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TAG DES FLÜCHTLINGS 2000

Größtmögliche Gemeinheit

Julika Bürgin | Sandra Jesse

Herausgegeben zum Tag des Flüchtlings am 29. September 2000

Herausgeber: PRO ASYL, Arbeitsgemeinschaft für Flüchtlinge mit freundlicher Unterstützung von: Deutsche Stiftung für UNO-Flüchtlingshilfe e.V., Deutscher Caritasverband e.V., Interkultureller Beauftragter der Ev. Kirche in Hessen und Nassau, Kirchlicher Entwicklungsdienst der Evangelischen Kirche in Deutschland durch den ABP, Land Hessen.

Der Tag des Flüchtlings findet im Rahmen der Woche der ausländischen Mitbürger/Interkulturellen Woche (24. bis 30. September 2000) statt und wird von PRO ASYL in Zusammenarbeit mit dem Ökumenischen Vorbereitungsausschuß zur Woche der ausländischen Mitbürger vorbereitet.

INHALT

Beispiele und Anregungen

Stellen Sie sich vor, Sie fahren zu einer Party um zu feiern. Plötzlich taucht eine Gruppe Skinheads auf und beginnt, die anwesenden Auslän-derinnen und Ausländer zu bedrohen. Sie rufen die Polizei, doch als diese kommt, sind die Neonazis schon weg. Statt sie zu suchen, beginnt die Polizei, die Papiere der ausländisch aussehenden Menschen zu kontrollieren. Die Beamten stellen fest, dass Sie keine Genehmigung haben, sich im Landkreis Weimarer Land aufzuhalten und nehmen Sie mit zur Polizeidienststelle nach Apolda. Nachts um 2 Uhr wird eine Dolmetscherin gerufen. Dann werden Sie zum Polizeipräsidium nach Jena gebracht, wo die Beamten Sie erkennungsdienstlich behandeln: Fotos, Fingerabdrücke usw. Ihr Ausweis wird eingezogen. Ihre Freundin wird des Raumes verwiesen. Am frühen Morgen können Sie das Polizeipräsidium verlassen, Ihre Freundin ist nicht mehr da. Gibt’s nicht? Gibt’s doch.

Stellen Sie sich vor, Sie leben in der kleinen ostthüringischen Gemeinde Markersdorf ohne Infrastruktur, ohne Telefonzelle, ohne Arzt. Diese Gemeinde liegt wenige Kilometer entfernt von der großen Stadt Gera, gehört aber zum Landkreis Greiz. In Gera gibt es Rechtsanwälte, Beratungsstellen, Kirchengemeinden, Ärzte, Geschäfte und auch Telefonzellen. Aber Sie dürfen dort nicht hin, zumindest nicht ohne schriftliche Erlaubnis der Ausländerbehörde. Im vergangenen Jahr zog die Stadt Gera ihr Einverständnis zurück, dass sich Asylbewerberinnen und -bewerber auch im Stadtgebiet aufhalten können. Verstärkte polizeiliche Kontrollen brachten bereits einige Flüchtlinge in Konflikte. Der Oberbürgermeister der Stadt Gera sieht kein Problem: Sie sollen eben Anträge stellen, um den Landkreis Greiz verlassen und die Stadt Gera betreten zu können. Diese Genehmigungen werden laut Asylverfahrensgesetz aber nur sehr beschränkt erteilt, und außerdem: Wie soll man um 20 Uhr bei der Ausländerbehörde beantragen, um 21 Uhr telefonieren zu können? Gibt’s nicht? Gibt’s doch.

Stellen Sie sich vor, Sie wurden in Ihrem Heimatland politisch verfolgt und politisches Engagement ist Ihnen auch in Deutschland lebenswichtig. In dem Ihnen zugewiesenen Aufenthaltsbereich, dem westthüringischen Wartburgkreis, gibt es aber keine Möglichkeiten für exilpolitisches Engagement. Häufig fahren Sie deshalb in die Universitätsstadt Jena, in der sich viele Flüchtlinge in der Organisation »THE VOICE Forum« zusammengeschlossen haben. Als aktives Mitglied von THE VOICE sind Sie an der Vorbereitung der bundesweiten KARAWANE beteiligt und reisen deshalb gelegentlich in Städte außerhalb von Thüringen. Politische Aktivitäten werden von den Ausländerbehörden häufig nicht als Grund anerkannt, eine Genehmigung zum Verlassen des Landkreises zu erteilen, da ein »öffentliches Interesse« in Abrede gestellt wird. Manchmal fahren Sie deshalb ohne Erlaubnis. Als Sie das dritte Mal außerhalb des Landkreises von der Polizei aufgegriffen werden, verhängt die Ausländerbehörde einen Ausweisungsbescheid gegen Sie. Begründung: Sie verstießen nachhaltig und vorsätzlich gegen die geltende Rechtsordnung. Gibt’s nicht? In diesem Kreis gibt’s sogar noch mehr: Für die Genehmigung, den Wartburgkreis verlassen zu dürfen, müssen Asylsuchende eine Bearbeitungsgebühr von 15,- DM zahlen, bei 80,- DM Bargeld, die sie pro Monat erhalten.

Das Asylverfahrensgesetz beschränkt den Aufenthaltsbereich von Asylbewerberinnen und -bewerbern räumlich auf den Bezirk der Ausländerbehörde. Auch in Thüringen gäbe es verschiedene Möglichkeiten, Kleinstaaterei und Wegezoll zu korrigieren: Landkreise und nahe gelegene Städte könnten in gegenseitigem Einvernehmen vereinbaren, dass der Aufenthaltsbereich allgemein beide Bezirke umfasst. Die Landesregierung könnte ferner durch Rechtsverordnung bestimmen, dass Asylsuchende sich in einem die Bezirke mehrerer Ausländerbehörden umfassenden Gebiet aufhalten können. Der Thüringer Flüchtlingsrat fordert vor allem Letzteres, der Thüringer Innenminister lehnt ab.

Kommunen und Landesbehörden in Thüringen sehen sich in ihrer makaberen Praxis durch das Bundesgesetz vollständig gedeckt. Damit haben sie leider recht. Die von SPD und Bündnis 90/DIE GRÜNEN vor der Bundestagswahl versprochenen Reformen des Ausländerrechts müssen auch das fundamentale Recht auf Bewegungsfreiheit beinhalten.

Wenn der Flüchtlingsrat Thüringen e.V. zum Tag des Flüchtlings 2000 erstmalig den Preis für die größtmögliche Gemeinheit verleiht, dann könnte dies z. B. in Gera stattfinden oder auch in Bad Salzungen. Oder aber in Berlin. Dann aber wäre die Unterstützung aller notwendig, denen ein halbes Staatsbürgerschaftsrecht und eine viertel Altfallregelung nicht genug Reform in der Ausländerpolitik sind.


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