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TAG DES FLÜCHTLINGS 1995

Festung Europa

Die Odyssee eines Deserteurs aus Kosova

KOSOVO-Albaner fliehen seit Jahren in großer Zahl aus ihrer Heimat, die von serbischer Armee und Polizei faktisch besetzt ist. Sie entziehen sich der Einberufung zum Militärdienst oder fliehen nach Repressionen und Mißhandlungen. Selbst die Lageberichte des Auswärtigen Amtes sprechen von Mißhandlungen, Folterungen und von ethnisch begründeter Diskriminierung. Die Fakten liegen offen zutage: Bereits vor Jahren sind die meisten Albaner aus ihren Arbeitsverhältnissen entlassen worden und haben so ihre wirtschaftliche Existenzgrundlage verloren. Die Schulen und Universitäten sind geschlossen worden, die Unterdrückung albanischsprachiger Medien, die Verdrängung von Albanern aus ihren Siedlungsgebieten im Rahmen einer geplanten Serbisierungspolitik sind durch Berichte vieler Menschenrechtsorganisationen bestätigt. Im Wall Street Journal vom 25.8.1994 faßte Paula Dobriansky, ehemalige Direktorin im Nationalen Sicherheitsrat der USA ihre Eindrücke so zusammen: »Die serbische Strategie ist: die ethnische Struktur Kosovas durch die institutionalisierte Diskriminierung und Unterdrückung durch den Staat zu verändern. Das Ziel ist die ethnische Säuberung ohne offenen Krieg, im Augenblick mit den Mitteln täglicher Polizeigewalt. «

Anders als einige Oberverwaltungsgerichte sieht das Bundesverwaltungsgericht allerdings keine Gruppenverfolgung der Kosovo-Albaner. Zwar gebe es eine Vielzahl von Fällen, in denen Albaner mißhandelt, festgenommen oder anderweitig unterdrückt worden und in Einzelfällen sogar zu Tode gekommen seien und damit zahlreiche Fälle politischer Verfolgung. Eine Gruppenverfolgung setze indessen voraus, daß die Verfolgung sich gegen alle Angehörigen dieser Volksgruppe richten würde. Praktisch jeder Albaner müsse jederzeit zu befürchten haben, Opfer eines Übergriffes zu werden.

Eine Absicht der serbischen Seite bei der Vertreibung der Albaner sieht das Bundesverwaltungsgericht nicht (AZ: BVerwG 9 C 158.94 – Urteil vom 5. Juli 1994).

Umstritten ist, welche Strafen Deserteure und Kriegsdienstverweigerer aus Kosova zu erwarten haben. Von einigen Menschenrechtsorganisationen wird der Verdacht geäußert, daß die Einberufungs-und Zwangsrekrutierungspraxis serbischer Behörden hauptsächlich darauf ziele, die Betroffenen aus dem Lande zu treiben. Jedoch nennt ein Bericht der Gesellschaft für bedrohte Völker vom 7. Oktober 1994 auch Fälle fahnenflüchtiger Männer, die sich innerhalb Kosovas versteckt hatten oder ins Ausland geflohen waren und später inhaftiert wurden.

Nur die Weigerung der Behörden Restjugoslawiens, abgeschobene Flüchtlinge zurückzunehmen, verhindert zur Zeit eine Abschiebung von im Asylverfahren abgelehnten Kosovo-Albanern in ihre Heimat. Einige Bundesländer versuchen es dennoch immer wieder, zumeist über Nachbarstaaten! Für die, die jetzt noch fliehen wollen, sind durch die weitgehende Abschottung der westeuropäischen Staaten die Fluchtwege komplizierter geworden. Wer ein nach der deutschen Gesetzgebung sicheres Drittland durchquert hat, muß damit rechnen, ohne inhaltliche Prüfung der Asylgründe dorthin zurückgeschickt zu werden. Ob er oder sie dort einen Asylantrag stellen kann oder Gefahr läuft, weitergeschoben zu werden, interessiert deutsche Behörden nicht. Der Fall des albanischen Deserteurs Besim Osmani zeigt einen Ausschnitt aus der Realität:

