TAG DES FLÜCHTLINGS 1993
„Hört auf, vom Mißbrauch des Asylrechts zu reden“
Volkmar Deile
INHALT
- Grußwort des Vertreters des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen (UNHCR)
- Auf dem Weg nach rechts
- Der Engel von Marseille
- „Hört auf, vom Mißbrauch des Asylrechts zu reden“
- Fehlentscheidungen des Bundesamtes – Korrektur durch Gerichte
- In die Flucht geschlagen: Warum Menschen fliehen
- Kirchenasyl
Menschenrechtsverletzungen sind ein wesentlicher Faktor für die Fluchtbewegungen neben Kriegen und Bürgerkriegen, ethnischen und Nationalitätenkonflikten, sozialem Elend und Hunger sowie ökologischen Katastrophen, und ich will gar nicht darauf rekurrieren, was allen ins Haus stehen wird, wenn die befürchtete Klimaveränderung im nächsten Jahrhundert Wirklichkeit werden sollte.
Uns geht es um Menschenrechtsverletzungen als Fluchtursache. Wer sich damit beschäftigt, wird mit Gewalt von der bequemen Couch seiner postmodernen Politikidylle in die Wirklichkeit zurückgeholt und lernt schnell, daß eine rein innenpolitisch geführte Debatte diesem Sachverhalt nicht gerecht werden kann. Deshalb die wichtigsten Daten zur Wirklichkeit aus dem Jahresbericht von amnesty international 1992:
- in mindestens 65 Staaten sind gewaltfreie politische Gefangene inhaftiert
- in 104 Staaten werden Gefangene gefoltert und mißhandelt, 1991 sind in mehr als 40 Staaten Menschen durch Folter oder andere unmenschliche Behandlung getötet worden
- in mindestens 45 Staaten sind Menschen extralegal hingerichtet worden
- in mindestens 26 Staaten sind politisch mißliebige Personen einfach „verschwunden“.
Diese Millionen von Menschenrechtsverletzungen sind jede für sich ein wichtiges Argument für den konsequenten Schutz politischer Flüchtlinge. Glücklich der, der vor ihnen fliehen kann. Deshalb dringen wir darauf, daß überall das internationale Flüchtlingsrecht und seine Mindeststandards eingehalten werden.
Das internationale Flüchtlingsrecht schreibt vor, daß kein Flüchtling in ein Land abgeschoben werden darf, in dem ihm Gefahren für Leib, Leben und Freiheit drohen. Folgende Mindeststandards stellen dies sicher: Jeder Flüchtling hat ein Recht auf eine faire individuelle Überprüfung seines Anliegens durch eine fachlich kompetente Stelle. D. h., er muß sein Anliegen vorbringen können, ein Widerspruchsrecht bei einer unabhängigen 2. Instanz im Falle einer ablehnenden Entscheidung haben und für die Dauer des Verfahrens ein Aufenthaltsrecht bekommen.
Diese Prinzipien sind internationales Flüchtlingsrecht, das zusammen mit den Mindeststandards den Charakter des Asylrechts als den eines unveräußerlichen Individualrechts verlangt. Das bei uns angewandte restriktive Asylrecht verstößt bereits gegen einzelne Bestandteile dieses seiner Natur nach individuellen Rechts. Dagegen haben wir Einspruch eingelegt und tun dies heute wieder, indem wir sagen: Das Asylrecht nach Art. 16 Abs. 2 deckt in der Substanz diese Mindestanforderungen ab. Auch Europa wird sich diesen Mindestanforderungen nicht entziehen dürfen. Wer dabei die Genfer Flüchtlingskonvention zugrunde legt, weil er keinen dem Art. 16 Abs. 2 vergleichbaren Verfassungsartikel hat, wird dies nicht ohne Anerkennung des Individualrechts tun können und dürfen. Tun die Staaten der EG dies nicht, so verstoßen sie gegen das internationale Flüchtlingsrecht. Dies ist unakzeptabel. Und was für ein Europa wäre dies. Entweder wir schaffen ein Europa, das nach innen solidarisch ist und diese Solidarität auch mit den anderen Teilen dieser Erde übt, oder es verfehlt seinen humanitären Auftrag. Was spräche z. B. dagegen, den vielen Flüchtlingen aus dem zerfallenden Jugoslawien ein Bleiberecht für die Dauer des Krieges zu geben und sie anteilig in Europa zu verteilen und dadurch zu zeigen, daß die EG eine solidarische Gemeinschaft ist und nicht nur die Konzentration ökonomischer Interessen einer Region. Ich betone noch einmal: Es führt kein Weg daran vorbei, die Mindeststandards des internationalen Flüchtlingsrechts zur Grundlage einer europäischen Harmonisierung zu machen, und dies heißt, die Genfer Flüchtlingskonvention, die Bestimmungen der Europäischen Menschenrechtskonvention und die verbindlichen Empfehlungen des Exekutivkomitees des UNHCR ernst zu nehmen. Diese aber entsprechen in der Substanz dem, was der Art. 16 Abs. 2 und der Art. 19 Abs. 4 garantieren. Deshalb ist das Argument Europäisierung kein Hebel für die Beseitigung des verfassungsmäßig geschützten Rechtes politischer Flüchtlinge.
