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TAG DES FLÜCHTLINGS 1990

Flüchtlingsschicksale

Mustafas Kältetod oder: Rückblick auf ein Jahrzehnt der Flucht

Ulrike Pfeil
aus: Schwäbisches Tagblatt, 3. Januar 1990

INHALT

ANALYSEN

FLÜCHTLINGSSCHICKSALE

BEISPIELE UND ANREGUNGEN

  • Grundregeln der Pressearbeit
  • Begrüßungsgeld für Flüchtlinge
  • Aufnehmen oder Ausliefern? -Text für eine Meditation
  • „Wir suchen Asyl in Ihrer Kirche“
  • Aussiedler, Übersiedler, Flüchtlinge: die gleiche Betroffenheit
  • Asylantrag als Eintrittskarte
  • Umfrage in der Fußgängerzone
  • „Bettelmarsch“ gegen drohende Abschiebung

Lange war kein Neujahrsfest von solcher Friedenszuversicht bestimmt wie dieses. Mit welchen Gefühlen aber mögen die Flüchtlinge und Asylsuchenden aus jenen Ländern, die gerade im „Nachrichtenschatten“ liegen, das neue Jahr begrüßt haben: Eritreer und Iraner, Afghanen, Vietnamesen, Chinesen, Somalis und all die anderen. Was, beispielsweise, hätte der türkische Kurde Mustafa Yildirim von den Neunzigern zu erwarten gehabt – einer, für den die Achtziger vor allem das Jahrzehnt von Flucht und Folter waren?

Yildirim, Mustafa, 1945 geboren, Automechaniker von Beruf. Inhaber einer eigenen Werkstatt in Gaziantep und Besitzer von Baumwollfeldern in Kirikhan, im Gebiet nahe der syrischen Grenze. Ein Mann der gehobenen Mittelschicht, Vater von drei Kindern.

Und Kurde, Angehöriger also einer Minderheit, deren Anerkennungsbestrebungen Ende der siebziger Jahre zunehmend mit Pogromen faschistischer Organisationen und später, nach dem türkischen Militärputsch, auch staatlicherseits mit Terror verfolgt wurden. Yildirim hatte auf kurdischen Versammlungen gesprochen und an kurdischen Protestkundgebungen teilgenommen, wie alle seine Verwandten. Und wie sie alle, erlebte er gezielte Feme: Überfälle von faschistischen Gruppen, Messerstiche, Schüsse in die Wohnung, eine Baumwollernte angezündet, die Scheiben der Werkstatt eingeschlagen, zuletzt eine schriftliche Morddrohung. Vor genau zehn Jahren, Januar 1979, flüchtete Yildirim in die Bundesrepublik, seine Familie folgte alsbald. Auch andere Verwandte mußten sich in dieser Zeit in Sicherheit bringen: Einer bekam Asyl in Frankreich; ein Bruder floh in die Schweiz.

Yildirim landete im „Gäu“, bekam einen bescheidenen Job als Schweißer (das Arbeitsverbot für Asylsuchende gab es noch nicht), fand einen Rechtsanwalt in Tübingen, Freunde an seinem Wohnort. Die Familie mußte bescheidener leben als zu Hause; das wog die Sicherheit auf. Doch sie war von beschränkter Dauer: Obwohl Yildirim den Gerichten Beweise vorlegen konnte, aus denen hervorging, daß er in der Türkei auf einer Liste gesuchter Personen stand, wurde sein Asylgesuch abgelehnt. Die Militärs, die inzwischen die Macht übernommen hatten, so die Meinung der deutschen Asylrichter, sorgten doch für Recht und Ordnung.

