TAG DES FLÜCHTLINGS 1995
Ein natürlicher Tod
INHALT
- Grußwort der Vertreterin der Hohen Flüchtlingskommissarin der Vereinten Nationen (UNHCR) in der Bundesrepublik Deutschland
- Kriegsflüchtlinge brauchen eine Lebensperspektive
-
GRENZEN: LAND, WASSER, LUFT
- Justizlotto am Flughafen
- Kein faires Verfahren für nigerianische Flüchtlinge
- Datenschutz ist Flüchtlingsschutz
- Ein natürlicher Tod
- Deutsche Ufer – Tod an der Grenze
- Festung Europa: Die Odyssee eines Deserteurs aus Kosova
- Verhaftet, gefoltert, verschwunden – wenn deutsche Behörden abschieben
- Lageberichte des Auswärtigen Amtes: Verharmlosung von Menschenrechtsverletzungen?
- Zweierlei Wahrnehmungen: Behördliche Auskünfte und die Realitäten vor Ort
IN DEN HERKUNFTSLÄNDERN
Am 30.08.1994 gegen 14.30 Uhr verstarb an Bord einer Lufthansamaschine der dreißigjährige nigerianische Staatsangehörige B. Er sollte nach Lagos abgeschoben werden. Ein Arzt und vier Beamte des BGS sollten nach Lagos mitfliegen. Es handelte sich um den vierten Abschiebungsversuch. B. wurde gefesselt in das Flugzeug gebracht. Gegen 14.00 Uhr verabreichte ihm der Arzt ein Beruhigungsmittel, weil ihm dies wegen des Erregungszustandes aus medizinischer Sicht angezeigt erschien. Gegen 14.20 Uhr wurde ein Notarzt und ein Rettungswagen herbeigerufen, der unmittelbar danach eintraf. Gegen 14.25 Uhr konnte der herbeigerufene Notarzt nur noch den Tod feststellen. […]
Das vorläufige Obduktionsergebnis erbrachte u.a.: »Einen krankhaften Befund des Herzens«. Das »vergrößerte Herz… lag dabei über dem sog. kritischen Herzgewicht«. »Zusätzlich wies der Herzmuskel Narben auf, die auf alte Entzündungen schließen lassen. B. litt darüber hinaus an chronischer und akuter Kreislaufschwäche«. […]
Der o. a. Befund war geeignet, den plötzlichen Tod aus natürlicher innerer Ursache herbeizuführen, wobei die chemisch-toxikologischen Untersuchungen noch nicht abgeschlossen sind.
[…] Die an sich unübliche Mitteilung des vorläufigen Obduktionsergebnisses erfolgt ausnahmsweise, um den in diesem Fall geäußerten unterschiedlichen Gerüchten entgegenzutreten.
Diese Presseerklärung der Sprecherin der Frankfurter Staatsanwaltschaft, Hildegard Becker-Toussaint, vom 1. September 1994 machte ihn öffentlich: Den »Betriebsunfall« im Alltag der Massenabschiebung. Um welche Art von Gerüchten es sich gehandelt haben könnte, läßt sich einer weiteren Presseerklärung der Staatsanwaltschaft vom 5. Oktober 1994 entnehmen, die der Öffentlichkeit erneut die Annahme eines natürlichen Todes nahe legt: »Entgegen anders lautenden Darstellungen ist in dem bisher vorliegenden (einzigen) vorläufigen Obduktionsgutachten von einer Todesursache durch Ersticken nicht die Rede. Das bisherige Obduktionsergebnis legt vielmehr die Annahme eines Herztodes nahe. Insofern wird auf die Presseerklärung vom 1. September 1994 Bezug genommen.
Dem Verstorbenen war für den Transport ein Beißschutz angelegt worden, zum Schutz der Beamten vor Verletzungen durch Bisse, nachdem er gedroht hatte, er werde Beamte beißen, er habe Aids. Der Verstorbene war im Zusammenhang mit vorangegangenen Abschiebungsversuchen wegen erheblicher Gewalttätigkeit aufgefallen.«
Kaum etwas wäre wohl an die Öffentlichkeit gedrungen, hätten nicht einige Besatzungsmitglieder, unter ihnen der Flugkapitän, ausgepackt.
Gerüchte besagten, es hätte einen zweiten Obduktionsbefund gegeben: Man habe Zeichen für Erstickung gefunden.
