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April 1996

EUROPÄISCHER FLÜCHTLINGSRAT

Stellungnahme zur Inhaftierung von Asylsuchenden

ECRE Allgemeine Feststellungen

  • ECRE vertritt die Auffassung, daß Asylsuchende generell nicht inhaftiert werden sollen. Das Recht auf Freiheit und Sicherheit der Person ist ein Grundprinzip der internationalen Menschenrechtsstandards.
  • ECRE fordert die Europäischen Staaten auf, vor jeder Inhaftierung andere ihnen zu Gebote stehende humanere und wirksamere Maßnahmen ins Auge zu fassen.
  • Eine Freiheitsentziehung behindert die korrekte und gründliche Durchführung des Asylverfahrens. So kann beispielsweise eine Inhaftierung von den äußeren Umständen her einer Rechtsberatung im Wege stehen; auch kann sie bei Menschen, die im Rahmen des Asylverfahrens befragt werden, ein Klima der Einschüchterung hervorrufen.
  • Möglicherweise haben Asylsuchende bereits in den Herkunftsländern Gefängnis und Folter erlitten. Daher kann eine Haft besonders ernste Folgen haben, weil sie große emotionale und seelische Belastungen verursacht und einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung gleichkommt.
  • Die Inhaftierung von Asylsuchenden darf niemals zur Abschreckung eingesetzt werden, weder indirekt, um damit mögliche weitere Einreisen zu verhindern, noch direkt, um Inhaftierte davon abzuhalten, ihr Asylverfahren weiterzubetreiben.
  • Eine systematische Anwendung der Inhaftierung als Teil des Aufnahme- und Asylverfahrens in einem europäischen Staat wird von ECRE scharf verurteilt.
  • Mit besonderer Sorge registriert ECRE den Zusammenhang zwischen der Inhaftierung von Asylsuchenden, die in fast allen europäischen Staaten zunimmt, und der Einführung des Konzepts der „sicheren Drittstaaten“. Die Tatsache, daß Asylsuchende in vielen Fällen aufgrund der „sichere Drittstaaten“-Regelungen bei Kettenabschiebungen mehrfach inhaftiert wurden, ist ein weiteres schlagkräftiges Argument gegen diese Abschiebungspraxis.
  • ECRE begrüßt die jüngsten UNHCR-Richtlinien zur Inhaftierung von Asylsuchenden als einen sehr wichtigen Beitrag, international Maßstäbe zu setzen. Diese Richtlinien führen die Entschließung 44 (XXXVII) des UNHCR-Exekutiv-Komitées von 1986 fort. ECRE hält diese jedoch mittlerweile für unzureichend, weil der Flüchtlingsschutz in den 90er Jahren durch die Anwendung der Inhaftierung bedenklich ausgehöhlt worden ist.
    • Es sei daher darauf hingewiesen, daß ECRE mit seiner Stellungnahme die Positionen des UNHCR in einer Reihe wichtiger Punkte erweitert:
    • ECRE hält die Gründe für eine Inhaftierung, die unter Punkt (b) der Entschließung Nr. 44 des Exekutiv-Komitées und in der jüngsten „Richtlinie 3“ aufgeführt sind, für unzureichend. Sie sind für ECRE zu allgemein. Daher könnten sie von den einzelnen Staaten als Grundlage dafür genommen werden, Asylsuchende in größerem Umfang zu inhaftieren;
    • ECRE’s Stellungnahme zu den Haftbedingungen und die Aussagen, die sich auf die psychologischen Auswirkungen der Inhaftierung bei Asylsuchenden beziehen, sind detaillierter;
    • ECRE unterstreicht die lebenswichtige Rolle der nichtstaatlichen, freien Organisationen (NROs) und macht konkrete Vorschläge für die Verbesserung der aktuellen Lage der Inhaftierten (vgl. Abs. 29);
    • ECRE fordert hinsichtlich der Praxis eine größere Transparenz auf sowohl nationaler wie internationaler Ebene;
    • ECRE sieht bei seinem Einsatz für eine Reform der Haftbedingungen keinen Vorteil in einer Unterscheidung zwischen Flüchtlingen und Migranten (s. Anhang).

