Flüchtlingsrat.
Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Ausgabe 5/98:
Forschungsgesellschaft Flucht und Migration:
Die Grenze: Flüchtlingsjagd in Schengenland
Auszüge
Vorwort
von Matthias Lange: Grenzen, Gewalt und Identitätspolitik
Einleitung
2. Der lange Weg nach Westeuropa – Transit
3. Polen – der Türhüter Europas
3.1. Abschiebehaft und Abschiebungen
3.2. Musterschüler Polen
4. Exportware Grenzschutz
5. Grenzregime
5.1. Grenzkontrolle und Grenzraum
5.2. Phänotypische Fahndungsmuster und Denunziationsbündnisse
5.3. Auf Linie bringen – Taxifahrerprozesse in Zittau
5.4. Dienstleistung Fluchthilfe
6. Flüchtlinge in Brandenburg
6.1. Erstaufnahmelager und Flüchtlingsverwaltung
6.2. Alltäglicher Rassismus
6.3. Abschiebehaft und Abschiebungen
Vorwort: Grenzen, Gewalt und Identitätspolitik
von Matthias Lange
Die „Forschungsgesellschaft Flucht und Migration“ zeichnet in dieser Broschüre ein differenziertes und sehr aktuelles Bild der Gewalt, die an der Ostgrenze der Bundesrepublik Deutschland herrscht. An beiden Seiten der Grenze besteht ein Normalzustand des gewaltförmigen Sortierens von Menschen, der ihre völlig unterschiedlichen Existenzbedingungen auf brutale Weise sichtbar werden läßt und zum Beispiel in Gestalt der „Exportware Grenzschutz“ zynisch reflektiert.
Keine Grenze hat in der Praxis eine für jeden Menschen gleichermaßen gültige Bedeutung. Es macht einen entscheidenden, und immer häufiger über Leben und Tod entscheidenden Unterschied, ob man sie als ManagerIn, als AkademikerIn, als junge/r Arbeitslose/r, als Flüchtling überschreitet. Im Grunde handelt es sich bei jeder Grenze um zwei unterschiedliche Grenzen, die nur den Namen gemeinsam haben.
Grenzen haben eine alptraumhafte Allgegenwart und zugleich sind sie durchlässig und unsichtbar – und für wen sie im konkreten Fall die Bewegungsfreiheit einschränken, das richtet sich nach den Interessen der Einschränkenden. So ist die Grenze für eine/n Reiche/n aus einem reichen Land heute zu einem Faktor der symbolischen Anerkennung ihres bzw. seines sozialen Status geworden: Für sie und für ihn bedeutet der Paß zunehmend nicht nur Staatszugehörigkeit, Schutz und Bürgerrechte, sondern zusätzliche Rechte – insbesondere das weltweite Recht ungehinderter Freizügigkeit. Für eine/n Arme/n aus einem armen Land ist die Grenze etwas ganz anderes. Sie ist nicht nur ein sehr schwer zu überwindendes Hindernis, sondern auch ein Ort, auf den man wieder und wieder trifft, und an dem man sich schließlich ständig aufhält, zu dem man „wird“ – darauf komme ich gleich zurück.
Dies führt zu einer „weltweiten Apartheid“ und gleichermaßen dazu, daß Grenzen heute keine rein äußerlichen Tatsachen mehr sind, daß sie heute dabei sind, zu Binnengrenzen in der Gesellschaft zu werden: Die Grenzen des Staates sind dabei, zur Form des Staates zu werden. Deutlich wird dies zum Beispiel im aktuellen europäischen Vereinigungsprozeß: Denn auf der einen Seite tritt bereits heute jeder Mitgliedsstaat an seiner Grenze als Vertreter aller übrigen europäischen Staaten auf, die Grenzen wandern nach außen und die Grenzbefestigungen werden zunehmend auch über die Grenze exportiert. Auf der anderen Seite wandern die zwischen den Schengenstaaten aufgehobenen Grenzen nicht nur nach außen, sie wandern auch ins Innere der Staaten. So sind Grenzen heutzutage in Europa mehr und mehr allgegenwärtig: Die Grenze ist überall, und bestimmte Grenzen liegen überhaupt nicht mehr im geographischen Wortsinn „an den Grenzen“.
Die Grenze ist jetzt überall dort, wo selektive Kontrollen vorgenommen werden. So können Zoll- und GrenzbeamtInnen nicht mehr nur in Flughäfen, entlang der Flüsse, Meere und Wälder der EU-Außengrenzen, sondern auch in einem 30 Kilometer breiten Grenzraum operieren: „Schleierfahndung“. Darüber hinaus kann die Polizei „gefährliche Orte“ definieren, an denen „verdachtsunabhängige Personenkontrollen“ durchgeführt werden können. Jede U-Bahnstation wird so zum potentiellen Grenzkontrollpunkt.
