Ein Jahr Schengen
Freizügigkeit in der Festung?
„Das Schengener Durchführungsübereinkommen (SDÜ), das seit dem 26.3.1995 in Kraft ist, hat die Chancen für Flüchtlinge regulär einzureisen und ein Asylverfahren zu erhalten, erheblich verschlechtert“. Das erklärte Heiko Kauffmann, Sprecher von PRO ASYL.
Fluggesellschaften, die Flüchtlinge ohne ausreichende oder mit gefälschten Papieren befördert haben, werden drastisch bestraft. Das hat mittlerweile dazu geführt, daß die Fluglinien mehr und mehr zu getreuen Erfüllungsgehilfen des Staates geworden sind. Sie verweigern aufgrund eigener Kontrollen die Beförderung bestimmter Passagiere, sogar dann, wenn diese erwiesenermaßen über gültige Reisepapiere verfügen. Dabei werden diskriminierende „Gesichtskontrollen“ nach Hautfarbe durchgeführt.
Es besteht eine Liste der visapflichtigen Staaten, die mehr als 130 Länder umfaßt, vor allem solche, aus denen Flüchtlinge kommen könnten. Die fälschungs- und verfälschungssichere Schengen-Visaetikette wird nur unter sehr eingeschränkten Bedingungen ausgestellt, zumal der ausstellende Staat für ein mögliches Asylverfahren zuständig wäre. Deutschland drängt darauf, daß die sogenannte „Graue-Visa-Liste“, ein Verzeichnis der Drittstaaten, deren Angehörige in den Schengen-Staaten wegen unterschiedliche Visaregelungen immer noch einreisen können, möglichst rasch abgebaut wird.
Die Binnengrenzen sind durch rückwärtige, 30 km breite Grenzräume ersetzt, in denen Grenzschützer ungehemmt patroullieren und kontrollieren können. Die niederländischen und französischen Grenzbehörden nehmen im rückwärtigen Grenzgebiet intensive Identitätsprüfungen vor. Die Grenzbeamten im niederländischen Grenzraum besitzen die Befugnis, ohne konkreten Anlaß Personen nach dem Grenzübertritt zu überprüfen. Frankreich ist bei Kontrollen unmittelbar an der Grenze geblieben.
Durch den Bundesgrenzschutz werden nach Bonner Angaben zwar keine „verdachts- und ereignisunabhängigen“ Personenkontrollen mehr durchgeführt. Dafür sind entlang der deutschen Binnengrenze und im rückwärtigen Grenzgebiet zusätzlich 500 BGS-Beamte im Einsatz. Ihre Aufgabe ist es, illegale Grenzgänger und ihre Helfer aufzuspüren. Deutschland setzt sich auch für ein Verfolgungs- und Festhalterecht für ausländische Polizeibeamte, die sogenannte Nacheile ein, die zeitlich und räumlich unbeschränkt ist.
Bei allen Vertragsstaaten wurden die Grenzkontrollen an den gemeinsamen Außengrenzen verstärkt.
Das Schengener Informationssystem (SIS) ist mit seinem Fahndungsverbund weltweit einmalig. Neben dem Zentralrechner in Straßburg gibt es rd. 30.000 Endgeräte, 9000 davon allein in der Bundesrepublik. Der verfügbare Datenbestand liegt bei weit über drei Millionen Datensätzen. Den Haupanteil stellt Deutschland mit mehr als zwei Millionen. Das deutsche Datenvolumen weist nach offiziellen Angaben eine hohe Dynamik bei der Aktualisierung auf. Schwerpunkt sind die Einreiseverweigerungen (bis September 1995 über 600.000).
Deutschland drängt bei den anderen Vertragsstaaten auf konsequentere Einreiseverweigerung und Rückführung von Asylbewerbern. Andere Länder sind gegenüber Asylbewerbern nicht so rigoros wie Deutschland. So erhalten Flüchtlinge, die in Deutschland abgelehnt wurden und das Land verlassen haben, in Frankreich und in den Benelux-Ländern oft einen vorläufigen oder endgültigen Aufenthalt. PRO ASYL geht davon aus, daß die Bundesrepublik alles versuchen wird, um diese noch verbliebene Humanität in anderen Ländern zu beseitigen.
Asylrechtlich wichtig ist die Regelung, daß ein Schengen-Staat bei einem anderen um die Übernahme von Asylbewerbern ersucht. Entscheidend hierbei ist die Frage, wo der Asylbeweber eingereist ist und wer ihm einen Aufenthaltstitel gewährt hat. Im Rahmen dieses Verfahrens lehnt Deutschland doppelt soviele Ersuchen anderer Länder ab, als es solche akzeptiert. Das wird offiziell damit erklärt, daß die Ersuchen der anderen Länder – im Unterschied zu Deutschland wohl – generell wenig substantiiert seien und Indizien und Beweise vermissen ließen. Durch die Verhandlungen, wer denn für ein Asylverfahren zuständig ist, geraten Flüchtlinge in einen bedenklichen Schwebezustand.
Heiko Kauffmann stellt nach einem Jahr Schengen-Erfahrung fest: „Die Freizügigkeit im Schengengebiet ist sicherheitspolitisch ein Danaergeschenk, also ein Geschenk, das man besser ablehnen sollte. Es ist verknüpft mit einem Kontrollsystem, das sich räumlich und von den Maßnahmen her metastasenartig ausbreitet. “ Charakteristisch ist die vor allem in Deutschland ausgeprägte Sammelwut speicherbarer Daten. Trotz des gesetzlich eingeführten Datenschutzes ist nicht auszuschließen, daß die Daten unzulässig vernetzt und weitergegeben werden. Besondere Sorge bereitet die Möglichkeit, daß hochsensible Daten von Asylbewerbern in die Computer ihrer Verfolgerstaaten gelangen.