ECRE Gründe für eine ausnahmsweise zu erfolgende Haft

  1. Asylsuchende sollen – als letztes Mittel – nur ausnahmsweise und nur dann inhaftiert werden, wenn sich andere Maßnahmen aus individuellen Gründen als unzulänglich erwiesen haben, um das festgelegte, gesetzliche und gerechtfertigte Ziel zu erreichen.
    • Alternative Maßnahmen (ohne Haft) sind:
      • Formen der Überwachung
      • Meldeauflagen
      • Kautionen oder Bürgschaften

        (Dabei ist allerdings zu beachten, daß die meisten Asylsuchenden nur über sehr begrenzte finanzielle Mittel verfügen. Regelungen dieser Art sind nur dann vertretbar, wenn die Höhe der festgelegten Summen eine bestimmte, bescheidene Höhe nicht überschreitet, und wenn es Organisationen oder Gruppen gibt, die willens und fähig sind, im Auftrag der Asylsuchenden die geforderten Sicherheiten zu bieten);

      • die Förderung der freiwilligen Rückkehr durch intensive und persönliche Beratung für alle abgelehnten Asylsuchenden vor und während der Haft.
  2. Haft darf weder willkürlich noch zur Erleichterung der behördlichen Arbeit verhängt werden. Sie muß gesetzlich sein ( d.h. nach einem regulären Verfahren erfolgen und auf Gründen beruhen, die vom Gesetz vorgeschrieben sind), vernünftigerweise nachvollziehbar (Asylsuchenden soll deutlich gemacht werden, daß die Inhaftierung eine Folge davon ist, daß ggf. anderweitige Einschränkungen nicht gegriffen haben); sie muß darüber hinaus notwendig sein und ohne Diskriminierung erfolgen.
  3. ECRE findet sich ausnahmsweise mit der Anordnung einer (Abschiebe-) Haft unter folgenden Umständen ab:
    • wenn der Asylsuchende wegen eines schweren nichtpolitischen Vergehens einer Strafverfolgung unterliegt; dabei darf sich das Vergehen nicht gegen das nationale Ausländer- oder Einwanderungsrecht gerichtet haben;
    • als letztes Mittel, falls wiederholt und unstatthaft gegen die von den Behörden auferlegte Meldepflicht verstoßen wurde;
    • falls der Asylsuchende nach einem korrekten und gründlichen Asylverfahren der Aufforderung zum Verlassen des Landes nicht nachkommt. Dabei muß die Möglichkeit bestanden haben, gegen die Ausreiseaufforderung Widerspruch einzulegen. Auch dürfen keine humanitären Gründe für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis vorgelegen haben.
  4. Eine nachweisliche Bedrohung der „nationalen Sicherheit“ oder der „öffentlichen Ordnung“, wie sie vom Europäischen Gerichtshof und von der Menschenrechtskommission definiert wurde, können auch als Begründung für den Haftbeschluß gelten. Dabei ist vorzuziehen, daß die Bestimmungen für eine Inhaftierung aus den genannten Gründen in einem allgemeinen, für alle Bürger und Ausländer geltenden Gesetz, anstatt in einem spezifisch geltenden Asylgesetz enthalten sind.

