TAG DES FLÜCHTLINGS 1993
Dem Unrecht widerstehen
Flüchtlinge schützen
Grußwort zum
Tag des Flüchtlings 1993
INHALT
- Grußwort des Vertreters des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen (UNHCR)
- Auf dem Weg nach rechts
- Der Engel von Marseille
- „Hört auf, vom Mißbrauch des Asylrechts zu reden“
- Fehlentscheidungen des Bundesamtes – Korrektur durch Gerichte
- In die Flucht geschlagen: Warum Menschen fliehen
- Kirchenasyl
Das Ende des Kalten Krieges hat entgegen unserer aller Hoffnung nicht zu einer weltweiten politischen Stabilisierung geführt. Der Völkerfrühling wandelte sich mitunter zur Völkerschlacht. Das Blutvergießen in Bosnien- Herzegowina hat auf eine schreckliche Weise einen Begriff geprägt, der aus dem Wörterbuch des Unmenschen stammen könnte: die ethnische Säuberung, ein Euphemismus für die systematische, brutale Vertreibung Hunderttausender von Menschen aus ihrer angestammten Heimat.
Konfrontiert mit dem allgegenwärtigen Grauen des Krieges sucht die internationale Staatengemeinschaft nach neuen Wegen, damit Menschen nicht mehr gezwungen werden, ihre Heimat zu verlassen. Die Institution des Asyls ist nur zu retten, wenn in Zukunft mehr als bisher in den Fluchtherkunftsländem angesetzt wird. Die Flüchtlingskommissarin pocht in diesem Zusammenhang auf ein „Recht zu bleiben“. Dieses gilt es, in Zukunft für die Opfer von Bürgerkriegen, massiven Menschenrechtsverletzungen und Unterdrückung durchzusetzen. Denn wie ein Flächenbrand droht sonst die systematische Vertreibung ganzer Volksgruppen um sich zu greifen. Sie ist nicht mehr allein eine Folge, sondern das Ziel von Konflikten geworden.
Wohlgemerkt: Eine vorbeugende, friedenssichernde Politik bedeutet nicht, neue Barrieren zu errichten, um Menschen, die um ihr Leib und Leben fürchten müssen, von vorneherein an der Flucht zu hindern. Wer bei diesem Thema ausschließlich über Fragen der Grenzsicherung und Einreisekontrollen diskutiert, verkennt die Dimension der Flüchtlingsproblematik und ihre zunehmende Dynamik.
Eine Flüchtlingspolitik ohne Sicherung des internationalen Asylsystems wäre wie ein Haus ohne Fundament. Man muß sich dabei in Erinnerung rufen, was in diesem Jahrhundert aus der bitteren Erfahrung zweier Weltkriege und der politisch, ethnisch oder religiös motivierten Verfolgung von Minderheiten entstanden ist: das Bekenntnis und die Verpflichtung der Staatengemeinschaft, jenen Opfern von Gewalt, Unterdrückung und Verfolgung, denen man in ihrer Heimat nicht helfen konnte, als Zufluchtsstätte zu dienen.
Dies ist kein Beharren auf dogmatischen Grundsätzen, die in einer veränderten Realität ihre Berechtigung verloren haben. Im Gegenteil: Lassen wir juristische Spitzfindigkeiten beiseite, dann bleibt die Feststellung, daß die Mehrzahl derjenigen, die heute in Europa um Asyl nachsuchen, in der Tat Menschen sind, deren Leben und Freiheit in Gefahr wären, würden sie in ihre Heimatländer zurückgeschickt. Dies gilt auch dann, wenn sie nicht immer in der Lage sind, individuell den Beweis der persönlichen Verfolgung lückenlos zu liefern.
Die Genfer Flüchtlingskonvention jedenfalls und auch die Europäische Menschenrechtskonvention untersagen die Abschiebung dieser Menschen. Wir dürfen nicht mit zweierlei Maß messen: Die meisten Asylsuchenden in Europa – hier des Mißbrauchs des Asylrechts bezichtigt – erhalten in der Dritten Welt ohne weiteres den Flüchtlingsstatus. Der Liberianer, der in der Elfenbeinküste Zuflucht vor dem Bürgerkrieg in seiner Heimat sucht, wird von der internationalen Staatengemeinschaft als Flüchtling anerkannt. In Europa hingegen ist sein Asylantrag aufgrund der gesetzlichen Regelungen offensichtlich unbegründet.
Mit diesem negativen Votum muß auch jene Frau rechnen, die in Bosnien-Herzegowina von Freischärlern mit dem offensichtlichen Motiv vergewaltigt wurde, sie wegen ihrer Volkszugehörigkeit zu erniedrigen. Da diese Verfolgung nicht vom bosnischen Staat ausging, wird der Antrag in Deutschland nach der geltenden Rechtslage als offensichtlich unbegründet abgelehnt.
Dies ist in meinen Augen – gelinde gesagt – ein zutiefst unbefriedigender Zustand, der hoffentlich mit der Einführung eines Sonderstatus für Kriegs-bzw. Bürgerkriegsflüchtlinge in gewisser Weise korrigiert wird.
Es ist zweifellos ein Essential des internationalen Asylsystems, jenen Zuflucht zu gewähren, die das Kriterium der Schutzbedürftigkeit erfüllen. Es wäre fatal und sicherlich gegen die Intention der Architekten des internationalen Schutzsystems für Flüchtlinge, würde das Abschiebungsverbot der Genfer Flüchtlingskonvention durch formaljuristische Argumentation auf einen kleinen Kreis Auserwählter beschränkt. Im Gegenteil: Der Kreis der Schutzbedürftigen muß mit jenem der Schutzberechtigten endlich wieder in Deckung gebracht werden.
Deshalb mahnt UNHCR auch zu einem sensiblen Umgang mit den Listen sicherer Drittstaaten oder Herkunftsländer. Um das internationale Asylsystem zu bewahren, muß gewährleistet sein, daß ein Asylsuchender tatsächlich Zugang zu einem Verfahren hat, das den internationalen Mindeststandards entspricht. Ist ein Staat, aus welchen Gründen auch immer, nicht in der Lage, ein solches Verfahren durchzuführen, droht die Gefahr, internationales Flüchtlingsrecht zu verletzen. Vermieden werden muß ein Domino-Effekt, der zum Zusammenbruch des internationalen Asylsystems führt. Ist dessen Kernstück, das Abschiebungsverbot der Genfer Flüchtlingskonvention in Frage gestellt, dann zerbröckeln die Fundamente eines Systems, dessen Aufbau zu den richtungsweisenden humanitären Leistungen demokratisch verfaßter Staaten in diesem Jahrhundert gehört.
Vertreter des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen in der Bundesrepublik Deutschland