Durch die Gleichzeitigkeit und die auf den ersten Blick undurchschaubare Willkür beider Prozesse der Öffnung von Grenzen und ihrer perfektionierten Vervielfältigung wird erreicht, daß die zunehmende Kontrolle aller Personen und ihrer Bewegungen durch den Staat für den „Normalbürger“ weitgehend unsichtbar bleibt.
Die Grenzen differenzieren und vervielfältigen sich: Sie begrenzen den gesellschaftlichen Raum nicht mehr lediglich von außen, der gesellschaftliche Raum wird vielmehr zunehmend mit einem Kontrollnetz überzogen, das ihm seine spezifische Form gibt und wie eine allgegenwärtige Grenze funktioniert.
Die spezifische Form eines Staates, der in seinem Innern wie eine Grenze funktioniert, wird durch alle möglichen Spielarten von Identitätspolitik gestaltet. Eine der gegenwärtig vorherrschenden Formen von Identitätspolitik wird in Deutschland immer noch selten als das bezeichnet, was sie ist: als Rassismus. So werden zwar im Zuge der geschilderten Entwicklung alle Bürger Europas zu potentiell gefährlichen Grenzgängern, in der Realität sind es freilich nur die, deren Aussehen sie als Nichtzugehörige „verdächtig“ macht, und die sich deshalb ausweisen müssen. So schwierig es sein mag, an einer Grenze zu leben, so bedeutet dieses doch nichts im Vergleich dazu, selber eine Grenze zu sein – und durch die im Zweifelsfall täglichen Kontrollen ständig daran erinnert zu werden. Und dieser „Zweifelsfall“ tritt mit besonders penetranter Regelmäßigkeit dann auf, wenn die Grenze einem Menschen „ins Gesicht geschrieben“ steht, wenn die Pigmentierung der Haut, der Haare, der Augen und so weiter ihn bzw. sie als potentiellen Grenzgänger „verdächtig“ macht.
„Jede Diskussion über Grenzen bezieht sich auf die Begründung von bestimmten – nationalen und anderen – Identitäten.“ So weit Étienne Balibar, und um mit Niklas Luhmann fortzufahren: „Und weil es um Identität geht, geht es auch um Gewalt.“ Diesem identitär geprägten Zustand der Gewalt und den ihm entsprechenden Formen von Identitätspolitik gilt es – so die Forderung von Étienne Balibar – eine solidarische Politik entgegenzusetzen, die immer zugleich eine „Politik der Zivilisierung der gewaltsamen Identitäten“ sein muß: Eine Politik der Zivilisierung, die die Möglichkeiten des Zusammenlebens der verschiedenen Formen von Identität und Andersheit regelt und definiert.
Es gibt eine Vielzahl von aktiven und passiven, gewollten und hingenommenen, individuellen und gemeinschaftlichen Identitäten, und sie alle lassen sich als Konstruktion oder Fiktion erklären. Das Problem ist nur, daß die Konstruiertheit den „gelebten Identitäten“ nichts von ihrer praktischen Wirksamkeit nimmt. Jedenfalls – um noch einmal mit Étienne Balibar zu reden – „jedenfalls ist die Frage der Identität objektiv schwierig, denn sie wäre weder durch einen Identitätsdiskurs noch durch einen der Gegenidentität zu regeln.“ Aber eins ist deutlich – so zumindest meine These: Nicht „die Identitäten“ sind im politischen Sinne „ein Problem“; das Problem sind vielmehr die Formen identitärer Politik: Sie gilt es politisch zu zivilisieren, weil sie allesamt wie eine Grenze funktionieren.
Daß der Rassismus aus meiner Sicht wesentlich eine Form von Identitätspolitik ist, hatte ich bereits angedeutet. Aber auch der Antirassismus kann sich selbst als eine Art von Gegenidentität konstruieren.
Eine antirassistische Politik aber, die selber wie eine Grenze funktioniert, dürfte sich kaum in die Lage versetzen können, eine Politik im Sinne von Zivilisierung zu formulieren. Auf sie träfe dann der Tendenz nach das zu, was Jacques Rancière in Bezug auf den Rassismus feststellt: „Der Rassismus behandelt Identitäten so, wie sie übrigbleiben, wenn es keine Politik mehr gibt.“
Wenn es – wie ich ergänzen möchte – keine Politik im Sinne von Zivilisierung mehr gibt, denn natürlich gibt es dann, wenn es im Sinne von Jacques Rancière „keine Politik mehr gibt“, immer noch Politik: „Identitätspolitik“ nämlich: Jene gewaltsame Form identitärer Politik, die sich (zum Beispiel) rassistisch artikuliert und die immer „die Erscheinungsform ihres Gegenteils ist: der radikalen Entpolitisierung des Sozialen.“
Diese „Entpolitisierung des Sozialen“ trifft natürlich nur auf das alltägliche Leben jener übergroßen Mehrzahl der Menschen zu, deren Alltag sich im lokalisierten Raum abspielt. Oben hatte ich mit Étienne Balibar davon gesprochen, daß die Entwicklung der Grenzen sich in Richtung auf eine weltweite Apartheit bewegt, daß es zugleich aber eine wachsende Zahl von Menschen gibt, für die die Grenzen das Gegenteil von Abschottung bedeuten: Sie leben „in der Globalität“ und für sie symbolisieren alle Grenzen die Anerkennung ihres faktischen Weltbürgerstatus der ungehinderten Freizügigkeit.