ECRE Unannehmbare Haftgründe

  1. Asylsuchende haben möglicherweise bei dem Versuch sich in Sicherheit zu bringen, unwissentlich oder ohne Not Einwanderungs- bzw. Ausländergesetze übertreten. Auf solche Gesetzesübertretungen ist Haft eine unangemessene Antwort. Auch die Feststellung der Identität und/oder des Reiseweges reicht nicht aus, um Asylsuchende zu inhaftieren. Als ausreichend könnte allenfalls eine ungerechtfertigte Weigerung, bei der Ermittlung mitzuwirken, angesehen werden.
  2. Asylsuchenden bleibt häufig keine andere Wahl, als über illegale Kanäle oder mittels gefälschter Dokumente zu flüchten, um Zugang zu dem Land zu erhalten, in dem sie internationalen Schutz suchen. Aus Gründen, die ECRE oft dargelegt hat, kann es für Asylsuchende unmöglich sein, sich in ihrer Heimat an irgendwelche Behörden zu wenden, um die erforderlichen Reisedokumente zu erhalten. Maßnahmen, wie die Sanktionen gegen Beförderungsunternehmen und die Einschränkungen bei der Erteilung von Visa zwingen in wachsendem Maße wirkliche Asylsuchende dazu illegal einzureisen. Die für die Verhaftung illegaler Ausländer bzw. Einwanderer zuständigen Stellen sollen sich daher der besonderen Verantwortung gegenüber Asylsuchenden bewußt sein.
  3. Abgelehnte Asylsuchende sollen nicht für längere Zeiten wegen mangelnder Zusammenarbeit anderer Staaten bei Abschiebungsverfahren in Gewahrsam gehalten werden. (Ein Beispiel hierfür wäre die Weigerung von Botschaften und Konsulaten, die erforderlichen Reisepapiere auszustellen.) Das Gleiche gilt auch für alle anderen Gründe, auf die der Häftling keinen Einfluß hat.
  4. Personen, für die eine Rückkehr in ihre Heimat wegen der dortigen Lage und/oder wegen der Gefahr dort „der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung unterworfen zu werden“ (Art. 3 EMRK), unmöglich ist, sollen nicht inhaftiert werden, solange der Aufnahmestaat eine Änderung der Lage, die eine Rückkehr erlauben würde, abwartet.
  5. Machen Asylsuchende bestimmte politische Äußerungen oder sind sie nicht bereit bei der Abschiebung in ein anderes Land mitzuwirken, darf dies nicht Teil der Begründung für die Haft, sondern muß vielmehr zentraler Bestandteil des Asylverfahrens selbst sein.
  6. ECRE betont, daß die Gründe für eine Inhaftierung von Asylsuchenden eng begrenzt zu umschreiben sind, vor allem, um einen Anstieg der Fremdenfeindlichkeit zu verhindern, bei der alle Asylsuchende als Betrüger und als Bedrohung für ihr Aufnahmeland gelten.
  7. Falls Staaten weiterhin Asylsuchende aus anderen als den oben aufgelisteten Gründen inhaftieren – z.B. um ihre Identität festzustellen oder weil die Gefahr des „Untertauchens“ gesehen wird – gelten die Empfehlungen dieser Stellungnahme auch hier, besonders die Anforderungen an die Beweislage, wie unter Abs. 19 ausgeführt.

ECRE Der erste Haftbeschluß

  1. Der erste Haftbeschluß soll immer aufgrund der individuellen Umstände und der persönlichen Biographie eines jeden Asylsuchenden erfolgen. Er soll immer eindeutige Begründungen dafür enthalten, warum im vorliegenden Fall andere Maßnahmen nicht ausreichen. Angesichts vorhandener Alternativen müßte auch eine klare Verhältnismäßigkeit zwischen der Haft und des durch sie erreichten Zwecks bestehen. Es soll die Rechtsvermutung zugunsten der Freiheit bzw. Freilassung gelten.

ECRE Information über den Haftbeschluß

  1. Der/die Asylsuchende sollen sofort und in einer für ihn/sie verständlichen Sprache über die Begründung für seine/ihre Inhaftierung, über seine/ihre Rechte und deren mögliche Inanspruchnahme informiert werden. Die Information soll dem/der Asylsuchenden und seinem/ihrem Rechtsbeistand schriftlich zugehen. Zusätzlich soll das Dokument immer auch dem/der Asylsuchenden mündlich in einer für ihn/sie verständlichen Sprache erläutert werden.

