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TAG DES FLÜCHTLINGS 2000

Eltern haften ohne ihre Kinder

Eine Politikerin kauft eine Mutter aus dem Knast –
und bekommt die erwünschte Debatte über unsinnige Strafen

Vera Gaserow

Herausgegeben zum Tag des Flüchtlings am 29. September 2000

Herausgeber: PRO ASYL, Arbeitsgemeinschaft für Flüchtlinge mit freundlicher Unterstützung von: Deutsche Stiftung für UNO-Flüchtlingshilfe e.V., Deutscher Caritasverband e.V., Interkultureller Beauftragter der Ev. Kirche in Hessen und Nassau, Kirchlicher Entwicklungsdienst der Evangelischen Kirche in Deutschland durch den ABP, Land Hessen.

Der Tag des Flüchtlings findet im Rahmen der Woche der ausländischen Mitbürger/Interkulturellen Woche (24. bis 30. September 2000) statt und wird von PRO ASYL in Zusammenarbeit mit dem Ökumenischen Vorbereitungsausschuß zur Woche der ausländischen Mitbürger vorbereitet.

INHALT

Beispiele und Anregungen

Was kann man mit 415 Mark machen? Den letzten Stand-by-Flug Richtung Sonne ergattern. Sich einen neuen Wintermantel zulegen. Den Freunden eine Lokalrunde spendieren oder an der Börse spekulieren. Man kann aber auch, jeder Finanzminister würde verklärte Augen bekommen, 415 Mark investieren, um dem Staat 30.000 Mark Kosten zu sparen.

In Berlin hat das die Jugendstadträtin des Bezirks Lichtenberg gerade vorexerziert und die CDU kann nur »politisch empörend« finden, womit Stadträtin Stefanie Schulze da den Staatshaushalt entlastet: Die PDS-Frau hat ins eigene Portemonnaie gegriffen, um – ganz legal – eine 41-jährige Bulgarin aus einem Berliner Gefängnis »freizukaufen«. Am Mittwoch früh öffneten sich die Gittertore für Milka I., und die Stadträtin hatte mit ihren 415 Mark Ausgaben in fünfstelliger Höhe eingespart – und dafür der Politik eine überfällige Debatte eingebrockt.

Das Ganze begann mit einem Anruf bei der Jugendstadträtin, den man sich ungefähr so vorzustellen hat: »Hier Kindernotdienst. Bei uns ist gerade ein vierjähriges Mädchen von der Polizei abgeliefert worden. Weint erbärmlich, verweigert Nahrung, spricht kein Deutsch. Mutter ist für 55 Tage in Haft. Bitten das Jugendamt um Kostenübernahme für Heimunterbringung. Macht für die Dauer der Abwesenheit der Mutter runde 20.000 Mark.«

Stadträtin Schulze schluckte und fuhr ins Frauengefängnis Lichtenberg. Dort saß die Mutter des kleinen Mädchens, Milka I. aus Bulgarien, die zum zweiten Mal – und voraussichtlich wieder erfolglos – in Deutschland Asyl beantragt hat. Mit ihrer Tochter war die 41- Jährige illegal eingereist und bei Freunden untergekommen – bis die Polizei sie ins Gefängnis abführte. Denn die Bulgarin hatte noch von ihrem ersten Aufenthalt in Deutschland eine Geldstrafe über 375 Mark offen. Zu 55 Tagessätzen hatte ein Gericht sie wegen verschiedener Delikte verurteilt, unter anderem, weil sie von Berlin nach Dresden gefahren war, was ihr als Asylbewerberin verboten war.

Als die Polizei Milka I. aufgriff, war die Geldstrafe durch Mahn- und Verwaltungsgebühren auf 445 Mark angewachsen. Eine Summe, die die Bulgarin nicht hatte, und die Justiz tat das, was in solchen Fällen bundesweit die Regel ist: Sie ordnete ersatzweise eine Freiheitsstrafe an. Für jeden Tagessatz Geldstrafe ein Tag Knast. So sieht es das Gesetz für all diejenigen vor, die ihre Strafe nicht zahlen können oder wollen. Rein rechnerisch hieß das im Fall von Milka I.: Jeden Tag eine Strafe von acht Mark absitzen, 55 Tage lang, tägliche Haftkosten für den Steuerzahlen 176 Mark, plus Heimkosten für die Tochter, Tagessatz 350 Mark.
Dabei ist Milka I. keine Ausnahme. Als die Polizei sie zum Strafantritt abholte und ihre völlig verstörte Tochter beim Kindernotdienst ablieferte, saßen zur gleichen Zeit in Berlin noch 355 an- dere Gefangene allein deshalb hinter Gittern, weil sie Geldstrafen nicht bezahlt hatten.

Für Milka I. tat das nun stellvertretend Jugendstadträtin Schulze. Für 415 DM, einige Tage hatte die inhaftierte Bulgarin schon abgebüßt, löste die PDS-Politikerin die Mutter aus und ersparte der kleinen Tochter die weitere Heimunterbringung. »Für mich war das Schicksal des Kindes entscheidend«, begründet die Stadträtin die »Freikaufaktion«, »im Sinne des Kindeswohls, aber auch unter finanziellen Gesichtspunkten ist eine Inhaftierung eine völlig unverhältnismäßige und sinnlose Entscheidung. Ich wollte eine öffentliche Debatte darüber lostreten.«

Das scheint gelungen. Während die Ber- liner CDU poltert, stimmt die Justizverwaltung der Jugendstadträtin eher zu. »Kriminalpolitisch machen diese Ersatzfreiheitsstrafen keinen Sinn.« Schon seit Jahren sucht man parlamentarisch nach Auswegen aus dem Dilemma, dass eine jährlich steigende Zahl von Delinquenten nur deshalb hinter Gittern landet, weil bei ihnen finanziell nichts zu holen ist.
Übrigens: Sollte das Beispiel der Jugendstadträtin Schule machen, böte sich nicht nur in Berlin den öffentlichen Haushalten ein stattliches Einsparpotential: Allein die Hauptstadt gibt dafür, dass Strafen nicht bezahlt werden, 62.000 Mark Haftkosten aus – jeden Tag.

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