Der Entpolitisierung des Sozialen entspricht auf der anderen Seite eine unübersehbare Politisierung des Globalen. – Damit greife ich auf eine Unterscheidung zurück, die ich im folgenden kurz ausformulieren will, um auf ihrer Grundlage zu einer näheren Bestimmung dessen zu kommen, was oben mit Étienne Balibar als eine „Politik der Zivilisierung der gewaltsamen Identitäten“ bezeichnet wurde.
Es ist dies die Unterscheidung zwischen einer „globalen“ Lebensweise auf der einen und der „lokalisierten“ Lebenswelt auf der anderen Seite. Denn Lokalisierung und Globalisierung sind zwei Seiten desselben Prozesses, und zwar eines Prozesses, der zu einer Art Spaltung geführt hat: Die Weltbevölkerung spaltet sich heute bereits in zwei Teile, in zwei Sorten von „Bevölkerung“, die auf verschiedenen Seiten der Welt leben und jeweils nur die eine Seite sehen (können): „Einige bewohnen den Globus, andere sind an ihren Platz gefesselt.“ Dieses Geschehen ist auf der Seite der Lokalisierung unter anderem dadurch geprägt, daß alle „Normalbevölkerungen“ der Staaten dieser Welt praktisch ausgeschlossen sind von der Möglichkeit „auf der Seite der Globalisierung“ zu leben und – wie Zygmunt Bauman sehr plastisch sagt – den Globus zu bewohnen.
Es zeigt sich, daß der Unterschied zwischen globalisierter und lokalisierter Lebensform dann besonders deutlich ins Auge springt, wenn man die Wirkungsweise von „Identität“ untersucht: Auf der globalen Seite können „die Identitäten“ in eine wechselseitige Kooperationsbeziehung gebracht werden – weil es offensichtliche gemeinsame Interessen gibt. Gemeinsame Interessen, die gewissermaßen „von Natur aus“ kulturübergreifend und weltumspannend zugleich sind, sodaß „die Identitäten“ ohne große Probleme in eine wechselseitige Kooperationsbeziehung gebracht werden können.
Auf der lokalisierten Seite dagegen sind es genau diese „Identitäten“, die Kooperation verhindern oder zumindest erschweren. Mit anderen Worten: Genau in dem Maße wie „die Identitäten“ auf der Seite der Globalisierung lediglich als ein Problem des wechselseitigen Verstehens und Anerkennens zum Zwecke erfolgsorientierter, supranationaler Kooperation zwischen Individuen, Institutionen, Gebietskörperschaften, Unternehmen erscheinen, genau in demselben Maße entfalten sie auf der Seite der Lokalisierung ihre „zerstreuende“, entfremdende und gewaltförmig-fragmentierende Kraft.
Wir sollten uns gemeinsam auf die Suche nach einem politischen Weg begeben, der hin führt zu einer Kultur der Gleichberechtigung und der Solidarität: Zu einer Politik der Zivilisierung, die den Vergleich und die die Differenz gleichermaßen aushalten kann und lebendig werden läßt. Um eine Politisierung des Sozialen in der Lokalisierung in diesem Sinne vorantreiben zu können, brauchen wir Informationen und speziell jenes Wissen, das uns befähigt, eine Politik der Zivilisierung jenseits von identitätspolitischen Konstruktionen zu entwickeln. Die Grenzregime-Broschüre der ffm ist in diesem Sinne nützlich, kann uns auf diesem Weg helfen.