ECRE Angemessene Möglichkeiten der Überprüfung

  1. Alle Erstentscheidungen über eine Haft sollen automatisch und sofort überprüft werden, entweder gerichtlich oder durch ein zuständiges und gesetzlich vorgesehenes Gremium, das selbst von den für die Haft verantwortlichen Behörden unabhängig ist. Danach soll die Haft in bestimmten zeitlichen Abständen überprüft werden, um festzustellen, ob sie noch dem angegebenen Zweck dient und verhältnismäßig ist. Überprüfungen sollen nicht nur die Rechtmäßigkeit des Haftbeschlusses, sondern auch seine inhaltliche Begründung kontrollieren. Dabei hätten die Behörden die zwingende Notwendigkeit für eine Haftverlängerung nachzuweisen. Die regelmäßige Überprüfung hat unabhängig davon stattzufinden, ob der/die Asylsuchende von seinem/ihrem Recht auf Beschwerde bzw. auf Einlegen von Rechtsmitteln Gebrauch gemacht hat. Häftlinge und ihr Rechtsbeistand sollen das Recht haben, an allen Überprüfungsterminen teilzunehmen und ihren Fall vorzutragen. Die Überprüfungen sollen es dem Häftling gestatten, alle Behauptungen der für die Haft verantwortlichen Behörden zu widerlegen. Falls erforderlich sollen bei diesen Terminen Übersetzer/innen zur Verfügung stehen.

ECRE Recht auf Anfechtung

  1. Inhaftierte Asylsuchende sollen das Recht auf Anfechtung der ersten Haftanordnung und der Überprüfungsentscheidungen haben. Sie sollen auch durch Rechtshilfe über die Mittel verfügen, um dieses Recht ausüben zu können. Um es zu wiederholen, sie sollen das Recht haben, bei allen Anfechtungsterminen anwesend zu sein und ihren Fall vorzutragen. Wenn es die in Abs. 21 beschriebene regelmäßige Überprüfung nicht im vollen Umfang gibt, muß wenigstens das Recht auf Anfechtung garantiert sein.

ECRE Haftdauer

  1. Die Inhaftierung von Asylsuchenden soll im Rahmen des unbedingt Erforderlichen auf den kürzesten Zeitraum beschränkt bleiben. Gesetzlich soll eine absolute Höchstdauer für diese Art der Haft festgelegt werden.

ECRE Das Recht auf Zugang zu Rechtsberatung

  1. Inhaftierten Asylsuchenden soll die unbeschränkte Hilfe einer qualifizierten und unabhängigen Rechtsberatung ihrer eigenen Wahl zugestanden werden.
  2. Rechtsberatung soll für den Fall, daß ein Häftling über keinen Rechtsbeistand seiner/ihrer Wahl oder nicht über die Mittel verfügt, Rechtshilfe in Anspruch zu nehmen, seitens der zuständigen Behörden vorgehalten werden.
  3. Der Häftling soll sofort bei Haftbeginn über sein Recht auf Rechtsberatung informiert werden. Das schließt eine umfassende schriftliche und mündliche Erläuterung dieses Rechtes und seiner Wahrnehmung in einer für ihn verständlichen Sprache ein.
  4. Für alle Besuche des/r Rechtsberaters/in bei dem Häftling soll ein/e qualifizierte/r und unparteiische/r Übersetzer/in zur Verfügung stehen. Das gilt auch für alle Kontakte des/der Asylsuchenden mit den (nationalen) Behörden.

ECRE Weitere Rechte in der Haft

  1. Inhaftierte Asylsuchende sollen auch folgende Rechte haben, über die und deren Wahrnehmungsmöglichkeit sie schriftlich und mündlich in einer für sie verständlichen Sprache belehrt werden :
    • das Recht auf Kontakt mit UNHCR und/oder anderen nichtstaatlichen Organisationen;
    • das Recht frei und unter Wahrung des privaten Charakters mit der Familie, befreundeten Menschen, Mitgliedern von eingeführten Besuchsdiensten, Sozialberater/innen und Seelsorger/innen in Kontakt zu treten.

