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TAG DES FLÜCHTLINGS 1990

Grußwort des Vertreters des
Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen

Asylrecht ist Menschenrecht

Es war im Jahre 1849. Europa stand noch im Zeichen der gescheiterten Revolution, die zwölf Monate zuvor den Kontinent erbeben ließ, Flüchtlinge, verfolgt von den Autoritäten der alten Mächte, gehörten zum gewohnten Bild jener Tage. So auch die Magyaren, die für die Freiheit ihres Vaterlandes gekämpft hatten.

Viele von ihnen stellten sich unter den Schutz des osmanischen Sultans, der ein Auslieferungsbegehren ablehnte. Seine Begründung: „Die Auslieferung der Flüchtlinge, die sich unter den Schutz Seiner Majestät, des Sultans gestellt haben, widerspräche nicht nur der Ehre, sondern auch der Menschlichkeit der Regierung Seiner Majestät.“

Die Antwort des Sultans ist für die Entwicklung des Asylrechts von zentraler Bedeutung. Zum ersten Mal wurde hier ganz offiziell die Gewährung des Asyls nicht nur mit der Souveränität des Zufluchtstaates begründet, sondern auch mit den Geboten der Menschlichkeit.

Dieser Gedanke hat sich in den folgenden Jahrzehnten weiterentwickelt. Allerdings hatten die Verfechter der Idee, das Asylrecht vom souveränen Recht der Staaten zum Menschenrecht auf Asyl umzugestalten, viele Rückschläge hinzunehmen.

Zwei Weltkriege mußten stattfinden, ehe die internationale Staatengemeinschaft mit der Gründung der Vereinten Nationen ein Forum fand, um eine längst überfällige Aufgabe zu übernehmen: die Verabschiedung einer „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“.

Im Entwurf dieser Deklaration heißt es: „Jeder Mensch hat das Recht, in anderen Ländern vor Verfolgung Asyl zu suchen und zu erhalten.“ Dieser Anspruch ging jedoch den meisten Staaten zu weit. Die schließlich verabschiedete Fassung der UN-Menschenrechtserklärung hat im Artikel 14 folgenden Satz aufgenommen: „Jeder Mensch hat das Recht, Asyl zu suchen und zu genießen.“ Im Vordergrund steht mithin das Recht, „Asyl zu suchen“, d. h. im Kern lediglich das Zugeständnis, sich auf die Flucht begeben zu können.

Auf den ersten Blick ein mageres Ergebnis. Doch dürfen bei einer gerechten Beurteilung nicht nur juristische Maßstäbe eine Rolle spielen. Zwar hat die „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“ bis heute keine rechtlich bindende Wirkung. Die in ihr festgelegten Grundsätze tragen jedoch eine moralische Verpflichtung in sich, die das Bewußtsein der Weltöffentlichkeit wesentlich beeinflußt hat.

Dies gilt auch für das Asylrecht. Schließlich zeigt die Debatte um die UN-Deklaration der Menschenrechte eines ganz deutlich: Das etwaige Recht auf Asyl wurde wie selbstverständlich als ein Menschenrecht verstanden.

Auch die „Mütter und Väter des Grundgesetzes“ der Bundesrepublik Deutschland fühlten sich dieser Auffassung eng verbunden. Sie verfolgten sehr aufmerksam die Diskussion um die „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“. Und sie zogen Konsequenzen: Es steht fest, daß der ins Grundgesetz aufgenommene Artikel 16 „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht“ von der entsprechenden Formulierung im Entwurf der UN-Deklaration deutlich geprägt war.

Der Verfassungsrechtler Hermann von Mangoldt, CDU-Abgeordneter im Parlamentarischen Rat, erklärte damals: „Wenn wir irgendeine Einschränkung aufnehmen würden, um die Voraussetzungen für die Gewährung des Asylrechts festzulegen, dann müßte an der Grenze eine Prüfung durch die Grenzorgane vorgenommen werden. Dadurch würde die ganze Vorschrift wertlos.“ Der SPD-Parlamentarier Carlo Schmid ergänzte: „Dann beginnt das Spiel: man schickt den Mann zurück oder man schickt ihn an die andere Grenze, und von dort geht es weiter.“

Asylrecht – ein Menschenrecht, für die Mütter und Väter des Grundgesetzes gab es hierüber keinen Zweifel. Sie urteilten deshalb nicht aus der Sicht des Staates, sondern machten sich ganz bewußt die Perspektive des schutzsuchenden, von Verfolgung bedrohten Flüchtlings zu eigen.

Dieser zutiefst humanitäre Denkansatz läßt sich auch in der Genfer Flüchtlingskonvention wiederfinden. Ihr Kernstück ist das Verbot der Zurückweisung von Flüchtlingen in einen Verfolgerstaat. Menschenrechte werden gemeinhin als angeborene und unveräußerliche Rechte verstanden. Droht einem Flüchtling die Abschiebung in ein Verfolgerland, dann wird er zugleich der Gefahr ausgesetzt, ein Opfer von Menschenrechtsverletzungen zu werden.

Daraus folgt: Ohne Asylrecht bleiben dem Flüchtling auch andere grundlegende Menschenrechte verwehrt. Mit der Asylgewährung wird also gleichzeitig der individuelle Anspruch eines Flüchtlings auf die Menschenrechte gesichert. Das Asylrecht gehört mithin in den Katalog der Menschenrechte. 106 Staaten haben diese Auffassung inzwischen mit der Unterzeichnung der Genfer Flüchtlingskonvention akzeptiert.

Natürlich darf man die oftmals vorhandene Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit nicht verkennen. Menschenrechte zu sichern ist eine Aufgabe, die sich täglich neu stellt. Es sind Niederlagen, aber auch Erfolge zu verzeichnen. So hat der Aufbruch in Europa auch ganz wesentlich mit der Einforderung von Menschenrechten zu tun.

Ausgerechnet in solch hoffnungsfroher Zeit, in der jahrzehntelang versperrte Grenzen sich öffnen, werden Flüchtlingen mögliche Zufluchtswege versperrt. Das Wort von der „Festung Europa“ macht die Runde. Es wäre fatal, wenn die Antwort auf zunehmende Migrationsbewegungen allein bei restriktiven Maßnahmen im Asylrecht gesucht würde. Die Leidtragenden einer, solchen Entwicklung wären vor allem jene Menschen, die das Asylrecht davor bewahrt, Opfer von Menschenrechtsverletzungen zu werden.

Europa muß deshalb ein Hort der Zuflucht bleiben. Sonst stehen wir ald vor einer Situation, die der österreichische Publizist Alfred Polgar vor fünfzig Jahren, gemünzt auf sein eigenes Flüchtlingsschicksal, wie folgt beschrieben hat: „Ein Mensch wird hinterrücks gepackt und in den Strom geworfen. Er droht zu ertrinken. Die Leute auf beiden Seiten des Stroms sehen mit wachsender Beunruhigung den verzweifelten Schwimmversuchen des ins Wasser Geworfenen zu, denkend: wenn er sich nur nicht an unser Ufer rettet.“

Walter Koisser

Vertreter des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen in der Bundesrepublik Deutschland


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