Einleitung
Die Unterstützungsarbeit für Flüchtlinge und MigrantInnen hat sich im Lauf der letzten Jahre gewandelt. Neben der juristischen Beratung ist ein ganzes Feld sozialer Arbeit hinzugekommen, das von der medizinischen Vermittlung im Krankheitsfall bis zur Unterbringung und zur Hilfe bei der Weiterreise reicht. Der Grund für diese Veränderung liegt auf der Hand: Die Schengener Politik hat aus Flüchtlingen tendenziell rechtlose Personen gemacht, denen mehr und mehr die Lebensgrundlage entzogen ist.Es sind verschiedene Mechanismen, die diese Illegalität produzieren. Eines davon ist die neue Grenzpolitik, die viele Menschen auf der Flucht zum Untertauchen zwingt. Das ist das Thema dieses Hefts. Weitere politische Mittel, die für viele die Flucht in die Bundesrepublik zur Flucht in die Illegalität werden läßt, sind die Visapolitik, die Abschiebeabkommen und die Carrier Sanctions. Diese drei zusätzlichen Rahmenbedingungen – sozusagen die Illegalisierung im Vorfeld – seien im folgenden kurz skizziert. Seit Ende der 70er Jahre weitete die Bundesrepublik die Visapflicht schrittweise auf Einreisende aus über 130 Ländern aus. Diese Einschränkungen erfolgten seit den 80er Jahren im Einklang mit den Schengener Vertragsstaaten und den Genfer Intergovernmental Consultations on Asylum, Refugee and Migration Policies (IGC), die die Koordinierung der Visapolitik Westeuropas, Nordamerikas und Australiens übernommen haben. Seit dem 15. Januar 1997 gilt die Visapflicht auch für die in der Bundesrepublik geborenen Kinder, deren Eltern in den letzten Jahrzehnten aus Nicht-EU-Ländern zu Arbeitszwecken angeworben wurden. Bürgerkriegsländer oder Länder, die von Hungerkatastrophen betroffen sind, werden von den Regierungen Westeuropas, Nordamerikas und Australiens mit Hilfe eines Frühwarnsystems ad hoc als „Länder mit hohem Migrationsdruck” eingestuft und – wie 1992 Jugoslawien – in die Liste der Visapflichtigen aufgenommen. Deutsche Botschaften und Konsulate erteilen „grundsätzlich keine Sichtvermerke zur Durchführung eines Asylverfahrens”.1)Nicht-EU-Staaten wie Polen und die Ukraine kennen keine Visapflicht für BürgerInnen aus zahlreichen ost- und südosteuropäischen, asiatischen, afrikanischen, mittel- und südamerikanischen Staaten. Die Illegalisierung von Flüchtlingen und MigrantInnen beginnt somit oft erst, wenn sie in den Transitländern „stranden” – oder eben beim Überschreiten der Schengener Außengrenze. Die bilateralen Rückübernahmeabkommen – das heißt die zwischenstaatlichen Verpflichtungen, eigene und fremde Staatsbürger „zurückzunehmen”, wenn sie unbefugt über das eigene Land in das Partnerland gereist sind – gibt es trotz der ähnlichen Abschottungspolitik Nordamerikas und Australiens nur in Europa.2) Die Rückübernahmeverträge der Bundesregierung mit der rumänischen (1992) und polnischen (1993) Regierung im Kontext der faktischen Abschaffung des Asylrechts 1993 (u.a. über die Einführung der neuen juristischen Konstruktion des „Sicheren Drittstaats” und des „Sicheren Herkunftslands”) wurden zum Modell, dem sich die Regierungen der EU und die Regierungen Mittel- und Osteuropas anschlossen. Kein Staat will langfristig das eigene Land zum Auffangbecken von Abgeschobenen machen. Für Flüchtlinge folgt daraus, daß sie als potentielle Asylantragsteller heimlich über die Grenze kommen müssen.Auch die Einreise auf dem Luftweg und der Antrag auf Visaerteilung auf dem Flughafen ist den Visalosen versagt. Das Ausländergesetz sieht als Sanktion für Beförderungsgesellschaften, wenn sie auf deutschen Flughäfen Personen ohne Einreiseerlaubnis aussteigen lassen, eine Rückbeförderungspflicht, die Kostenübernahme für Aufenthalt und Rückbeförderung, ein Zwangsgeld von mindestens 2.000 Mark und eine mögliche Geldbuße von bis zu 20.000 Mark vor. Der regionale Schwerpunkt liegt in diesem Heft auf der Schengener Außengrenze zwischen Brandenburg und Polen. Dabei konnten wir auf Vorarbeiten der „Dokumentationsstelle Menschenrechtsverletzungen an der Grenze” zurückgreifen, die die FFM gemeinsam mit der Berliner Antirassistischen Initiative (ARI) Anfang 1995 ins Leben gerufen hat. Anlaß zu dieser dokumentierenden Öffentlichkeitsarbeit war der ”Tod in der Neiße”3) – ein Pakistani und acht Tamil/innen waren wenige Monate zuvor beim versuchten Grenzübertritt ertrunken. Die deutschen Behörden hatten zunächst dieses Unglück abgestritten und die Nachforschungen behindert. Aus dieser Erfahrung entstand die besagte Anlaufstelle, bei der in der Folge zahlreiche Hinweise auf weitere tödliche Folgen der