Die verworrene und verwirrende Debatte über das Asylrecht muß zu diesen Essentials des Schutzes politischer Flüchtlinge zurückgeführt werden, wenn sie ihrem humanitären Auftrag gerecht werden soll.
Wir machen uns allerdings keine Illusion über die Dynamik, die sich in unserer Gesellschaft aus den Elementen der Sprachverrohung, des Rassismus, der Fremdenangst, der Gewaltbereitschaft und Gewalt und der Debatte im politischen Raum zu einem wahren Teufelskreis entwickelt hat, der das Schutzrecht politischer Flüchtlinge aushöhlt und untergräbt. Deshalb liegt uns daran, für die Debatte eine sofortige Beendigung zu fordern. Ob sie das wollen oder nicht, die Gewalt vor Ausländerwohnheimen, das Gegröhle „Deutschland den Deutschen. Ausländer raus“ und bestimmte vorurteilsbeladene Äußerungen im politischen Raum bedingen sich mittlerweile und fördern sich gegenseitig. Auch jeder Kommunalpolitiker, der in seiner Stadt oder in seinem Dorf durch die Zuwanderung ernsthafte Probleme hat, muß sich der Tatsache bewußt sein, in welchem Verwertungszusammenhang seine öffentlichen Äußerungen stehen. Deshalb unterstreichen wir: Ausländerfeindlichkeit wird ebensowenig durch Ausländer geschaffen, wie der Antisemitismus durch Juden geschaffen wurde. Ausländerfeindlichkeit und Antisemitismus haben andere Wurzeln.
Manche der guten Argumente für den konsequenten Schutz der Flüchtlinge schmecken leider schon wie „Asche im Mund“. Dennoch ist die Bemühung um den rationalen Diskurs nicht hoffnungslos. In dieser Hoffnung betone ich:
1. Es gibt einen unauflösbaren Zusammenhang zwischen dem notwendigen Schutz politischer Flüchtlinge und der Verpflichtung eines Staates auf die Menschenrechte. Die Menschenrechtstreue unseres Staates und unserer Bürger mißt sich daran, wie wir mit den Flüchtlingen umgehen.
2. Unterbrecht den Teufelskreis von Sprachverrohung – Gewalt und dieser Asyldebatte. Es geht um menschliche Schicksale und menschliches Leben. Diese sind kein Spielmaterial für politische Manöver.
3. Hört auf, vom Mißbrauch des Asylrechts zu reden. Über 60% der Asylbewerber bekommen heute den Asylstatus oder ein anderes Bleiberecht, davon über 30 % wegen einer Gefahr für Leib und Leben. Wer vor Gericht geht und einen Prozeß verliert, hat deshalb nicht die Justiz mißbraucht. Und: Solange ein großes Haus nur einen Eingang, über dem „Asylrecht“ steht, hat, dessen Einlaßkontrolle zu langsam arbeitet, bildet sich eine Schlange von Eintrittswilligen. Dies ist aber weitgehend eine Organisationsfrage und kein Grund, von der Gastfreundschaft Abschied zu nehmen.
