TAG DES FLÜCHTLINGS 1996
Gegen die inhumane Abschiebepraxis in Deutschland
Rede bei der Kundgebung am 18. August 1995
in Hannover «Trauer um Louis I.«
Heiko Kauffmann
INHALT
- Grußwort der Vertreterin der Hohen Flüchtlingskommissarin der Vereinten Nationen (UNHCR) in der Bundesrepublik Deutschland
- Entwicklung der Asylpolitik in Europa
- Frauenspezifische Verfolgungsgründe
- Der Einzelfall zählt
- Statt Asyl: Auslandsschutzbrief und Nichtverfolgungsbescheinigung – Verfassungsgericht glaubt der Selbstauskunft von Diktatoren
- Gibt es Kettenabschiebungen?
- »In meinem Kopf ist immer die Frage: Was kommt später?« – Minderjährige unbegleitete Flüchtlinge
- Kann man Folter übersehen?
- Der Präsident erhöht die Schlagzahl
– Druck auf die Mitarbeiter des Bundesamtes verschlechtert die Qualität der Asylentscheidungen - »…daß hier allzu leichtfertig mit dem Schicksal eines Menschen umgegangen wird.«
Später Erfolg für die kurdische Familie Simsek im Petitionsausschuß - Brennpunkt Flughafen
- Nach Einreise: Abschiebehaft
- Für Härtefallregelungen
- Gegen die inhumane Abschiebepraxis in Deutschland
- Illegalität fällt nicht vom Himmel
- Beispiele und Anregungen
- Das Asylbewerberleistungsgesetz ein Schreckgespenst für Flüchtlinge und Asylsuchende
- Ärzte-Netzwerk »Medizinische Hilfe«
- Erste Erfahrungen einer Abschiebehaft-Gruppe
- Begegnung mit Flüchtlingen suchen
- Wir wollen, daß ihr bleiben könnt!
- Was ist los in Zaire?
- Gruppenasyl in Regensburg für togoische Flüchtlinge
- Unzureichende Altfallregelung – künftig kaum noch Abschiebestopps
- Zehn Jahre PRO ASYL
- Adressen
- Statistik
Wir sind heute hier zusammengekommen, weil wir um Louis I. trauern, der in seiner Verzweiflung in einer existentiellen Lebenssituation allein gelassen wurde. Wir sind traurig und empört darüber, daß wieder ein Mensch sterben mußte, der nicht hätte sterben dürfen, der nicht hätte sterben müssen, wenn rechts staatliche Grundsätze und Menschlichkeit den Umgang und das Verhalten Deutschlands und deutscher Behörden mit Flüchtlingen, MigrantInnen und Menschen anderer Herkunft bestimmen würden. Wir sind fassungslos und empört über das fast routinemäßige Einsperren von Menschen, die keine Straftat begangen haben, in Abschiebeknäste, die sich immer mehr zu den finstersten Orten unserer Demokratie entwickeln.
Rechtsstaatliche Grundsätze – welchen Wert messen die Verantwortlichen den obersten Verfassungsprinzipien – der Menschenwürde, der Rechtsstaatlichkeit, der Verhältnis mäßigkeit – bei angesichts dieser legalisierten Barbarei und der organisierten Unmenschlichkeit der gegenwärtigen deutschen Abschiebepraxis?! Eine Verfassung ist so gut, wie ihr Kernbereich, ihre Leitwerte und Grundrechte für alle Menschen in gleicher Weise gelten und angewendet werden.
Wo Menschenschicksale hin- und hergeschoben werden, von einer Behörde zur anderen, von einer Instanz zur nächsten, da entscheiden dann Sachzwänge, Erlasse, da übernimmt niemand mehr persönlich Verantwortung, da richtet man sich dann angeblich strikt nach Recht und Gesetz und nach der Anordnung der Vorgesetzten. Da wird dann über »Fälle«, nicht mehr über Menschen entschieden – und hinterher will es niemand gewesen sein! Nein, Gewissen läßt sich nicht einfach abschieben – wo aber in Bürokratien und Machtapparaten reibungsloses Funktionieren, Verordnungen, Mitläufertum, angepaßte Unterwürfigkeit wichtiger werden als Verantwottungsbereitschaft, Menschlichkeit und Zivilcourage, da wird Gewissen beiseite geschoben. Wenn eine irgendwie geartete Gefährdung nicht mit Sicherheit auszuschließen ist, dann darf ein Mensch nicht zurückgewiesen, an der Einreise gehindert oder aus einem demokratischen Rechtsstaat abgeschoben werden.
Wir gedenken hier und heute der Menschen, die in Deutschland in den letzten zwei Jahren – seit Inkrafttreten der Asylrechtsänderung – Opfer dieser Abschiebepraxis, Opfer dieser für einen Rechtsstaat ungeheuerlichen Macht- und Gewaltdemonstration wurden, die jegliche Verhältnismäßigkeit vermissen läßt.
Wir gedenken der vielen Verzweifelten – auch der Namenlosen – die aus Angst vor der Abschiebung ihrem Leben selbst ein Ende setzten, heute besonders derer, die in der Abschiebehaft gestorben sind.