Festung Europa an Oder und Neiße eingingen. Dieses Heft ist nicht allein am Schreibtisch entstanden, sondern in der Zusammenarbeit mit Menschen in Brandenburg, mit Flüchtlingen, mit GrenzbewohnerInnen. Erwähnen möchten wir die Unterstützung, die wir beim brandenburgischen Flüchtlingsrat gefunden haben.Unsere Recherchen in Polen wären ohne die Hilfe von Daniel Sladewski nicht möglich gewesen. Daniel ist in der Zeit zwischen dem 7. und dem 10. April bei einer Bergtour tödlich verunglückt. Mit seinem Engagement zunächst bei der Polska Akcja Humanitarna und seit wenigen Monaten in der neuen Organisation ”Richtige Zeit” (”Wlasciwy Czas”) öffnete er den Weg in polnische Abschiebelager und Flüchtlingsheime und ermöglichte damit einen Blick in die deutsch-polnische Abschiebemaschinerie. Gemeinsam haben wir über 170 Abschiebehäftlinge in vier polnischen Städten besucht. Nach unserem Protest – fast alle Flüchtlinge hatten Asylanträge gestellt, die aber von wenigen Ausnahmen abgesehen nicht zur Kenntnis genommen worden waren – und aufgrund der entstehenden kritischen Öffentlichkeit wurden die Flüchtlinge wieder freigelassen. Daniel Sladewski wollte in diesen Wochen zur Situation der vom BGS nach Polen Rückgeschobenen recherchieren. Er ist nur 25 Jahre alt geworden. In Trauer wird uns angesichts dieses Verlusts schmerzlich bewußt, daß die community-übergreifende, internationale Flüchtlingsarbeit in Polen wie überhaupt in Mittel- und Osteuropa in den Händen ganz weniger Menschen liegt.Zum Inhalt des Hefts: Es beginnt mit der Perspektive und den Erfahrungen vieler Flüchtlinge und MigrantInnen auf dem Weg über die Grenzen – Transitländer: Ukraine und Weißrußland. Das mehrmonatige Warten oder „Stranden” kennzeichnet diese Etappe. Im zweiten Kapitel steht die schwierige Fluchtstation in Polen im Mittelpunkt, sowie die Thematisierung von Fluchthilfe. Die Beitrittsperspektive Polens zur Europäischen Union und die Ausweitung des Einflusses der deutschen Polizeibehörden und der deutschen Abschiebepolitik in das Nachbarland Polen prägt den Hintergrund dieser Themen.Bemerkenswert ist, daß der polnische Staat die Techniken der deutschen Grenzfahndung kopiert, aber – das ist Thema des dritten Kapitels – in der Übernahmepraxis auf zahlreiche Hindernisse stößt. Das vergleichsweise geringe Einkommen polnischer GrenzbewohnerInnen, ihre Suche nach Zusatzverdiensten und die fehlende Denunziationsbereitschaft schaffen eine Situation, die Flüchtlingen gewisse Chancen bietet. Die informelle, polizeiliche Zusammenarbeit der Polizeibehörden über die Grenzen hinweg scheint eine Antwort auf diese deutsch-polnischen Disparitäten zu sein.Die Veränderung der Schengener grenzpolizeilichen Überwachung – von der Aufrüstung an der Grenzlinie zu räumlichen Fahndungskonzepten – ist Thema des vierten Kapitels. Mit Öffentlichkeitskampagnen und der Einrichtung des sogenannten Bürgertelefons versucht der Bundesgrenzschutz (BGS), die Bevölkerung systematisch in die Fahndung nach heimlichen GrenzgängerInnen einzubinden. Standen bisher Regierungspolitik, Gesetzesinitiativen, Medienkampagnen einerseits und rassistische Attacken in einem korrespondierenden Zusammenhang, so etabliert die neue Grenzpolitik einen direkten Fahndungsverbund zwischen Behörden, Verbänden und Teilen der Bevölkerung im Akt der Degradierung und Entrechtung von Flüchtlingen und MigrantInnen. Exemplarisch dokumentieren wir in diesem Kapitel den Bedeutungswandel der Fluchthilfe – von der politischen Instrumentalisierung im Kontext der Ost-West-Konfrontation bis zur heutigen Kriminalisierung – und die Einbindung von Taxifahrern in die Grenzfahndung, denen bei Beförderung heimlich Eingereister strafrechtliche Verfolgungen und die berufliche Ruinierung drohen. Im fünften Kapitel skizzieren wir die spezifischen Arbeitsweisen der brandenburgischen Flüchtlings- und Abschiebeverwaltung im Kontext des alltäglichen Rassismus. Wir hoffen, daß dieses Heft nicht nur als kleines Handbuch für Flüchtlingsräte und engagierte Gruppen in den Grenzregionen aufgenommen wird, sondern zur grundsätzlichen Auseinandersetzung mit der Flüchtlings- und Gesellschaftspolitik der Bundesregierung beiträgt. Die Schreckgespenster und Bedrohungsszenarien, mit denen diese Politik arbeitet, bewirken nicht nur realen Schrecken und Leid für Flüchtlinge an der Grenze wie auch im Landesinneren, sondern einen erneuerten unmenschlichen Zuschnitt der Gesellschaft. Wir möchten das Heft als Aufforderung zum Widerstand gegen dieses janusköpfige Ungeheuer des Rassismus verstanden wissen.