4. Tut nicht so, als gäbe es für die mit den weltweiten Fluchtbewegungen verbundenen Probleme eine leichte Lösung. Auch die Verfassungsänderung ist kein Stein der Weisen. Deshalb plädieren wir dafür, daß die Politiker den Art. 16 Abs. 2 nicht auf dem Altar ihrer angeblichen Handlungsfähigkeit opfern. Dies wäre eine Demonstration am falschen Objekt. Natürlich löst der Art. 16 Abs. 2 auch nicht alle Probleme. Das ist klar. Die Lösung der Probleme muß auf anderen Feldern gesucht werden, als dem der Einschränkung oder Abschaffung des Schutzes politischer Flüchtlinge. Es geht doch nicht an, daß das Individualrecht, das diese Regierung noch vor einem Jahr für heilig hielt, heute zur Disposition steht. So geht man mit einem Menschenrecht nicht um.
5. Haltet am Wert des einzelnen Menschenlebens fest. Mir graut es, daß Vorschläge gemacht werden, Rumänien oder Sri Lanka oder – wie in der Schweizer Liste – Indien als sog. verfolgungsfreie Länder zu bezeichnen. Diese Länder sind nicht verfolgungsfrei. Und: Es gibt keinen kollektiven Ausschluß von einem Individualrecht. Auch wenn seit Januar 1991 „nur“ 178 Menschen aus Rumänien anerkannt worden sind und deshalb die These vertreten wird, die niedrige Anerkennungsquote qualifiziere dieses Land als verfolgungsfrei. Es ist nicht der Fall! Das einzelne Menschenleben ist ebenso kostbar wie 200 oder 2000 Menschenleben. Wer will die Abschiebung dieser Menschen auf sein Gewissen nehmen? Ab wieviel Folter und Tod soll in Zukunft unser Gewissen schlagen und der Rechtsschutz greifen?
Es gibt keine Alternative dazu, das einzelne Menschenleben zu retten. Deshalb ist das Asylrecht seiner Natur nach ein Individualrecht. Alles andere wäre unmenschlich. Zum Glück sieht das internationale Flüchtlingsrecht dieses genauso. Deshalb hat der UNHCR der regionalen Außerkraftsetzung internationalen Rechts durch Länderlisten widersprochen. Wir tun dies auch: Der Vorschlag von Listen sog. verfolgungsfreier Länder ist unangemessen und falsch. Die Listen würden nicht frei von der Versuchung sein, tagespolitischer Opportunität zu folgen. Dafür gibt es Beispiele.
6. Schließlich: Geht anders mit unserer eigenen Geschichte um! Die Väter und Mütter unserer Verfassung waren nicht so dämlich, wie das manche Politiker heute gerne darstellen. Nach dem Krieg waren Millionen Flüchtlinge unterwegs, Deutschland war ein armes Land.- Der Unterschied zu damals ist, man wußte noch, was politische Verfolgung bedeutet. Im Gegensatz zu uns, die wir uns nicht klarmachen, in wie vielen Staaten auf diesem Globus schwere Menschenrechtsverletzungen Alltag sind. Die Väter und Mütter unserer Verfassung sind auch 1992 realitätsnäher als die Kontrahenten unseres innenpolitisch motivierten Asylstreites. Sie wußten, daß ein solches Recht seinen Preis hat und sprachen deshalb von einer notwendigen Generosität. Diese ist auch heute geboten.
Natürlich gibt es Mißstände in den Asylverfahren. Aber vergessen wir nicht: Franz Werfel, Golo Mann, Walter Benjamin, Lion Feuchtwanger, Albert Einstein, Max Ernst, George Grosz, Hannah Arendt, Stefan Zweig u.v.a. mehr standen während der NS-Zeit vor der Frage, ob sie mit falschen Pässen und Papieren ins Ausland gehen, um ihr Leben zu retten. Die Sozialdemokraten Hilferding und Breitscheid wären nicht Opfer der Nazis geworden, wenn sie in Marseille falsche Ausweispapiere akzeptiert hätten, um in die USA zu kommen. Und das American Rescue Committee, das diesen Menschen erfolgreich geholfen hat, in die Sicherheit des Exils zu gelangen, ist keine „Schlepperorganisation “ gewesen, wie das heute diffamierend bei uns heißt.
Leider greifen Geschichtsvergessenheit, Sprachverrohung und Gewaltbereitschaft heute ineinander. Dem muß Einhalt geboten werden. Ein Verfassungsrichter hat gesagt: Die Stärke einer Gesellschaft mißt sich an ihrem Verhältnis zu den Schwachen. Dem ist zum Tag des Flüchtlings 1992 nichts hinzuzufügen.