gewöhnungseffekt: Ein Teil der Gesellschaft hat die radikalste Form der Ausgrenzung, nämlich die Ausweisung und Abschiebung, akzeptiert und goutiert, ja gefordert. Ein Teil der Gesellschaft hat sich daran gewöhnt, bestimmte Grundrechte als Luxus zu betrachten.
Für den Staat ist soziale Gerechtigkeit nicht mehr Gebot, sondern Zugabe, die man sich nur in besseren Zeiten leisten könne und die Zeiten seien nun leider mal nicht so.
Die Bedürftigen haben die Anerkennung ihrer eigenen Bedürftigkeit verloren
Um nicht mißverstanden zu werden: Nicht jeder Empfänger von Sozialhilfe, der sich vielleicht mit Schwarzarbeit ein Nebeneinkommen verschafft, ist ein Armer. Arme in Deutschland verhungern nicht; sie sind aber exkommuniziert aus einer Welt, die sich nur den einigermaßen Gutsituierten entfaltet. Es ist unzulässig, die deutschen Armen mit den Elenden in Kalkutta zu vergleichen – denn Obdachlose im U-Bahnschacht können sich an solcher Relativitätstheorie nicht wärmen.
Verglichen mit dem Elend in Kalkutta sind die deutschen Armen komfortabel ausgestattet. Und daraus ergibt sich vielleicht das besonders Bittere für die Bedürftigen in Deutschland: Sie haben die Anerkennung ihrer eigenen Bedürftigkeit verloren. Auch deshalb kann so rigoros über Einschnitte ins soziale Netz gesprochen werden.
Die Politik tut so, als wäre weniger mehr: Zuviel Asylrecht fördert angeblich den Asylmißbrauch; also soll weniger Asylrecht dem Asylrecht dienen. Um es zu retten, mußte es also abgeschafft werden. Zuviel Sozialstaat fördert angeblich den Sozialmißbrauch; also soll weniger Sozialstaat soziale Gerechtigkeit bringen. Um den Sozialstaat zu retten, muß er also zerschlagen werden. Zuviel Recht fördert angeblich das Unrecht; also soll weniger Recht das Recht befördern. Eine seltsame perverse Logik.
Halt, Einspruch: Einmal, es war am 8. März 1996, hat auch die CDU/CSU »mehr« gefordert, mehr Achtung der Menschenrechte. Norbert Geis, ihr rechtspolitischer Sprecher, sprach von der Würde des Menschen, die es mit einem neuen Gesetz zu verteidigen gilt. Es handelte sich um das Strafgesetz zum Schutz der Ehre der Bundeswehr… Indes: Wenn es um die Verteidigung der Menschenwürde geht, fällt einem alles mögliche ein – ein Straftatbestand zum Schutz der Ehre der Bundeswehr aber zu allerletzt. Würde die Würde des Menschen hierzulande nur von ein paar Aufklebern bedroht, auf denen »Soldaten sind Mörder« steht, welch glückliches Deutschland! Die Obdachlosen, die Familien, die von Sozialhilfe leben müssen, die Flüchtlinge die in die Verfolgerstaaten zurückgeschickt werden: ihnen täte vergleichbare Fürsorge des Bundestages gut. Oder, um im militärischen Metier zu bleiben: Wo bleibt die Ehre der Soldaten, die sich der Hitler-Armee verweigert haben? Sie sind in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg wie der letzte Dreck behandelt worden. Bis heute sind die Opfer der Wehrmachtjustiz nicht rehabilitiert, sind die Soldaten, die sich den Befehlen Hitlers verweigert haben, vorbestrafte Verbrecher. Sie gelten bis heute als ehrlos.
Seit langem führen konservative Juristen in den juristischen Fachzeitschriften einen Feldzug für mehr Ehrenschutz und weniger Meinungsfreiheit. Das neue Ehrenschutz-Gesetz wird ihr erster großer Erfolg sein. Es ist ein gesetzgeberischer Tritt gegen das angeblich zu liberale Bundesverfassungsgericht, das, wie es heißt, eine »Hypertrophie der Grundrechte« zugelassen habe.
Das soll heißen: Allzuviel ist ungesund. Oder, wie Wolfgang Schäuble, der CDU/CSU-Fraktionsvorsitzende, jüngst geschrieben hat: Weniger Demokratie wagen. Also lautet auch die Forderung landauf landab in den Richterakademien und Symposien: Weniger Kunstfreiheit, weniger Meinungsfreiheit, weniger Pressefreiheit… Schutz soll nur noch genießen, wer und was schützenswert ist. Und was schützenswert ist – das bestimmen die Kritiker selbst.
Weniger Demokratie wagen
Das Verfassungsgericht, dazu berufen, die Grundrechte zu schützen, hat sich am 14. Mai 1996 zum Zuschauer rechtswidriger Abschiebungen degradiert. Seit diesem Tag, seit dem Asyl-Urteil ist sich das höchste Gericht zu schade dafür, in letzter Not zugunsten von Flüchtlingen einzugreifen und eine Abschiebung zu verhindern. Dem Flüchtling wird dann gegebenenfalls die Asylanerkennung auf dem Friedhof von Diyarbakir zugestellt – postmortal. Das oberste Gericht läßt also Politik und Bürokratie nach Belieben schalten und walten. Statt den Behörden in den Arm zu fallen, waschen die Richter ihre Hände in Unschuld. Pontius Pilatus richtet in Karlsruhe.
Die Stärke eines Volkes mißt sich am Wohl der Schwachen, heißt es im Entwurf der schweizerischen Verfassung. Wenn das so ist, dann ist die Stärke der Deutschen am Schwinden. Die Demokratie- und Gerechtigkeitslücken, die geschlagen wurden, werden nicht geschlossen, sondern immer weiter ausgedehnt. Dies zu verhindern, es ist ein Akt des solidarischen Widerstands. Wenn nicht einmal das Bundesverfassungsgericht der Entrechtung des Rechts Paroli bietet – wer soll es tun?