»Sie schickten mich zurück über die Grenze«

Ich heiße Besim Osmani. Ich bin am 04.08.1975 in Lisock im Kosova geboren. Ich bin Albaner. Ich habe in Kosova eine private albanische Schule besucht (Anfang 1992 war die staatliche albanische von der serbischen Regierung geschlossen worden). Sechs Wochen bevor ich mein Abschluß-Diplom bekommen sollte, habe ich mich entschlossen, aus Kosova zu fliehen, weil ich meinen zweiten Einberufungsbefehl (für die Armee Serbiens, Red.) bekommen hatte. Ich mußte mich vor der Polizei bei Verwandten und Bekannten verstecken.

Am 2. März 1994 begann meine Flucht. Am nächsten Tag habe ich die jugoslawisch-mazedonische Grenze illegal zu Fuß überschritten. Da ich die öffentlichen Verkehrsmittel nicht benutzen konnte – ich hatte ja kein Visum – nahm ich in Skopje (Hauptstadt Mazedoniens, Red.) Kontakt mit einem LKW-Fahrer auf, der mich über Bulgarien und Rumänien bis zur ungarischen Grenze mitnahm. Dort mußte ich aussteigen und illegal die Grenze überqueren. Für 200 DM half mir ein ungarischer Grenzbeamter dabei.

Hinter der Grenze hat mich derselbe LKW-Fahrer wieder aufgenommen und bis nach Bratislava in Tschechien mitgenommen. Wir wollten in einem Hotel absteigen, wurden aber abgewiesen, weil ich kein Visum hatte. Um Mitternacht sind wir schließlich in einer Pension untergekommen, in der man sich nicht für meine Papiere interessierte. Dort trafen wir noch mehr Albaner. Am nächsten Morgen sind wir – inzwischen zu acht – mit Taxen zum Bahnhof gefahren. Wir wollten einen Weg über die deutsch-tschechische Grenze suchen und in Deutschland Asyl beantragen.

Zu Fuß über die Grenzen

Zunächst sind wir mit dem Zug nach Prag gefahren. Während der Fahrt kontrollierte ein Schaffner unsere Fahrkarten und die Papiere. Als er merkte, daß wir ohne Visa waren, nahm er uns die Fahrkarten ab und gab uns neue – nach Bratislava zurück. Wir sollten am nächsten Bahnhof aussteigen und zurückfahren. Wir boten ihm 50 Mark pro Person. Er verlangte 100. In unserer Not blieb uns nichts anderes übrig, als zu zahlen. Nachdem wir ihm insgesamt 800 Mark gegeben hatten, gab er uns unsere Fahrkarten zurück und ließ uns weiterfahren. Am Prager Bahnhof waren sehr viele Polizisten. Um nicht aufzufallen, trennten wir uns. Danach sahen wir uns nie wieder.

Per Anhalter fuhr ich allein weiter nach Pilsen. Dort traf ich einen Albaner, der mir eine Übernachtungsmöglichkeit besorgte. Am nächsten Morgen bot er mir an, mich für 800 Mark über die tschechisch/deutsche Grenze zu bringen. Ich lehnte ab, weil es mir zu teuer war. Ich hatte erfahren, daß ich im Grenzort Toplica für weniger Geld Unterstützung bekommen könnte. Das war leider ein Irrtum. Dort mußten wir uns vor der Polizei verstecken. Schließlich fanden wir zwei Grenzbeamte, die uns am 10. März für 800 Mark pro Person zu Fuß über die Grenze führten.

