Generic selectors
Nur exakte Ergenisse
Suchen in Titel
Suche in Inhalt
Post Type Selectors

01.07.1998

Flughafenasylverfahren:
Wie Bundesgrenzschutz und Verwaltungsgericht mit einem
fast blinden minderjährigen algerischen Flüchtling umspringen
Paßbeschaffung vor Abschluß des Asylverfahrens wird
vom BGS mit dem Kindeswohl begründet
VG ignoriert fehlende Handlungsfähigkeit
PRO ASYL: Zynismus mit Methode


Übel mitgespielt wird zur Zeit einem 15-jährigen algerischen Flüchtling im Flughafenasylverfahren in Frankfurt. Vorläufige Endstation der „Bemühungen“ des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge und des Verwaltungsgerichtes ist die Einweisung des Minderjährigen in die Psychiatrie.

Der an einer Augenerkrankung leidende und inzwischen auf einem Auge blinde Jugendliche hatte in der Asylanhörung beim Bundesamt angegeben, erst kürzlich hätten vermummte Männer in seinem Elternhaus in Algerien nach ihm gesucht, die Familie bedroht und schließlich seinen Vater erschossen. Möglicherweise sei er selbst unfreiwillig Zeuge eines Vorgangs geworden, der unbe-obachtet bleiben sollte und werde deswegen verfolgt. Als er sich nach dem Mord an seinem Vater an die Polizei mit der Bitte um Hilfe gewandt habe, sei er der Zusammenarbeit mit Terroristen bezichtigt worden. Während eines Polizeiverhörs sei er auf sein rechtes, erkennbar operiertes Auge geschlagen worden, so daß dieses nun vollständig erblindet sei. Das Bundesamt lehnte den Asylantrag als „offensichtlich unbegründet“ ab.

Obwohl Klage beim Verwaltungsgericht eingereicht wurde, teilte der Bundesgrenzschutz der als Pflegerin für den rechtlich nicht handlungsfähigen Flüchtling eingeschalteten Rechtsanwältin mit, daß ihr Schützling einem algerischen Konsulatsvertreter zum Zwecke der Paßbeschaffung vorgeführt werde. Die Rechtsanwältin wies darauf hin, daß sie bis zu einer abschließenden gerichtlichen Entscheidung jedenfalls die Zustimmung zu einem solchen Gespräch nicht erteilen werde. Sie erhielt darauf am 17. Juni 1998 ein Fax des BGS mit dem Inhalt: Die Zwangsvorführung sei nach der Rechtsauffassung des BGS nicht zustimmungsbedürftig. Und : „In diesem Zusammenhang möchte ich Sie darauf hinweisen, daß eine Verweigerung der Zustimmung vorliegend nicht dem Wohl des Kindes entspricht. Denn nur durch die vorgesehene Paßersatzbeschaffungsmaßnahme wird gewährleistet, daß die Staatsangehörigkeit des Minderjährigen (…) bestätigt wird und er sich von daher im Falle einer zu vollziehenden Einreiseverweigerung wieder unter den Schutz der Rechtsordnung seines Herkunftsstaates stellen kann. Da die Paßersatzpapierbeschaffungsmaßnahme zu einer wesentlichen Verkürzung des Aufenthaltes im Transitbereich führt, liegt es im Interesse des Minderjährigen, diese vorzeitig durchzuführen.“

PRO ASYL kritisiert, daß das Asylverfahren im Falle des algerischen Minderjährigen bereits beim Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge unfair gewesen sei. Die damals zuständige (erste) Pflegerin des Minderjährigen habe ausdrücklich an der mündlichen Anhörung beim Bundesamt teilnehmen wollen. Man habe den Jugendlichen jedoch an einem Samstag um 13.00 Uhr angehört, dies der Rechtsanwältin erst vier Stunden zuvor – außerhalb der Öffnungszeiten von Anwaltskanzleien – mitgeteilt und damit das Recht auf Teilnahme an der Anhörung faktisch vereitelt.

Diese Unfairness habe die zuständige Einzelrichterin der 14. Kammer des Verwaltungsgerichtes Frankfurt am Main am 23. Juni 1998 auf die Spitze getrieben, als sie die so bei der Anhörung des nicht verfahrensfähigen Minderjährigen gewonnenen Erkenntnisse ihrem negativen Asylbeschluß zu Grunde gelegt habe: Angesichts der kurzen Fristen im Flughafenasylverfahren sei es nicht unzumutbar, daß sich die gesetzlichen Vertreterinnen oder Vertreter Minderjähriger auf Anhörungen an Samstagen einzustellen hätten.