Resümee
Die rasante technische und personelle Aufrüstung an der Grenze, so hat sich in unserer Darstellung gezeigt, macht für viele Menschen die Flucht nach Deutschland zu einem langen, gefährlichen Weg durch verschiedene osteuropäische Länder, bis sie dann versuchen, die letzte Hürde, die Grenze zur Bundesrepublik, heimlich zu überwinden. Meist wird das auf eigene Faust versucht, doch gerade Menschen, die einen langen Weg zurücklegen müssen, bis sie auf das Gebiet der Bundesrepublik gelangen, können das ohne fremde Hilfe kaum noch bewerkstelligen. Immer wieder neu versuchen sie, Etappen ihrer Flucht zu organisieren, sich jemanden zu suchen, der oder die ein neues Stück des Weges für sie plant. Die Formen der Fluchthilfe, so hat sich gezeigt, haben in der Realität meist wenig mit den Vorstellungen von einer kohärenten Fluchthilfeorganisation gemein, sondern von Mal zu Mal werden neue HelferInnen gesucht, die mit unterschiedlichen Zielsetzungen arbeiten. Bei manchen sind es humanistische oder politische Ziele, bei anderen eher kommerzielle Überlegungen.Wir haben uns in unseren Ausführungen bemüht, die Fluchthilfe aus der Dämonisierung, aus ihrer Darstellung als bedrohliche ”Organisierte Kriminalität” zu lösen und nüchtern als das zu beschreiben, was sie eigentlich ist: eine Dienstleistung, die, sofern von kommerziellen Zielen geleitet, nach den Regeln des Marktes funktioniert. Das heißt, die Nachfrage nach Fluchthilfe steigt mit den Abschottungen der Grenzen. Je komplizierter die Wege sind, je mehr Umwege jemand in Kauf nehmen muß, um so teurer wird es. Ein weiterer Faktor der Preissteigerung ist die steigende Nachfrage, das heißt, immer mehr Menschen können nur noch mit Hilfe dieser Dienstleistung nach Deutschland einreisen. Dies gilt es als Ursache im Kopf zu behalten, wenn von verschiedenen Ausbeutungsformen die Rede ist, die auch in diesem Zusammenhang entstehen können.In die Politik der Abschottung Europas gegenüber Flüchtlingen werden in den letzten Jahren verstärkt auch die Staaten Mittel- und Osteuropas eingebunden. Die westeuropäischen Regierungen üben politischen und wirtschaftlichen Druck aus auf Staaten wie Polen, die Tschechische Republik oder Ungarn, um ihre Mitarbeit als Türhüter der EU sicherzustellen. Ein Grenzschutzkonzept nach deutschem Beispiel und die Einführung einer Ausländer- und Asylgesetzgebung nach Schengener Muster werden zum Gradmesser der Beitrittstauglichkeit der künftigen EU-Mitglieder. Sie erhalten dabei finanzielle Hilfen für die Aufrüstung ihrer Polizeiapparate; technisches Know-How sowie das methodische Handwerkszeug werden an deren Grenzen transferiert. Wir haben dies an der Entwicklung Polens hin zu einer Anpassung an die europäische Abschottungspolitik nachgezeichnet. Auch wenn bislang für MigrantInnen in Polen noch Nischen bestehen, die sie für sich nutzen können, auch wenn die Abschottung noch nicht so reibungslos funktioniert, ist doch die Richtung deutlich geworden, in die es gehen soll: MigrantInnen soll bereits in Polen der Weg nach Westeuropa abgeschnitten, ihre Einreise in die Schengenstaaten verhindert werden.Das deutsche Innenministerium hat 1990 damit begonnen, das Hauptkontingent des Bundesgrenzschutzes an die Grenze zur Tschechischen Republik und zu Polen zu verlagern und eine Polizeidichte aufzubauen, wie sie bislang an keiner anderen Grenze in Europa besteht. Der Haushalt des BGS wurde seither mehr als verdoppelt. Zusätzlich zur Aufstockung des Personals kam eine millionenschwere Technik an der Grenze zum Einsatz. Mit dem BGS-Gesetz von 1994 erhielt der BGS neben der Überwachung der eigentlichen Grenzlinie als weitere Befugnis die Kontrolle über das Hinterland der Grenze, das 30 Kilometer ins Landesinnere hineinreicht. In dieser 30-Kilometer-Zone ist er berechtigt, Identitätskontrollen ohne Anlaß oder konkrete Verdachtsmomente vorzunehmen, nicht