      (Die Überwachung der Besuche ist nur hinnehmbar in Fällen, in denen es auch um Kriminalität oder um die Bedrohung der nationalen Sicherheit geht und in denen konkrete Hinweise vorliegen, daß das Recht auf Achtung der Privatsphäre mißbraucht werden könnte).

      Generell sollen inhaftierte Asylsuchende nicht weniger oder zumindest keine geringeren Rechte haben als Staatsangehörige, die sich wegen der Verbüßung von Straftaten im Gefängnis befinden.

  2. ECRE empfiehlt folgende Maßnahmen, um sicherzustellen, daß Asylsuchende die obengenannten Rechte (Abs. 24-28) auch in Anspruch nehmen können:
    • Zugang zu Fernsprechern innerhalb der Anstalten zu Zeiten, in denen es den Häftlingen möglich ist, Kontakte mit den Personen und Organisationen aufzunehmen, die in den Abs. 24-28 aufgeführt sind, oder in denen sie für diese erreichbar sind;
    • Zugang zu öffentlichen Fernsprechern in allen Häfen und auf Flughäfen, um Verbindung mit einem Rechtsbeistand und/oder dem UNHCR aufnehmen zu können;
    • Briefverkehr zwischen den Häftlingen und ihrem Rechtsbeistand, ohne daß die Post geöffnet wird oder über die Gefängnisverwaltung läuft;
    • sofortige Information des Rechtsbeistandes, wenn der Mandant in eine andere Anstalt verlegt wird;
    • keine Haftanstalten, die abgelegen, sondern nur solche, die für Besucher leicht erreichbar sind;
    • Zugang zu unabhängigen und ausgebildeten Übersetzer/innen, um zu vermeiden, daß andere Häftlinge hierfür herangezogen werden müssen.

ECRE Zugang zu inhaftierten Asylsuchenden

  1. UNHCR, bestimmten nichtstaatlichen Organisationen und den Rechtsvertreter/innen soll Zugang zu Einrichtungen gewährt werden, in denen Asylsuchende festgehalten bzw. inhaftiert werden, einschließlich der Transitbereiche in internationalen Häfen oder auf internationalen Flughäfen.
  2. Die zuständige Behörde soll unaufgefordert mit UNHCR, dem Rechtsbeistand oder einer bestimmten nichtstaatlichen Organisation Verbindung aufnehmen, wenn ein Asylantrag während der Zeit der Haft eines Antragstellers zurückgenommen wird. Der Häftling soll von UNHCR oder einer freien Organisation beraten werden und deren Einschätzung überdenken können.

ECRE Kinder

  1. Unbegleitete Kinder (unter 18) sollen in keinem Fall inhaftiert werden.
  2. Kinder und ihre Erziehungsberechtigten sollen nicht inhaftiert werden, es sei denn die (nationalen) Behörden könnten nachweisen, daß dies zur Erhaltung der Familieneinheit unumgänglich ist. Eine derartige Haft soll die absolute Ausnahme sein. Stillende Mütter und schwangere Frauen während der letzten Monate sollen nicht inhaftiert werden.
  3. Wenn das Alter von Asylsuchenden ungewiß oder strittig ist, soll der vorhandene Zweifel zu ihren Gunsten ausgelegt werden. Ärztliche Atteste sollen nur dann ausgestellt werden, wenn das Alter weder durch Angaben von Angehörigen noch durch echte Dokumente bestimmt werden kann.