Gefordert ist eine neue Kultur der Solidarität, eine Kultur also, die sich der beschriebenen Unkultur widersetzt und für die Renaissance der Grundrechte kämpft.
Die Stärke eines Volkes mißt sich am Wohl der Schwachen
Die Kirchenasyl-Gruppen waren die ersten, die dies versuchten und versuchen: Sie geben den Flüchtlingen, was der Staat ihnen verweigert – Schutz und Hilfe in lebensbedrohlicher Situation. Allein in Bayern werden 66 Flüchtlinge geschützt (es gibt auch dieses Bayern!), geschützt vor dem Synodalen Günter Beckstein, dem Innenminister, der in Wunsiedel Kirchenasyl mit Polizeigewalt beendet hat. Die Pfarreien, die Kirchenasyl gewähren, appellieren an das Gewissen eines Rechtsstaats, der in seinem geschriebenen Grundgesetz die Menschenwürde über alles stellt. Kirchenasyl ist Widerstand durch solidarisches Handeln, das notfalls auch Bestrafung in Kauf nimmt. Dieses Handeln ist auch Anklage gegen eine Politik, die die Opfer rassistischer Gewalt wie Störer behandelt.
Wenn die Würde des Menschen im Konjunktiv steht, dann ist Aufbegehren Pflicht, ob der Impuls nun aus radikaldemokratischer, christlicher, liberaler oder humanistischer Gesinnung kommt.
Wenn ich über Solidarität rede, wenn es um Widerstand gegen die Verweigerung der Solidarität geht, dann ist von den Minderheiten in diesem Lande zu reden. Wie lange wird es sich Deutschland noch leisten können, so zu tun, als lebten wir noch im Jahr 1960? Wie lange kann die bequeme, aber falsche juristische Aufteilung unserer Gesellschaft in Deutsche und Ausländer noch gutgehen? Sie geht ja heute schon nicht gut, denn die rechtliche Ungleichheit, die Hierarchisierung von Menschen in solche Erster, Zweiter und Dritter Klasse ist eine Basis für die Gewalt in diesem Lande. Wieviele Generationen sogenannter Ausländer müssen hier eigentlich noch geboren werden, bis man sie endlich als Inländer bezeichnet und wie Deutsche behandelt?
Wir befinden uns mitten in der Diskussion um das Staatsbürgerschaftsrecht. Es geht darum, die Entfremdung des Rechts zu beseitigen und das Recht der Staatsbürgerschaft auf das Niveau einer demokratisch verfaßten Gesellschaft anzuheben. Zu dieser Gesellschaft gehören zum Beispiel die Türken und Kurden, die in Deutschland ansässig geworden sind und zum großen Teil schon seit Jahrzehnten hier leben. Es hilft nichts, wenn Recht und Politik diese neuen Minderheiten nicht zur Kenntnis nehmen. Sie sind da und sie bleiben da und sie sollen bitte dableiben.
Die neue Kultur der Solidarität, über die sich soeben auch der Katholische Sozialkongreß in Hildesheim Gedanken gemacht hat – sie entsteht aus dem gemeinsamen Widerstand gegen die Politik der Entsolidarisierung. Dies hat nichts zu tun mit der muffigen Solidarität des 1. Mai, auch nichts mit der bloßen Deklarationssolidarität, wie sie zur Geräuschkulisse der DDR gehörte. Kirchenasyl ist eine besonders mutige Form des solidarischen Handelns gegen staatlichen Rigorismus. Auch das Sozialpapier der Kirchen, so es sich nicht in Unverbindlichkeit verläppert, kann Solidarisierung mit den Schwachen sein. Denn gegen Bonner Borniertheit braucht es neue Formen der Solidarität, hilft eine gesellschaftliche Gegenbewegung, hilft der Widerstand der Bürgergesellschaft; Unterschriftenaktionen genügen nicht mehr, man muß neue Formen finden, neue Formen des Widerstands von unten gegen eine Politik von oben.
Widerstand – das war vor über fünfzig Jahren der Widerstand gegen das verbrecherische Nazi-Regime. Widerstand ist aber auch in der Demokratie, auch im Rechtsstaat notwendig. Dieser Widerstand heißt heute Widerspruch, Zivilcourage, aufrechter Gang, ziviler Ungehorsam, er kann Sitzblockade heißen, Bürgerinitiative oder Kirchenasyl.
Es braucht also den gemeinsamen Widerstand gegen eine forcierte Politik der Entdemokratisierung und Entsolidarisierung. Er muß von vielen Bewegungen initiiert, organisiert und getragen werden: von den Gewerkschaften und von spontanen Initiativen, von Schriftstellern und Künstlern, von den Kirchen, von Datenschützern, von kritischen Polizisten und Rechtsanwälten, von der Friedensbewegung, von Umweltschützern, vom Netzwerk der Kirchenasyl-Gruppen, von Humanisten und von Christen, Männern und Frauen.
Wenn die sich alle zusammenfügen, wenn sie sich zusammentun, dann entteht eine neue Kultur der Solidarität.
Starker Staat: Lausch- und Spähangriff; Standort Deutschland; der Umbau eines Sozialstaats, der ein Abbau ist. Der brave Bürger habe bei alledem nichts zu befürchten, heißt es beschwichtigend. Es könnte sein, daß die Bürgerinnen und Bürger nicht mehr brav sein wollen.
gekürzt und um Zwischenüberschriften ergänzt
aus: FR vom 27.9.1996.)