Generic selectors
Nur exakte Ergenisse
Suchen in Titel
Suche in Inhalt
Post Type Selectors

TAG DES FLÜCHTLINGS 1990

Flüchtlinge im „Karlsruher Loch“

Berthold Münch

Seit Anfang 1989 müssen Flüchtlinge aus einigen Ländern (z. B. Jugoslawien, Libanon, Iran und Türkei), die ihren Asylantrag in Baden-Württemberg stellen, das sogenannte „Karlsruher Modell“ durchlaufen.

Dabei können die Flüchtlinge den Asylantrag nur bei einer Außenstelle der Ausländerbehörde Karlsruhe stellen. Bereits bei der Meldung müssen sie Angaben zu ihrer Person und zu dem Zweck ihres Aufenthaltes in der Bundesrepublik Deutschland machen. Spätestens drei Tage nach der ersten Meldung werden sie von der Ausländerbehörde zu ihrem Asylantrag angehört. Die Anhörung durch das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge erfolgt wenige – höchstens sechs -Tage später. Dies setzt aber voraus, daß die Ausländerbehörde das Gesuch als beachtlichen Asylantrag qualifiziert und die Akten durch das inzwischen traurig berühmte „Karlsruher Loch“ an das Bundesamt weitergereicht hat. Ausländerbehörde und Bundesamt sind Wand an Wand auf dem Gelände der Zentralen Anlaufstelle für Asylbewerber (ZASt) untergebracht; die Akten werden durch einen Durchbruch in dieser Wand (Karlsruher Loch) weitergeleitet.

Während dieses Teils des Asylverfahrens müssen die Flüchtlinge im Lager auf dem Gelände der ZASt wohnen.

Unbestreitbar ist, daß diese Praxis eine ganz erhebliche Beschleunigung der Verwaltungsverfahren bringt. Dies ist zu begrüßen, weil es gerade auch die langen Wartezeiten unter bewußt abschreckenden Bedingungen waren, die zu erheblichen Belastungen der Flüchtlinge geführt hatten.

Nachdem jedoch praktische Erfahrungen mit dem „Karlsruher Modell“ vorliegen, muß eine sofortige Abschaffung dieser Praxis nachdrücklich gefordert werden. Denn es kristallisiert sich immer klarer heraus, daß das Ziel des „Karlsruher Modells“ nicht etwa eine Humanisierung der Asylverfahren ist. Vielmehr ist deutlich festzustellen, daß es den Erfindern des Modells in erster Linie darauf ankommt, Flüchtlinge möglichst schnell im zentralen Lager zu isolieren, sie ohne seriöse Beratung durch das Verfahren zu schleusen, um sie rascher wieder abschieben zu können.

Diese Praxis ist verfassungswidrig. Das Grundrecht auf Asyl (Artikel 16 Abs. 2 Satz 2 GG: „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht“) sichert den Asylanspruch des Flüchtlings auch in verfahrensrechtlicher Hinsicht. Danach haben Flüchtlinge das Recht, sich ordentlich auf ihr Asylverfahren vorzubereiten und unabhängige Beratung in Anspruch zu nehmen. Dazu benötigen sie insbesondere ein vernünftiges Maß an Zeit.

Dies gilt um so mehr, als Flüchtlinge in aller Regel große Schwierigkeiten haben, unser Rechtssystem zu durchschauen. Sie stehen noch unter dem Schock der Flucht. Viele haben mit Behörden nur schlechte Erfahrungen gemacht. Es ist schlechthin unbegreiflich, wie etwa einem Folteropfer zugemutet werden kann, innerhalb weniger Tage nach seiner Ankunft seine Leiden frei vor einer Behörde darzustellen. Auch Frauen, die sexuell verfolgt wurden, bedürfen besonders einfühlsamer und geduldiger Zuwendung. Nicht unerwähnt sollen auch die Verständigungsschwierigkeiten bleiben.

Das „Karlsruher Modell“ schließt ein vernünftiges Verfahren aus. Die Anhörungen bei der Ausländerbehörde dauern in aller Regel nur wenige Minuten. Das Bundesamt kann sich in der überwältigenden Mehrzahl der Verfahren auch nicht genügend Zeit nehmen. Die personelle Ausstattung der Behörden spottet jeder Beschreibung; es herrscht ein unbeschreiblicher Zeitdruck. Die Konzentration der Flüchtlinge an einem Ort macht seriöse Beratung in der zur Verfügung stehenden Zeit unmöglich.

Dies ist um so bedenklicher, als den ersten Erklärungen der Flüchtlinge für das gesamte weitere Asylverfahren ausschlaggebende Bedeutung beigemessen wird. Es ist nur in ganz besonders gelagerten Ausnahmefällen möglich, Versäumnisse bei den ersten Anhörungen später im Gerichtsverfahren richtig zu stellen.

Daß die hier vorgebrachten Bedenken gegen das „Karlsruher Modell“ nicht rein theoretischer Natur sind, zeigt in bedrückender Weise das Schicksal eines 17-jährigen syrisch-orthodoxen Mädchens aus der Osttürkei. Sie war zusammen mit ihrer Mutter und ihren unter 16 Jahren alten Geschwistern – der Vater ist verstorben – nach Karlsruhe gekommen. Die Ausländerbehörde qualifizierte ihr Gesuch nicht als Asylantrag. Da die Familie mit gefälschten Papieren in die Bundesrepublik flüchten mußte, verfügte die Ausländerbehörde gegen die Christin die Ausweisung und ordnete Sofortvollzug an. Das Mädchen wurde festgenommen. Dieses Vorgehen war umso erstaunlicher, als die Gesuche der Mutter und der Geschwister als Asylanträge ohne aufenthaltsbeendende Maßnahmen an das Bundesamt weitergeleitet worden waren. Der Mutter gelang es schließlich, rechtskundige Hilfe zu erlangen. Wenige Stunden vor der Abschiebung am Freitagmittag gewährte das Verwaltungsgericht einstweiligen Rechtsschutz und wendete die Abschiebung ab.

Es ist überdeutlich, daß das „Karlsruher Modell“ die grundlegenden Rechte der Flüchtlinge mißachtet. Es macht sie zu Opfern eines für sie nicht durchschaubaren Verfahrens und nimmt in Kauf, daß Flüchtlinge um den so dringend benötigten Schutz betrogen werden. Es muß sofort eingestellt werden. Das Karlsruher Loch muß zugeschüttet werden; in ihm darf kein einziger Flüchtling verschwinden.

Berthold Münch ist Rechtsanwalt und im Vorstand des Arbeitskreises Asyl in Baden-Württemberg e.V.

Nach oben