ECRE Haftbedingungen

  1. ECRE ist sich bewußt, daß es innerhalb Europas bei (nationalen) Behörden und sonstigen Organisationen beachtliche regionale Unterschiede in der Infrakstruktur gibt, um Asylsuchende zu unterstützen und die Haftbedingungen für Asylsuchende zu verbessern. Die nachfolgenden Empfehlungen sollen in diesem Kontext als Normen betrachtet werden, die von den einzelnen Staaten schrittweise umgesetzt werden. Dabei geht ECRE allerdings davon aus, daß alle derzeitigen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union in der Lage sind, die Empfehlungen unverzüglich umzusetzen, und kein Land Inhaftierungen vornehmen darf, solange es außerstande ist, Haftbedingungen unter Wahrung der Menschenwürde zu gewährleisten.
  2. ECRE betont, daß auch in dem Fall, wo die äußeren Haftbedingungen nicht zu beanstanden sind, eine Inhaftierung häufig unnötige seelische Belastungen verursacht, da Asylsuchende in vielen europäischen Ländern in Ungewißheit über die Gründe oder die wahrscheinliche Dauer der Haft belassen werden. Möglicherweise haben Asylsuchende in ihrer Heimat, etwa durch Folterungen während einer willkürlichen Inhaftierung, traumatische Erfahrungen gemacht. Eine Inhaftierung im Aufnahmeland ist für sie dann etwa im Fall der versuchten Einreise ohne Visum eine ausgesprochen unverhältnismäßige Reaktion.
  3. Generell sollen Haftanstalten und -bedingungen für Asylsuchende ihrem straffreien Status gerecht werden, keinesfalls aber unter dem Niveau dessen liegen, was in dem einzelnen Land für Strafgefangene vorgesehen ist.
  4. Weder abgelehnte noch andere Asylsuchende sollen zusammen mit Strafgefangenen inhaftiert werden.
  5. Für Männer und Frauen soll es getrennte Einrichtungen geben. Andererseits sollen Ehemänner und -frauen ebenso wie sonstige Angehörige in Haft zusammenleben können.
  6. Es soll eine ärztliche Untersuchung bei Haftbeginn eingeführt werden, um, wo möglich, festzustellen, wer wegen seiner Erlebnisse im Fluchtland bereits an Traumata leidet oder suizidgefährdet ist. In diesen Fällen soll der untersuchende Arzt dringend die Entlassung aus der Haft empfehlen. Dieser Empfehlung müßte entsprochen werden.

    Der gesamte, auch seelische Gesundheitszustand jedes Häftlings soll weiterhin beobachtet werden. Eine Beobachtung wegen Suizidgefährdung soll keinen Strafcharakter annehmen. So soll es nicht zu einer isolierten Unterbringung oder zu einer Verlegung in einen regulären Gefängnistrakt kommen.

  7. Häftlinge sollen rund um die Uhr einen ärztlichen Notdienst erreichen und regelmäßig eine allgemeine medizinische Behandlung in Anspruch nehmen können. Die Ärzte sollen unabhängig sein. Wo es sich ermöglichen läßt, soll es auch eine freie Arztwahl, einschließlich einer Wahl zwischen Ärztin und Arzt, geben. Das medizinische Personal soll für den Umgang mit inhaftierten Asylsuchenden eigens geschult werden. Auch sollen ihnen bei ihren Kontakten mit den Asylsuchenden Dolmetscher/innen zur Verfügung stehen. Häftlinge sollen, wenn es erforderlich ist, an Spezialisten überwiesen werden.

    Häftlinge und, mit deren Erlaubnis, ihr Rechtsbeistand sollen die Krankenakten einsehen können.

  8. Hafträumlichkeiten sollen über natürliches Licht und ausreichenden Platz verfügen.
  9. Die Häftlinge sollen die Möglichkeit zu körperlicher Bewegung haben und nie isoliert untergebracht werden.
  10. In den seltenen Fällen, wo Kinder wegen der Wahrung der Familieneinheit inhaftiert werden müssen, sollen sie nie in einer gefängnisähnlichen Situation leben müssen und Möglichkeiten zur Freizeitgestaltung und zum Lernen haben. Ihren kulturellen und sprachlichen Bedürfnissen soll in besonderer Weise Rechnung getragen werden.
  11. Bei längerer Inhaftierung sollen den Erwachsenen Möglichkeiten für Aus- und Weiterbildung geboten und auf ihre kulturellen und sprachlichen Bedürfnisse eingegangen werden. Derartige Aktivitäten sollten helfen, Häftlinge sowohl für eine Eingliederung in die Aufnahmegesellschaft wie eine Wiedereingliederung in der Heimat vorzubereiten.