Und wir gedenken der über 50 Menschen, Flüchtlinge, Ausländer und Angehörigen von Minderheiten, die seit der Vereinigung Opfer rassistischer Gewalt wurden.
Mord durch die Gewalt der Straße oder Freitod als Folge der Gewalt des Staates: Hier zeigt sich eine verhängnisvolle und beunruhigende Kontinuität deutscher Geschichte. In der vermeintlichen Absicht, dem Rassismus den Boden zu entziehen, geht man nicht konsequent gegen Rassisten und ihre Hintermänner vor, sondern gegen die Flüchtlinge, die Opfer des Rassismus sind.
Wie müssen von Abschiebung und Ausweisung bedrohte Männer, Frauen, Kinder und Jugendliche fühlen und empfinden, wie aber wird auch deutschen Kindern und Jugendlichen Wert und Würde und Gleichheit des Menschen in einem demokratischen Verfassungsstaat vermittelt, wenn in den Ordnungsverfügungen und Ausreiseaufforderungen das kalte Herz der Bürokratie immer wieder Sätze formuliert wie» Durch Ihre Anwesenheit werden Interessen der Bundesrepublik Deutschland beeinträchtigt.«?
Wie stark ist ein Staat, wie stark ist eine Demokratie, für die Zuflucht suchende Menschen und selbst Kinder eine öffentliche Gefahr darstellen, und die es nötig hat, Menschen abzuschieben in eine ungewisse Zukunft? Nicht die von Abschiebung und Ausweisung bedrohten Menschen sind eine öffentliche Gefahr, aus deren Anwesenheit sich eine, wie es im Behördendeutsch heißt, »erhebliche Gefährdung der öffentlichen Sicherheit ergibt«. – Nein, unsere Demokratie gerät in Gefahr, wenn Untätigkeit, Gleichgültigkeit, vorauseilender Gehorsam gegenüber technokratischen Gesetzen und Erlassen sich in Verwaltung und Politik auf diese Weise zum Schaden der Menschen durchsetzen würden.
Was sind das für Interessen eines mächtigen Landes und eines der reichsten Länder der Erde, das heute, 1995, bereit ist Menschen, die nichts Strafbares getan haben, in Abschiebehaft zu nehmen und wie Kriminelle zu behandeln? Was sind das für Interessen eines Landes, in dem Politik und Verwaltung es fahrlässig geschehen lassen, daß Menschen, darunter auch viele Kinder, nach ihrer Abschiebung einem ungewissen Schicksal und vielfachen Gefährdungen für Leib und Leben ausgesetzt sind? Dies ist eine heuchlerische Politik und die Gesetze und Erlasse, mit der sie begründet wird, sind Gesetze und Erlasse, die der Gerechtigkeit und Humanität und der politischen Kultur einer demokratischen Zivilgesellschaft zuwiderlaufen.
Wir rufen alle Bürgerinnen und Bürger auf, mit Zivilcourage gegen Gleichgültigkeit und gegen das allgemeine Duckmäuserturn in diesem Lande aufzustehen! Wir rufen dazu auf, gegen die Ideologie eines in Deutschland noch immer gültigen Staatsverständnisses vorzugehen, nach der Angehörige anderer Völker und Herkunft noch immer als Fremde und Eindringlinge betrachtet werden! Wir rufen Politik und Gesellschaft auf, ihre kollektive Gefühlsabstumpfung gegenüber Flüchtlingen und Minderheiten zu durchbrechen und endlich dem Humanitätsanspruch dieser Gesellschaft durch entsprechende Gesetze und eine humane Umgehensweise mit Menschen anderer Herkunft und mit Minderheiten in diesem Lande Nachdruck zu verleihen.
Wir fordern Politik und Gesellschaft, Kirchen, Gewerkschaften und soziale Bewegungen auf, gemeinsam dafür Sorge zu tragen, daß die gegenwärtige Abschiebepraxis, diese Form des menschenrechtswidrigen Freiheitsentzugs ohne Straftatbestand, unverzüglich eingestellt wird.
Wir fordern die Einsetzung einer Expertenkommission, die die Praxis der Abschiebehaft und des gesamten Vollzugs untersucht, eine Abschiebepraxis, die einem autoritären Obrigkeitsstaat vielleicht gut zu Gesicht stünde, nicht aber einem demokratischen Verfassungsstaat.
Liebe Freundinnen und Freunde, wir stehen hier, weil wir traurig sind und weil wir fassungslos und empört sind, aber wir sagen den Regierenden auch: Wir sind traurig und fassungslos, aber wir sind nicht mutlos, und schon gar nicht sind wir hoffnungslos, sonst stünden wir nicht hier! Machen wir gemeinsam Druck für ein Recht, das seinen Namen verdient, und für einen Rechtsstaat, an dem jeder Mensch – unabhängig von seiner Herkunft, seinem Geschlecht, seinem Alter, seiner Weltanschauung und Religionszugehörigkeit – teilhaben und partizipieren kann!