Ohne den Minderjährigen jemals gesehen oder gar persönlich gehört zu haben zieht die Richterin weitgehende Schlußfolgerungen aus den unter Umgehung der Pflegerin gewonnenen – und möglicherweise unvollständigen – Informationen. Ein Praktikant des Bundesgrenzschutzes hatte geschildert, daß der Jugendliche während einer kurzen Betreuungsphase extrem verzweifelt gewesen und in Tränen ausgebrochen sei. Ähnliches hatte die Rechtsanwältin aus ihren persönlichen Eindrücken geschildert. Einzelrichterin Dembicki: „Die starke emotionale Erregung und das Ausbrechen des Antragstellers in Tränen sagt nichts über den Wahrheitsgehalt der vom Antragsteller geschilderten Ereignisse in Algerien aus. (…) Die im Schriftsatz vom 22.6.98 geschilderte, durch Alpträume und Herzrasen geprägte psychische Verfassung des Antragstellers vermittelt weder ein Einreiserecht noch ist eine Rückführung behindert.“

Es stehe zur Überzeugung des Gerichtes fest, daß der Minderjährige unter Täuschung über seinen Fluchtweg, seine Identität und sein Alter durch eine unglaubhafte Verfolgungslegende aus asylfremden Gründen versuche, in die Bundesrepublik Deutschland einzureisen.

PRO ASYL betrachtet die gesamten Umstände dieses Asylverfahrens als grob unfair und als einen Verstoß gegen die UN-Kinderrechtskonvention. Es sei „blanker Zynismus“, wenn der Bundesgrenzschutz den nach seinen Angaben gefolterten Jugendlichen auf den Schutz der Rechtsordnung seines Herkunftsstaates verwiesen habe. Algerien werde weiterhin von deutschen Behörden bruchlos als Rechtsstaat behandelt, obwohl erwiesen sei, daß der Staat sich im Rahmen der Auseinandersetzung mit Fundamentalisten eine Fülle von Menschenrechtsverletzungen habe zu Schulden kommen lassen. Im Rahmen einer fairen Anhörung des Jugendlichen unter Beteiligung seiner Pflegerin hätte eben dieser Aspekt genauer erkundet werden müssen, denn die vorgetragene Geschichte lege es nahe, daß der Jugendliche Opfer einer Menschenrechtsverletzung von staatlicher Seite geworden sein könne.

Als unerträglich bezeichnet es PRO ASYL-Sprecher Heiko Kauffmann weiter, daß die rechtswidrige Beschaffung von Paßersatzpapieren vor Beendigung des Asylverfahrens als angeblich im Interesse des Kindeswohls und des Minderjährigen selbst liegend bezeichnet werde. In notorisch rechtswidriger Weise stütze sich der BGS auf den Paragraphen 43b Asylverfahrensgesetz. Der allerdings besage lediglich, daß Heimreisedokumente „zum frühestmöglichen Zeitpunkt“ zu beschaffen seien. Der Schutzgedanke des Asylrechts, die Genfer Flüchtlingskonvention und Entscheidungen deutscher Gerichte verböten es aber, dies als einen Zeitpunkt noch vor rechtskräftigem Abschluß des Asylverfahrens zu interpretieren.

Nachdem Bundesgrenzschutz und Bundesamt so zur Verunsicherung des Minderjährigen beigetragen hätten, habe die Einzelrichterin Hinweise zur seelischen Situation des Minderjährigen vom Tisch gewischt, ohne zu versuchen, sich selbst ein Bild zu machen. Die Beschlußbegründung sei voller Mutmaßungen, ohne daß der Jugendliche Gelegenheit gehabt hätte, angebliche Widersprüche aufzuklären.

Der PRO ASYL-Sprecher abschließend: „Die Umgehung von Rechtsanwältinnen und Pflegern durch die Terminierung der Anhörung an Wochenenden kann ebenso wenig hingenommen werden wie die Tatsache, daß Gerichte das Ausmanövrieren der Bevollmächtigten dann auch noch billigen. Es handelt sich um einen Verstoß gegen den Geist der UN-Kinderrechtskonvention.“ Der 15-jährige wurde inzwischen in die Kinderpsychiatrie noteingewiesen. Diagnose: Extremtraumatisierung mit paranoider Symptomatik und Suizidgefährdung.


Nach oben