    Es ist für das seelische Wohlbefinden von Häftlingen von zentraler Bedeutung, daß sie bei einer langen Haftdauer nicht von vernünftiger Betätigung ausgeschlossen werden.

  12. Häftlinge haben das Recht auf freie Religionsausübung, was nicht nur das Recht auf Besuche durch Vertreter/innen der eigenen Religionsgemeinschaft einschließt, sondern beispielsweise auch das Recht auf religiöse Kleidung oder das Einhalten religiösen Fastens. Häftlingen soll Raum zum Feiern, zum Trauern oder zu anderen Ausdrucksformen ihrer kulturellen Identität zur Verfügung gestellt werden.
  13. Asylsuchende sollen nicht zur Strafe in Gefängnisse verlegt werden, außer wenn sie wegen einer Straftat verurteilt worden sind.
  14. Es sollen Regelungen getroffen werden, daß Häftlinge Beschwerden über ihre Haftbedingungen einlegen können, einschließlich solcher wegen Mißhandlungen oder Beleidigungen durch andere Häftlinge.

ECRE Behörden und Personal der Haftanstalten

  1. ECRE stellt mit Besorgnis die Praxis verschiedener europäischer Länder fest, mit privaten Sicherheitsdiensten Verträge über die Verwaltung von Einrichtungen zu schließen, in denen Asylsuchende inhaftiert werden. Mit diesen Diensten müßten Regelungen getroffen werden, wonach sie für alle Handlungen, die sie im Auftrag des Staates vollziehen, verantwortlich gemacht werden können.
  2. Das gesamte Personal soll auf geeignete Weise geschult werden und zwar über Grundfragen, die das Asylrecht betreffen, über die Ursachen von Fluchtbewegungen in den Hauptherkunftsländern, über wichtige kulturelle Besonderheiten und über Methoden zum Erkennen von und zum Reagieren auf Symptome stressbedingter Krankheit, die bei inhaftierten Asylsuchenden auftreten können. Um eine derartige Schulung durchzuführen, sollen sich die Behörden der Mithilfe von UNHCR und spezialisierter nichtstaatlicher Organisationen bedienen.
  3. Es soll eine Beschwerdemöglichkeit für Häftlinge geben, die sich auf das Fehlverhalten des Personals bezieht. Alle Beschwerden sollen gründlich geprüft und angemessene Abhilfe geschaffen werden. Schwerwiegende Vorwürfe, die eine rassistische oder körperliche Mißhandlung einschließen, sollen von einem unparteiischen Gremium behandelt werden.
  4. Stirbt ein Häftling in der Haft, soll seiner Familie oder seinen Freunden Rechtshilfe gewährt werden, so daß sie bei der Feststellung der Todesursache vertreten sein können. Entsprechende Aufzeichnungen, Protokolle und Erklärungen sollen ihnen zugänglich sein.

ECRE Transparenz

    ECRE drängt darauf, daß die Regierungen vorhandene Informationen über inhaftierte Asylsuchende veröffentlichen. Diese Informationen sollen regelmäßig und nicht erst auf parlamentarische Anfragen hin publiziert werden. Eine Veröffentlichung soll enthalten

    • die Gesamtzahl der inhaftierten Asylsuchende, auch der in Häfen und auf Flughäfen festgehaltenen
    • die Gesamtzahl der abgelehnten Asylsuchenden, die sich in (Abschiebe-) haft befinden, auch der in Häfen und auf Flughäfen festgehaltenen
    • eine Aufstellung über die Länge von Haftfristen.