Die mangelhafte Informationspolitik und die auffälligen Widersprüche der Darstellung der Vorgänge veranlaßten PRO ASYL gemeinsam mit den Ärzten zur Verhütung eines Atomkrieges – Ärzte in sozialer Verantwortung e.V. (IPPNW) und dem Verein demokratischer Ärztinnen und Ärzte der Staatsanwaltschaft einen Fragenkatalog mit 18 Punkten den Fall Kola Bankole betreffend zu übermitteln. So wurde etwa gefragt:
- Sind die leergespritzten Ampullen durch den Arzt aufgehoben und sachgerecht nach Menge und Injektionszeit dokumentiert worden?
- Sind die leeren Ampullen und die medizinische Dokumentation durch die Staatsanwaltschaft sicher gestellt worden?
- Falls ja, warum äußerte sich die Staatsanwaltschaft Frankfurt zwar kurz nach Bekanntwerden des Todesfalles zum Herzbefund, der ein überkritisches Herzgewicht ergeben und einen natürlichen Tod nahegelegt haben soll, »um unterschiedlichen Gerüchten entgegenzutreten«, nicht aber zu der Frage, welche Medikamente in welcher Dosierung verwendet worden sind?
- Warum wird erstmals nach fünf Wochen und nur aufgrund des Anstoßes durch den offenen Brief der Ärzteorganisationen die Verwendung eines sog. »Beißschutzes« zugegeben, ohne daß auf Nachfrage von Journalisten weitere Angaben zu dessen Aussehen und Funktion gemacht werden? Ist dieser »Beißschutz« von der Staatsanwaltschaft sichergestellt worden?
- Kann durch einen solchen »Beißschutz« die Atmung beeinträchtigt werden?
- Haben die Ermittlungen bislang Ergebnisse gebracht, die geeignet sind zu beurteilen, ob durch die kombinierte Anwendung einer Betäubungsspritze und eines technischen Hilfsmittels, zumindest aber eines sog. »Beißschutzes«, zusätzliche Risiken entstanden sind, die bei der jeweils einzelnen Verwendung eines dieser Mittel nicht entstanden wären?
- Für den Fall, daß keine Anhaltspunkte für eine Einengung der Atemwege durch Außeneinwirkung festgestellt werden konnten: Wurde ein Guedeltubus zum Freihalten der Luftwege während des Abschiebungsvollzuges und Betäubungsmedikation eingeführt; um bei einem eventuellen Eintreten von Bewußtlosigkeit ein Ersticken zu vermeiden oder sofort beatmen zu können?
- Wenn nein: Wäre eine solche übliche Maßnahme bei Anlegen des sog. »Beißschutzes« überhaupt möglich gewesen?
Die Antworten stehen bis heute aus. Immer klarer wird, daß es sich bei dem Fall Kola Bankole nur um die Spitze eines Eisberges handelt. Kein Linienflug nach Nigeria oder in andere »Abschiebeländer« ohne einen oder mehrere abgelehnte Asylbewerber hinten in der Maschine, vorne die nichts ahnenden Passagiere. Einige wehren sich in ihrer Angst und erregen so Aufmerksamkeit bei Passagieren und Besatzung. Um das zu verhindern, werden offenbar Knebel und Beruhigungsspritzen eingesetzt. Ein Flugkapitän spricht öffentlich von einem vorangegangenen Abschiebungsversuch: Ein Mensch sei von Beamten des BGS gewaltsam die Flugzeugtreppe hinauf gezerrt worden und habe gefesselt immer noch heftige Gegenwehr im Flugzeug geleistet. Als Flugkapitän habe er es abgelehnt, den Gefesselten in diesem Zustand mitzunehmen. Daraufhin hätten die BGS-Beamten ihm angeboten, den Abzuschiebenden narkotisieren zu lassen. Auch das habe er abgelehnt.
Weitere Informationen aus Kreisen der Flugbegleiter folgen. Es wird behauptet, daß der BGS auf Abschiebeflügen Flüchtlinge auch mit einem Pflaster über Mund und Nase ruhig stellen soll, damit das Schreien nicht andere Passagiere aufmerksam macht. Dr. Winfried Beck schreibt in der Zeitschrift Dr. Mabuse, Ausgabe Dez./Jan. 1994/95: «Nach Zeugenaussagen werden bei sich widersetzenden Asylbewerbern regelmäßig gedrillte Stofftücher zwischen die Zahnreihen gezogen, hinter dem Nacken zusammengeschnürt und das Ganze dann mit breiten Klebestreifen befestigt. Tödliche Folgen sind unter diesen Bedingungen nicht gerade überraschend, trotz oder gerade wegen einer gleichzeitig vorliegenden Herzerkrankung.«
Die Risiken solcher Methoden müßten dem BGS auch aus anderen Gründen bekannt sein: Im Jahre 1992 war ein Rumäne bei einer Abschiebung aus den Niederlanden an einem Klebestreifen über Mund und Nase fast erstickt. Er erblindete teilweise und sitzt seit dem Vorfall im Rollstuhl.