Kein Asyl in Deutschland

Jenseits der Grenze warteten zwei Taxis mit tschechischen Chauffeuren auf uns. Mit drei albanischen Männern fuhren sie uns bis nach Bielefeld. Nachdem wir dort am nächsten Morgen ankamen, beantragte ich noch am gleichen Vormittag in der ZAB »Asyl« (ZAB: »Zentrale Ausländerbehörde«). Nach meiner Anhörung wurde ich in der Gemeinschaftsunterkunft Detmold untergebracht. Am frühen Morgen des 17. oder 18. März kamen zwei Männer in Zivil in meinen Schlafraum. Sie verlangten meine Papiere und forderten mich auf, mitzukommen. Da ich kein Deutsch verstehe, sagten sie mir: »Komm, komm!« Einer ging mit mir zur Toilette. Ich habe meine Sachen gepackt und sie haben mich mit einem Kombi zur ZAB nach Bielefeld gebracht. Ohne was zu erklären, wurde dort von mir verlangt, ein Papier zu unterschreiben. Als ich mich weigerte, wurde ich mit Handschellen gefesselt. Sieben bis acht Personen, darunter zwei Frauen, haben zugesehen. Ich habe geweint und war ganz durcheinander. Ich weiß nicht genau, ob ich doch noch unterschrieben habe.

In Abschiebehaft: Zu fünft in einer Zelle

Zusammen mit einem Mann, der ebenfalls gefesselt war, brachten mich die gleichen Männer, die mich von Detmold abgeholt hatten, anschließend mit dem Kombi in ein Gefängnis. Ich weiß bis heute nicht, wo ich mich befunden habe. Auch hier wurde mir nichts erklärt. Wir wurden an der Pforte abgegeben und durchsucht. Dabei mußten wir uns nackt ausziehen. Alle Sachen wurden uns abgenommen und in eine Liste eingetragen. Ich bekam Kleidung und wurde in eine Zelle mit sechs Betten geschoben. Mit mir waren vier Männer in diesem Raum eingesperrt. Ich glaube, es waren Araber. Nach dem Abendessen durfte ich albanische Landsleute besuchen, die ebenfalls eingesperrt waren. Einer von ihnen erklärte mir, daß ich in die Tschechische Republik abgeschoben würde.

Anschließend mußte ich in meine Zelle zurückkehren. Dort erlebte ich eine der schrecklichsten Nächte meines Lebens. Während die anderen Haschisch rauchten und schrieen, lag ich ängstlich auf meinem Bett. Meine Nase brannte, die Augen tränten. Schließlich zwangen sie mich, einem der Männer den Rücken zu kratzen. Sie haben mich bedroht. Die ganze Nacht habe ich große Angst ausgestanden. Am nächsten Morgen kam ein Wächter und brachte das Frühstück. Ich umklammerte ihn und habe ihn erst losgelassen, nachdem er mir versprach, mich hinauszubringen. Wenn ich in dieser Nacht etwas gehabt hätte, um mich umzubringen, ich glaube, ich hätte es getan.

Zusammen mit drei bis vier Türken bekam ich eine andere Zelle. Dort hatte ich keine Probleme. Ich war drei bis vier Tage im Gefängnis. Während dieser Zeit erhielt ich keinerlei Informationen durch die Beamten. Dolmetscher gab es nicht.

In der Nacht zum 23. März wurde ich von zwei Zivilisten abgeholt und zusammen mit vier Polen in einem Kombibus weggefahren. An der polnischen Grenze sind die vier Polen ausgestiegen. Ich wurde zur tschechischen Grenze gefahren. Am Grenzübergang wurden mir von den deutschen Grenzbeamten die Papiere gegeben. Wo das war, weiß ich nicht, denn die haben nicht mit mir geredet. Es gab wiederum keinen Dolmetscher. Niemand sagte mir, daß ich in der Tschechischen Republik Asyl beantragen sollte. Ich wurde zwei uniformierten Grenzbeamten übergeben, die mir von 23 Mark, die mir geblieben waren, 20 abnahmen.