nur Menschen ohne gültige Aufenthaltspapiere müssen ständig mit diesen Kontrollen rechnen, sondern auch alle Menschen, die nach Meinung des BGS wie Flüchtlinge aussehen. Hautfarbe und Sprache von Menschen werden zum Fahndungsmerkmal. In diesem Fahndungskonzept setzt der BGS seit der Mitte der 90-er Jahre verstärkt auf die Mitarbeit der BewohnerInnen des grenznahen Raums. Über sogenannte Bürgertelefone, die ihm bis zu zwei Dritteln seiner Festnahmen verschaffen, ist der BGS rund um die Uhr erreichbar, um Hinweise über ”verdächtige Personen” aufzunehmen. Taxifahrer werden aufgefordert, dem BGS Meldung zu erstatten, wenn sie davon ausgehen, daß es sich bei ihrem Fahrgast um eine ”illegal eingereiste Person” handelt. Wer mit heimlich eingereisten Menschen aufgegriffen wird, muß in der 30-Kilometer-Zone damit rechnen, daß er wegen des ”Einschleusens von Menschen” verurteilt wird, wie wir an den Taxifahrerprozessen gezeigt haben. Schon jetzt haben die Prozesse zur Folge, daß Taxifahrer in den Grenzgebieten sich weigern, Menschen zu befördern, die sich über eine dunklere Hautfarbe oder ein anderes Merkmal ”verdächtig” machen.In diesem Klima leben auch diejenigen Flüchtlinge, die Asyl beantragen und während ihres Asylverfahrens innerhalb der 30-Kilometer-Zone in Eisenhüttenstadt bleiben müssen. Auch sie müssen damit rechnen, daß sie von großen Teilen der einheimischen Bevölkerung argwöhnisch belauert werden, daß sie dem BGS gemeldet werden, wenn sie sich außerhalb des Geländes ihrer Unterkunft bewegen, oder daß sie rüden Kontrollen unterzogen werden.Die in diesem Klima couragierte Strafanzeige einer Mutter aus dem brandenburgischen Ort Forst hat folgendes an die Öffentlichkeit gebracht: Eine Streife einer der lokalen Bürgerwehrgruppen, die BWG 9, hatte auf Veranlassung des BGS eine Gruppe Jugendlicher beim abendlichen Heimweg gestoppt und festgehalten, weil sich unter den Kindern ein kenianischer Jugendlicher befand. Auf einer vom örtlichen Pfarrer organisierten Veranstaltung zum Thema, bei der sich viele Bürger darüber empörten, wollten sich die BGS-Vertreter nicht zu ihrer inoffiziellen Zusammenarbeit mit selbsternannten und bewaffneten Bürgerwehren entlang der Grenze bekennen. Es wird sich also auch weiterhin lohnen zu beobachten, bekannt zu machen und öffentlichen Protest gegen das Grenzregime zu organisieren.Es drängt sich die Vermutung auf, daß die im Grenzraum erprobten sozialtechnischen Verfahren und neuartigen Kontrollmechanismen mit einem verstärkten propagandistischen Nachdruck auf dem Thema ”Innere Sicherheit” auch ins Landesinnere und in die Innenstädte transferiert werden und der Grenzraum als Laboratorium der Innen- und Sicherheitspolitik dient. Der kürzlich von Innenminister Manfred Kanther vorgebrachte Vorschlag, die bereits bestehenden Antikriminalitätsbündnisse in ungefähr 200 Großstädten mit Unterstützung des BGS zu reorganisieren, in Anlehnung an das US-amerikanische Konzept des „Community Policing”, weist in diese Richtung.236) Dem BGS, dem auch bahnpolizeiliche Aufgaben unterstehen, käme dann eine wichtige Rolle bei der sozialen Kontrolle der Bahnhöfe zu. Die Bekämpfung von Bagatelldelikten und nicht strafbaren, aber durch Politiker und Medien inkriminierten Verhaltensweisen („aggressives Betteln” etc.) haben in diesem Konzept höchste Priorität.Eine ”Integration” oder auch ”Assimilation” im Munde führende Sozialpolitik bis zum Beginn der 80-er Jahre ist durch einen neuen Diskurs der ”Inneren Sicherheit” abgelöst, der die Politik zunehmend beherrscht und in dem die Feindbilder ”Illegaler” und ”Organisierte Kriminalität” genutzt werden, um eine latente Fahndungsbereitschaft zu erzeugen, die sich zuallererst gegen Flüchtlinge, MigrantInnen und andere nicht ”deutsch” aussehende Menschen richten wird, aber auch gegen Obdachlose, Straßenprostituierte, DrogenkonsumentInnen, Linke und andere