Die seltsame Informationspolitik der Frankfurter Staatsanwaltschaft führt dazu, daß alte Pressemeldungen neu gelesen werden. So hatte die TAZ vom 8. Mai 1993 über den Fall einer etwa vierzig- bis fünfzigjährigen Frau berichtet, die wenige Tage zuvor von BGS-Beamten im Transitbereich des Frankfurter Flughafen aufgegriffen worden war, weil sie einen total verwirrten Eindruck gemacht habe. In eine Einzelzelle des BGS im Flughafengebäude gesperrt, habe man sie später leblos neben ihrer Pritsche gefunden. Ein Polizeisprecher referiert die Vermutung des Arztes, die Frau habe in der Zelle Selbstmord begangen, denn im Rachen der Toten hätten sich Textilfetzen befunden. Laut Frankfurter Rundschau vom 13. Mai 1993 wird nach dem Ergebnis der Obduktion ein Fremdverschulden ausgeschlossen. Die ungewöhnliche Art des Selbstmordes erregt ein Jahr später erneut Aufsehen als sich herausstellt, daß bei ihr die Teile eines zerbrochenen Gebisses in Speiseröhre und Magen und angeblich auch Klebebandreste im Rachen gefunden worden sind. Ein Fall für das gerichtsmedizinische Raritätenkabinett? Oder ein Hinweis darauf, daß Knebel nicht nur bei Abschiebungen Verwendung finden?
Heute, im März 1994, läßt sich im Fall des Todes von Kola Bankole einiges wie ein Puzzle zusammensetzen, einiges aus guten Gründen vermuten. Die Staatsanwaltschaft schweigt. So etwa könnte es auf den Frankfurter Flughafen am 30. August 1994 ausgesehen haben: Es hat sich diesmal ein Flugkapitän gefunden, der einen geknebelten und medikamentös ruhig gestellten Passagier mitnimmt. Von vier BGS-Leuten begleitet wird Kola Bankole in das Flugzeug gebracht und dann wahrscheinlich hinter einem Vorhang an einen Flugzeugsitz gefesselt. Bei vermutlich durch den Beißschutz und eventuell ein Mund-Nasenpflaster behinderter Atmung wird ihm eine Kombination von Beruhigungsmitteln in den Oberarmmuskel gespritzt. Ob das Opfer, von einem »Patienten« kann wohl nicht gesprochen werden, kontinuierlich beobachtet wird und von wem, ist bislang unklar. Gegen 14.20 Uhr, vermutlich etwa zwanzig Minuten nach der Injektion, wird der Rettungswagen, nicht aber der auch erreichbare Anästhesist der Flughafenklinik gerufen. Ein bereit liegender Notfallkoffer wurde wahrscheinlich nicht benutzt. Gegen 14.25 Uhr wird der Tod festgestellt.
Wie hatte es die Pressesprecherin der Frankfurter Staatsanwaltschaft am 15. Oktober 1994 formuliert? »Das bisherige Obduktionsergebnis legt vielmehr die Annahme eines Herztodes nahe.« Der Kommentar eines Arztes: »Ein Herztod ist es am Ende schließlich immer.«
Abgesehen von allen strafrechtlichen Bewertungen: Zumindest moralische Verantwortung tragen viele. Diejenigen, die die Angst und Gegenwehr Kola BankoIes nicht ernst nahmen und seine Abschiebung zum wiederholten Male verfügten. Diejenigen, die seinen Widerstand brachen – als ärztliche Handlanger, als BGS-Beamte. Immerhin: Kola Bankoles Tod hat einiges geändert: Ärzte der Flughafenklinik dürfen keine Abschiebeflüge mehr begleiten – auch nicht in ihrer Freizeit. Und: Obwohl die Lufthansa bereits 1988 ihre Crews darauf hingewiesen hat, daß die Verweigerung der Mitnahme von Abzuschiebenden arbeitsrechtliche Konsequenzen haben könne, weigern sich nun Piloten, gefesselte und betäubte Passagiere mitzunehmen.