(April 1996)

Anhang – Definitionsfragen

  • Aus Gründen der Zweckmäßigkeit wurde in der gesamten Stellungnahme der Begriff „Asylsuchende“ verwendet. ECRE hält seine Empfehlungen zur Inhaftierung auf folgenden Personengruppen für anwendbar:
    1. Flüchtlinge nach der Genfer Flüchtlingskonvention und dem Zusatzprotokoll von 1967
    2. Personen, die im europäischen Kontext oft als de facto-Flüchtlinge bezeichnet werden und die des internationalen Schutzes bedürfen, aber nicht unter die Definition des Genfer Flüchtlingskonvention fallen.
    3. Flüchtlinge, die unter die Regelungen eines vorläufigen Schutzes fallen
    4. Asylsuchende, die möglicherweise Flüchtlinge im Sinne von a), b) oder c) sind
    5. Flüchtlinge, die im Rahmen eines Asylverfahrens aus rein formalen Gründen und ohne inhaltliche Prüfung ihres Asylbegehrens abgelehnt wurden, vornehmlich Asylsuchende, die vor einer Zurückweisung wegen der „sicheren Drittstaaten“-Regelung stehen
    6. Asylbewerber, die sich nach einer Ablehnung ihres Antrags im Klageverfahren gegen die negative Entscheidung oder gegen ihre Abschiebung befinden.
  • ECRE ist darüber hinaus selbstverständlich auch über die Inhaftierung abgelehnter Asylbewerber besorgt, denen, wie an anderer Stelle von ECRE beschrieben, keine Gelegenheit zu einem korrekten und gründlichen Asylverfahren geboten wurde. In diese Sorge sind auch die abgelehnten Asylbewerber einbezogen, bei denen die Genfer Flüchtlingskonvention in einer restriktiven Weise, der weder ECRE noch UNHCR beipflichten, ausgelegt wurde. Die Versagung der Anerkennung bei Personen, die von nichtstaatlicher Seite verfolgt wurden, könnte als Beispiel einer solchermaßen einschränkenden Auslegung betrachtet werden. Viele der in der Stellungnahme enthaltenen Empfehlungen dürften daher auch auf diesen Personenkreis anwendbar sein.
  • Auch wenn ECRE sich in spezifischer Weise für inhaftierte Flüchtlinge und Asylsuchende einsetzt, ist die Übernahme der Empfehlungen nicht abhängig von ECRE’s Begriffsbestimmungen. D.h. obgleich im Falle eines Asylbegehrens die Gründe für eine Inhaftierung viel stärker begrenzt sein müssen, treffen viele der empfohlenen Rechte und Bedingungen auf alle inhaftierten Migranten zu. Abgelehnte Asylbewerber haben daher in der Abschiebehaft Anspruch auf eine menschenwürdige Behandlung, auch dann, wenn sie nach einem korrekten und gründlichen Verfahren abgelehnt wurden.
  • ECRE sieht einen qualitativen Unterschied zwischen Haft und anderen Beschränkungen der Bewegungsfreiheit von Asylsuchenden. ECRE unterstützt ausdrücklich die kürzlich gemachten Erläuterungen von UNHCR zu dem, was unter Haft zu verstehen ist. Danach gehören Transitbereiche in internationalen Häfen und auf internationalen Flughäfen auf die Liste der Haftzentren. ECRE ist der Auffassung, daß der Begriff der Freiheitsberaubung gemäß den erweiterten Menschenrechtsbestimmungen anwendbar ist.
  • Die vorliegenden Empfehlungen befassen sich mit der Haft und nicht mit anderen Beschränkungen der Bewegungsfreiheit. ECRE weiß jedoch um die besonderen Probleme, die sich bei Aufnahmezentren, die zu weit von Städten oder Verkehrsmöglichkeiten entfernt sind, ergeben; auch, daß Beschränkungen in bezug auf das Wohnen dafür verantwortlich sein können, daß Asylsuchenden ihr Recht auf Familieneinheit verwehrt ist.
  • ECRE ist sich darüber im klaren, daß Lager in Situationen sehr starker Zugänge notwendig sein können; doch sollen solche Lager eher „offen“ als „geschlossen“ sein. Geschlossene Lager sind eindeutig Hafteinrichtungen. Lager sollten solange offen sein, wie keine Bedrohung der nationalen Sicherheit vorliegt. Diese könnte dann gegeben sein, wenn bewaffnete Gruppen das Lager als Basis für grenzüberschreitende Angriffe nutzen.

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