Unangepaßte. Gesellschaftliche Zugehörigkeit drückt sich darin aus, ob man Angst vor den Kontrolleuren haben muß oder ob man sich neben ihnen sicher fühlt237).In diesem Land ist bisher die Kritik wirkungslos geblieben, die die Entkriminalisierung der unkontrollierten Einreise und des nichtgenehmigten Aufenthalts fordert. Mit dem Konzept des „Community Policing” und der Propagierung von „Zero-Toleranz” in den Großstädten droht nun nicht nur die gesellschaftliche Stigmatisierung der „Sans-Papiers” generell zu Kriminellen. Die schärfere soziale und phänotypische Grenzziehung zwischen Illegalisierten und bevorrechteten StaatsbürgerInnen verändert von Grund auf Staat und Gesellschaft. In den informellen Körperschaften, die in den Grenzregionen wie in den Innenstädten entstehen, verfließen die Grenzen zwischen Bevölkerungsgruppen, Behörden und lokalen Einrichtungen. 1998 wird es wieder eine Innenstadt-Kampagne geben, die mit vielfältigen Aktionen auf diese Zusammenhänge hinweisen will. Auch Verbände und Organisationen, die mit der Betreuung von Flüchtlingen und MigrantInnen zu tun haben, von Pro Asyl bis zur Caritas, wenden sich immer entschiedener gegen die zunehmende Kriminalisierung und Diskriminierung ihrer Klientel und deren Abdrängen in die Illegalität. Insbesondere der überraschende Erfolg der bundesweiten Kampagne ”Kein Mensch ist illegal”, die als eine der ersten Stimmen auch den ”Schlepper- und Schleuser”-Mythos in Frage stellt238) und zur entschiedenen Unterstützung von illegalisierten Menschen und deren Selbstorganisierungsansätzen aufruft, zeigt, daß der Widerstand gegen den ausgrenzenden Sicherheitswahn der sich formierenden westeuropäischen Gesellschaft zunimmt. Denn für Menschen ohne legalen Status sind die Einreise und das Leben hier oft nur möglich mit der Unterstützung von FreundInnen, Verwandten oder anderen Menschen, die diese Situation aus eigener Erfahrung kennen und sich – statt an der Kriminalisierung mitzuwirken – mit ihnen solidarisieren.
Die Kampagne ”Kein Mensch ist illegal”
Die Mitte 1997 unter diesem Namen gestartete Initiative, die von autonomen, antirassistischen Gruppen sowie von kirchlichen und gewerkschaftlichen Zusammenschlüssen der Flüchtlingshilfe getragen wird, greift den Aspekt der Entscheidungsfreiheit jedes Menschen in ihrem programmatischen Appell auf. Dort heißt es: ”Jeder Mensch hat das Recht, selbst zu entscheiden, wo und wie er leben will”. Die UnterstützerInnen des Aufrufs, darunter fast 200 Organisationen und über 1000 Einzelpersonen, betonen:
”Nachdem es für Flüchtlinge und MigrantInnen nahezu unmöglich ist, auf legalem Weg hierher zu fliehen, einzureisen oder einzuwandern, ist die Überschreitung der Staatsgrenzen nur noch `illegal´ möglich (…) Der Regulierung von Migration und der systematischen Verweigerung von Rechten steht die Forderung nach Gleichheit in allen sozialen und politischen Belangen entgegen (…).”
Deshalb fordern die InitiatorInnen dazu auf, Flüchtlinge und MigrantInnen offensiv und womöglich wider das Gesetz zu unterstützen. Menschen versuchen aus den unterschiedlichsten Gründen, nach Westeuropa zu kommen, auch wenn sie einen durch ein repressives Grenzregime inhuman und gefährlich gewordenen Weg in Kauf nehmen müssen. Auf diese Situation gilt es zu reagieren und ihrer Kriminalisierung entgegenzuwirken. Dabei stehen Unterkunft und materielle Mittel zum Überleben, medizinische Versorgung, Schule und Ausbildung ebenso auf dem Besorgungszettel der praktischen Solidarität wie die Unterstützung bei der Einreise und der eventuellen Weiterreise in einen anderen Staat.
Flüchtlingsrat. Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Ausgabe 5/98, Heft 55:
Die Grenze: Flüchtlingsjagd in Schengenland
Ingesamt 214 Seiten, zum Preis von DM 8,- zu beziehen über: Niedersächsischer Flüchtlingsrat, Lessingsstr. 1, 31135 Hildesheim. Fax: 05121/ 31609.