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TAG DES FLÜCHTLINGS 1996

Frauenspezifische Verfolgungsgründe

Anna Büllesbach

Florence N. stammt aus Zaire. Mitte 1995 flieht sie nach Deutschland, und sucht um Asyl nach. Sie gibt an, Soldaten des »Dienstes für militärische Aktion und Aufklärung, SARM« seien auf der Suche nach ihrem politisch aktiven Ehemann mehrmals in ihr Haus eingedrungen. Siehe auch: DER EINZELFALL ZÄHLT Beim letzten Mal sei sie vor den Augen ihrer Kinder mißhandelt und vergewaltigt worden. Ihr Asylantrag wird abgelehnt. Die vorgebrachte Mißhandlung wird als Übergriff krimineller Elemente bewertet.

Im Sommer 1995 reist auch Parwin T. in die Bundesrepublik Deutschland ein. Sie trägt vor, in Afghanistan als Lehrerin und Künst- lerin für die Rechte der Frau eingetreten und deshalb Übergriffen durch die Mudjaheddin ausgesetzt gewesen zu sein. Ihrem Asylbegehren wird nicht stattgegeben. Die Maßnahmen, denen Parwin T. ausgesetzt gewesen sei – so wird argumentiert -, gingen nicht über das hinaus, was in Afghanistan alle Frauen zu erwarten hätten.

Diese beiden schutzsuchenden Frauen stehen für viele andere, deren Asylbegehren einen frauenspezifischen Hintergrund haben. Von der internationalen Staatengemeinschaft wird dieser Thematik erst seit Mitte der 80er Jahre Aufmerksamkeit geschenkt, als, u. a. beeinflußt durch die Frauenbewegung in einigen Asylländern, spezielle Maßnahmen zum Schutz von zufluchtsuchenden Mädchen und Frauen eingeleitet wurden. Obwohl damals wie heute die meisten Flüchtlinge weltweit Frauen und Kinder sind, waren bis zu diesem Zeitpunkt die Flüchtlingsprogramme in den Erstzufluchtsländern meist geschlechtsneutral und berücksichtigten kaum die besonderen Probleme von weiblichen Schutzsuchenden. In den westlichen Asylländern war der Begriff des Flüchtlings vornehmlich durch männliche Verfolgungsschicksale geprägt. Im allgemeinen wird Verfolgung als eine schwerwiegende Verletzung grundliegender Menschenrechte definiert, die an eines der in der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) niedergelegten asylrelevanten Merkmale, nämlich Rasse, Religion, Volkszugehörigkeit, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politische Überzeugung anknüpfen muß. Bei der Beurteilung, was die Schwelle einer asylerheblichen Menschenrechtsverletzung erreicht, wurden bis dahin kaum spezifische Fluchtgründe von Flüchtlingsfrauen und -mädchen zugrundegelegt, wie etwa Witwenverbrennung, genitale Verstümmelung oder Zwangsabtreibung.

Als erster Schritt zu der Anerkennung frauenspezifischer Fluchtursachen gelten die fast wortgleichen Resolutionen des Europäischen Parlaments sowie des UNHCR-Exekutivkomitees aus den Jahren 1984 bzw. 1985, die den Staaten empfehlen, sich die Interpretation zu eigen zu machen, daß weibliche Asylsuchende, die harte oder unmenschliche Behandlung zu erwarten haben, weil sie gegen den sozialen Sittenkodex in der Gesellschaft, in der sie leben, verstoßen haben, eine besondere soziale Gruppe i.S.v. Art. 1 A (2) der GFK darstellen.

Aus jüngster Zeit stammen zwei für den Schutz von Flüchtlingsfrauen wichtige internationale Erklärungen: die auf der Wiener Weltmenschenrechtskonferenz im Juni 1993 abgegebene Abschlußerklärung, Menschenrechte von Frauen und Mädchen seien ein integraler Teil der allgemeinen Menschenrechte, sowie die Ende 1995 auf der Vierten Weltfrauenkonferenz der Vereinten Nationen in Peking verkündete Auffassung der Teilnehmerstaaten, Verfolgung könne auch die Form sexueller Gewalt annehmen. Auf der Weltfrauenkonferenz sicherten sich die Staaten einen Austausch von Informationen zu dieser Thematik sowie die Förderung von Richtlinien und ihrer konsequenten Anwendung zu.