Sie nahmen sich auch Yildirims an, kaum war er, um einer Abschiebung zuvorzukommen, 1984 „freiwillig“ mit seiner Familie wieder zurückgereist. Schon am Flughafen in Ankara wollte ihn ein Polizist festnehmen; der ließ sich noch mit 500 Mark bestechen. Ein gutes Jahr danach holten sie ihn doch: Eine Woche lang wurde Yildirim in Gaziantep gefoltert, danach 24 Tage lang in den berüchtigten Verliesen von Ankara. Elektroschocks, Stockhiebe, Aufhängen an den Gelenken. Am Ende erlitt er einen Herzanfall. Aus dem Krankenhaus schafften sie ihn sofort wieder ins Gefängnis. Nach neun Monaten bekam er wegen seines Gesundheitszustands Haftverschonung; sein Verfahren wurde jedoch nicht eingestellt. Vier seiner kurdischen Freunde wurden zu je zehn Jahren Haft verurteilt. Und zur Angst vor der Polizei kam noch die Bedrohung durch radikale kurdische Separatisten, die in ihm einen „Verräter“ argwöhnten. „Wenn es im Osten Zusammenstöße gab“, sagte er später, „kam sofort die Polizei, brachte mich weg und folterte mich.“ Schließlich forderte sie Spitzeldienste von ihm.

Mit Hilfe eines Bulgaren und gegen 2000 Mark „Trinkgeld“ gelangte Yildirim im Februar vergangenen Jahres von der Grenzstadt Edirne aus ohne Papiere über die grüne Grenze. Und er schaffte es, irgendwie, in die Bundesrepublik. Aber hier galten inzwischen andere Asylgesetze: Von der Zentralen Aufnahmestelle in Karlsruhe aus stellte er einen neuen Asylantrag. Sein alter Arzt im „Gäu“ belegte die Spuren seiner Folterungen: bläuliche Narben über dem Handgelenk, einen deformierten Zehennagel, Spuren von Elektroschocks an den Genitalien, Schwellungen der Rippen, Schmerzempfindlichkeit am Kreuzbein, „nach Schlägen“.

Asylgrund? Keiner: „Denn dieser Anspruch besteht nach höchstrichterlicher Rechtsprechung dann, wenn der Asylsuchende seinen Heimatstaat aus begründeter Flucht vor staatlicher Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung verlassen hat oder aus diesem Grunde nicht mehr dorthin zurückkehren kann. Das bisherige Vorbringen des Antragstellers reicht für die Glaubhaftmachung einer solchen politischen Verfolgung nicht aus.“ Soweit der Bescheid des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 26. April 1989.

Yildirim hatte es kommen sehen: Noch vor diesen Bescheid war er in einem Anflug von panischer Angst in die Schweiz gefahren, zu seinem Bruder in Fribourg. Dort, hoffte er, würde er mehr Verständnis finden. An einem Novemberabend des Jahres 1989 wurde Yildirim nach einem Lokalbesuch mit Freunden in Fribourg von einer Gruppe jugendlicher angepöbelt und in eine Auseinandersetzung verwickelt. Yildirim wurde von einem 17jährigen Lehrling erschlagen. Ende einer Flucht.

Es soll hier nicht die These vertreten werden, daß Yildirim noch am Leben wäre, hätte ihm die Bundesrepublik Asyl gewährt, schließlich ist auch in Tübingen schon ein Ausländer auf der Straße zu Tode gewürgt worden. Auch als Asylberechtigter hätte Yildirim seinen Bruder in Fribourg besuchen können. Einer aus dem Flüchtlingsstrom der Achtziger; Kältetod nach einer Odyssee mit vielen Qualen. Was hat die Geschichte mit Tübingen zu tun? Hier, in einem Anwaltsbüro, ruht zwischen zwei Aktendeckeln das Dokument eines Fluchtversuchs. Yildirim Mustafa, aufgebrochen 1980, gestorben Ende 1989, auf dem „Platz des kleinen Paradieses“. Sein Tübinger Rechtanwalt sieht nochmals auf das Geburtsdatum: „Am 1. Januar 1990 wäre er 45 Jahre alt geworden.“


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