Die Grenzbeamten brachten mich zu einer Bushaltestelle in der Nähe, bezahlten eine Fahrkarte und setzten mich in einen Bus nach Toplica, von wo aus ich am 10. März 1994 nach Deutschland gekommen war. Dort tauschte ich die 3 Mark, die mir geblieben waren, in Kronen um. Von einer Telefonzelle aus rief ich einen Albaner an, der mir auf dem Hinweg geholfen hatte. Er lud mich ein, zu ihm zu kommen. Von ihm erfuhr ich, daß ich in der Tschechischen Republik Asyl beantragen müßte.

Verhaftung in Tschechien

Am nächsten Tag rief ich zu Hause in Kosova an. Vor zwei Tagen, berichteten meine Eltern, seien Polizisten mit einem Einberufungsbefehl für mich bei ihnen gewesen. Sie hätten nach mir gefragt und verlangten von meinen Eltern, daß sie den Einberufungsbefehl annähmen, aber sie haben sich geweigert. Ich wußte nun, daß ich nicht nach Hause zurückkehren durfte.

Einen Tag später wurde ich von tschechischen Zivilpolizisten erwischt. Sie verlangten meine Papiere und sahen, daß ich bereits in Deutschland gewesen war, (die Ausländerbehörden der Bundesrepublik stempeln einen entsprechenden »Sichtvermerk« in den Paß, Red.). Ich dürfte deshalb in der Tschechischen Republik kein Asyl beantragen, behaupteten sie. Mit einem Zivil-Auto haben mich vier Zivilpolizisten zur Polizeiwache gebracht. Dort mußte ich eine Körperdurchsuchung über mich ergehen lassen. Dabei wurde ich schikaniert und auf die Füße getreten. Sie fragten mich nach Geld und machten Photos von mir. Eine Dolmetscherin, die dabei war, übersetzte schlecht. Sie schrie auf mich ein: »Du mußt zurück nach Deutschland. Wenn wir dich noch einmal erwischen, kommst du für mindestens drei Monate ins Gefängnis. Wir geben dir einen Tag Zeit.« Ich glaube, sie ließen mich nur frei, weil ich behauptet hatte, daß heute meine Tante aus der Schweiz kommen wird, um mir zu helfen.

Doch Asyl in Bielefeld?

Nach meiner Freilassung bin ich wieder zu meinem Freund zurückgegangen. Dort waren einige Albaner, die mir helfen wollten. Ich machte mich noch am selben Abend mit drei Albanern auf den Weg. Als wir das Taxi verließen, um zu Fuß über die Grenze zu gehen, wurden wir von tschechischen Grenzbeamten gestellt. Sie sperrten uns in einen Raum. Sie ließen uns laufen, nachdem einer von uns, der Geld dabei hatte, einem Beamten 1.200 Mark gegeben hatte. Dann riefen sie uns ein Taxi, das uns nach Toplica zurückbrachte. Ich übernachtete wieder bei meinem albanischen Freund. Am nächsten Tag sind die anderen drei geflohen. Ich hatte Angst und blieb auf meinem Zimmer. Mein Freund hat für mich gesorgt. Er organisierte einen tschechischen Fahrer mit seinem Privatauto und nahm Kontakt zu einer Frau aus meinem Heimatort auf, die in Frankfurt lebt.

Dorthin sollte ich gebracht werden. Um zwei Uhr nachts sind wir zur deutschen Grenze gefahren. Unter der Führung eines Tschechen sind wir zu Fuß über die Grenze gegangen. Drei Stunden später hat uns der tschechische Fahrer hinter der Grenze wieder eingeladen. Nachmittags waren wir in Dresden. Ich wurde dort bei einem Albaner abgesetzt, der mich nach Frankfurt brachte. Meine Bekannte zahlte 1100 Mark für meine zweite Flucht – 800 Mark für die beiden Fahrer und 300 Mark für meinen albanischen Helfer in Toplica.

Quelle: Stadtblatt Nr. 33 vom 11.08.1994 Übersetzung: Bielefelder Flüchtlingsrat. Geringfügig gekürzt.

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