In der Praxis existieren jedoch in den europäischen Asylländern diese angekündigten Richtlinien bislang nicht. Zwar wurde im Zusammenhang mit dem Schicksal vieler Flüchtlingsfrauen aus dem ehemaligen Jugoslawien in einigen Ländern Europas klargestellt, daß sexuelle Gewalt in Verbindung mit einem asylerheblichen Merkmal als Verfolgung zu werten sei – z. B. in Österreich, Deutschland, Frankreich. Diese Klarstellung hatte jedoch nicht unbedingt die vermehrte Anerkennung von Frauen aus Bosnien-Herzegowina zur Folge, wie etwa in Deutschland, wo über die Asylanträge bosnischer Staatsangehöriger grundsätzlich nicht entschieden wird.

Im allgemeinen werden in Europa sexuelle Übergriffe im Kontext von Krieg und Bürgerkrieg überwiegend nicht als asylrelevant betrachtet, da das Erfordernis einer Verfolgung durch einen Staat oder Quasistaat bei einem Zusammenbruch der staatlichen Autorität als nicht erfüllt betrachtet wird. Des weiteren werden Übergriffe als nicht zielgerichtet oder privat bzw. als nicht an ein asylrelevantes Merkmal anknüpfend gewertet. Eine Auseinandersetzung mit der Universalität der Menschenrechte ohne geschlechtliche Diskriminierung erfolgt so gut wie nie. Statt dessen wird auf die bestehende kulturelle Differenz zwischen Asyl- und Herkunftsland, d.h. auf die allgemeine Situation, in der sich Frauen dort befinden, verwiesen. Die Einschätzung, daß »Geschlecht« allein als Kategorie einer bestimmten sozialen Gruppe fungieren könne, wird von keinem europäischen Land getroffen.

Weiter fortgeschritten ist die inhaltliche Auseinandersetzung mit geschlechtsspezifischer Verfolgung in den angelsächsischen Überseestaaten. Federführend auf diesem Gebiet war man in Kanada: Dort veröffentlichte anläßlich des Internationalen Frauentages am 8. März 1993 das »Immigration and Refugee Board of Canada« (IRB) Richtlinien zu frauenspezifischer Verfolgung für seine Entscheiderinnen und Entscheider. Zwei Ziele verfolgen diese Richtlinien: die Vermittlung von Kriterien zur rechtlichen Bewertung frauenspezifischer Fälle sowie die Sensibilisierung der zuständigen Behördenmitarbeiterinnen und -mitarbeiter.

Dem Erlaß dieser Richtlinien war der Fall einer saudiarabischen Staatsangehörigen vorausgegangen, die sich gegen Schleierzwang und Reisebeschränkungen in ihrem Heimatland gewehrt hatte. Wegen ihrer feministischen Einstellung und ihres Liberalismus war sie in Saudi-Arabien bestraft und mit dem Tode bedroht worden. Ihr Asylgesuch wurde vom IRB mit der Argumentation abgelehnt, die Betroffene habe sich – wie alle Frauen in Saudi-Arabien – an die nationalen Gesetze und landesüblichen Gepflogenheiten zu halten. Diese Entscheidung stieß in der kanadischen Öffentlichkeit auf heftige Kritik. Vor allem Frauenverbände, Flüchtlings- und Menschenrechtsorganisationen drängten das IRB, eine so offensichtliche Schutzlücke zu schließen und Frauen, die einer schwerwiegenden Diskriminierung aufgrund ihres Geschlechts ausgesetzt seien, nicht von der Gewährung des Flüchtlingsstatus auszuschließen. Die in der Folge veröffentlichten kanadischen Richtlinien gehen auf diese Schutzlücke ein und legen Kriterien fest, die bei der Prüfung von Schutzbegehren von Flüchtlingsfrauen angewandt werden sollen. Als Maßstab für die Bewertung einer Rechtsverletzung gelten in Kanada die internationalen Menschenrechtsabkommen. So prüft man etwa eine Verletzung des Art. 3 (Recht auf Leben, Freiheit, körperliche Unversehrtheit) bzw. 5 (Verbot der Folter oder grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung) der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Sexuelle Gewalt wird als eine Form von Folter bewertet und die Unterdrückung von Frauen ebenso wie die von Männern an internationalen Menschenrechtsstandards gemessen.

Im Juni 1993 äußerte das höchste Gericht Kanadas, das »Supreme Court of Canada«, in dem Verfahren Kanada vs. Ward, Geschlecht sei ein angeborenes und unveräußerliches Merkmal und damit Kennzeichen einer bestimmten sozialen Gruppe. Diese Entscheidung hat für beide Geschlechter die Möglichkeit eröffnet, sich bei der Darlegung erlittener Verfolgung auf ein asylerhebliches Merkmal zu berufen.

Weitere positive IRB- und Gerichtsentscheidungen ergingen in Kanada in den letzten drei Jahren zu diversen frauenspezifischen Asylgründen, wie genitale Verstümmelung im Fall von somalischen oder Nichtbefolgung der Ein-Kind-Politik im Fall einer chinesischen Staatsangehörigen. Auch Zwangsheirat mit einem gewalttätigen Ehemann wurde als Verfolgung gewertet. Das kanadische Bundesgericht sprach etwa einer von ihrem Ehemann wiederholt gravierend mißhandelten Frau den Flüchtlingsstatus zu, da sie gegen diese Übergriffe keinen staatlichen Schutz in ihrem Herkunftsland erlangen konnte. Die Tatsache, daß manche Formen der Gewalt gegen Frauen weit verbreitet seien, bedeutete nach Auffassung des Gerichtes nicht, daß sie grundsätzlich keine Verfolgungsmaßnahmen darstellen könnten. Gewalt gegen Frauen werde mitunter aufgrund der intimen Formen, die sie annehmen könne, als Privatsache angesehen.

Seit der Publikation der Richtlinien wurden in Kanada etwa 300 Frauen aufgrund geschlechtsspezifischer Verfolgung anerkannt. Diese überschaubare Zahl zeigt, daß in diesem Bereich – genauso wie bei Schutzbegehren von Männern – eine genaue Prüfung erfolgt, ob alle Voraussetzungen für die Gewährung des Flüchtlingsstatus gegeben sind. Die Richtlinien haben jedoch einen Bewußtseinsprozeß in Gang gesetzt, der letztendlich der Lebensrealität von zufluchtsuchenden Frauen Rechnung trägt. Da die Richtlinien kontinuierlich an aktuelle Entwicklungen sowie an die höchstrichterliche Rechtsprechung angepaßt werden, wird voraussichtlich im Juni 1996 eine überarbeitete Version veröffentlicht werden, die u. a. die in der Ward-Entscheidung vertretene Auffassung beinhalten wird. Außerdem sollen zusätzliche Thematiken erörtert werden, wie etwa die speziellen Erfordernisse bei der Prüfung einer internen Fluchtalternative für Frauen.

Eine ähnliche Entwicklung wie in Kanada fand auch in den angelsächsischen Überseestaaten Vereinigte Staaten von Amerika, Australien und Neuseeland – auf Verfahrens- und Entscheidungsebene – statt. In Neuseeland etwa kommt es generell auf die Urheberschaft der Verfolgung von Frauen nicht an. Es wird allein darauf abgestellt, ob gegen Verfolgungsmaßnahmen staatlicher Schutz erlangt werden kann. Man geht nicht davon aus, daß bei einem Zusammenbruch der staatlichen Hoheitsgewalt keine Verfolgung stattfinden kann. Somit sind Kriegs- und Bürgerkriegsflüchtlinge nicht von der Gewährung des Flüchtlingsstatus ausgeschlossen. Jegliche Frauen angedrohte oder zugefügte nichtstaatliche oder »private« Gewalt kann im Prinzip ein Anerkennungsgrund sein. Auf eine kulturelle Differenz zwischen Asylland und Herkunftsland wird nicht verwiesen, da diese dazu benutzt werden könne, Diskriminierung und Verfolgung von Frauen zu erklären und zu rechtfertigen. Universelle Menschenrechte können nach Auffassung der neuseeländischen Rechtsprechung durch nationale Systeme auch Frauen weder gewährt noch entzogen werden.

Es bleibt zu hoffen, daß die europäischen Asylländer den Beispielen der angelsächsischen Überseestaaten folgen und sich der Entwicklung auf dem Gebiet des Schutzes von Flüchtlingsfrauen nicht allein unter Berufung auf hohe Zugangszahlen entziehen.


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