TAG DES FLÜCHTLINGS 1995
Deutsche Ufer – Tod an der Grenze
INHALT
- Grußwort der Vertreterin der Hohen Flüchtlingskommissarin der Vereinten Nationen (UNHCR) in der Bundesrepublik Deutschland
- Kriegsflüchtlinge brauchen eine Lebensperspektive
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GRENZEN: LAND, WASSER, LUFT
- Justizlotto am Flughafen
- Kein faires Verfahren für nigerianische Flüchtlinge
- Datenschutz ist Flüchtlingsschutz
- Ein natürlicher Tod
- Deutsche Ufer – Tod an der Grenze
- Festung Europa: Die Odyssee eines Deserteurs aus Kosova
- Verhaftet, gefoltert, verschwunden – wenn deutsche Behörden abschieben
- Lageberichte des Auswärtigen Amtes: Verharmlosung von Menschenrechtsverletzungen?
- Zweierlei Wahrnehmungen: Behördliche Auskünfte und die Realitäten vor Ort
IN DEN HERKUNFTSLÄNDERN
Die Zahl derjenigen, die im Jahre 1994 versucht hätten, über die Grünen Grenzen Deutschlands illegal einzureisen, habe sich fast halbiert, so die Erfolgsbilanz von Bundesinnenminister Kanther. Unter der Losung der Bekämpfung des »illegalen Schleusertums« und der »Grenzkriminalität« findet eine beispiellose Aufrüstung insbesondere der deutschen Ostgrenzen statt. 456 mobile Überwachungstrupps sichern Grenze und Hinterland. Mit Dutzenden von Wärmebildgeräten werden Menschen in der Dunkelheit aufgespürt. Dem BGS stehen sieben seeflugtaugliche Hubschrauber und zwölf Patrouillenboote zur Verfügung.
Bei der Einweihung von vier neuen Booten für die Überwachung der Oder wird Bundesinnenminister Kanther gefragt, ob auch die Rettung ertrinkender Flüchtlinge zu den Aufgaben der Bootsbesatzung zähle. Kanther zeigt sich überrascht. Noch im Oktober 1994 weiß er nichts von Menschen, die beim Versuch, nach Deutschland zu gelangen, ertrunken sind. Kanther leugnet den Zusammenhang zwischen einer hochgerüsteten Grenze und der Lebensgefahr für diejenigen, die sie dennoch passieren müssen. Nach Angabe der Zeitung Junge Welt vom 14. Oktober 1994 äußert er schroff: «lch habe keine Lust, über Totenquoten zu reden, die es nicht gibt.«
Seine Untergebenen wissen es besser. Ein Sprecher des Bundesgrenzschutzpräsidiums Ost wies gegenüber der Märkischen Oderzeitung vom 15.10.1994 daraufhin, daß allein seine Behörde von zwölf in Oder bzw. Neiße Ertrunkenen im Jahre 1994 wisse. Mit einer Gesamtzahl von mindestens 20 Toten sei zu rechnen, bei 10.000 vom BGS gestellten Personen sei dies jedoch eine relativ geringe Zahl.
Bereits in den Vorjahren waren immer wieder Gerüchte über eine große Zahl von Wasserleichen durchgesickert. Durch die immer lückenlosere Überwachung der Flußgrenze, insbesondere an Furten, Wehren und Brücken, weichen Flüchtlinge an Stellen aus, wo die Überquerung besonders gefährlich ist. Da sie damit rechnen müssen, sofort zurückgewiesen zu werden, wenn der BGS sie an der Grenze aufgreift, setzen sie alles daran, ins Inland zu gelangen, in der Hoffnung, in ein reguläres Asylverfahren hineinzukommen. Ist ihr Reiseweg dann nicht zu ermitteln, haben sie unter Umständen eine Chance, der Abschiebung zu entgehen.
Wieviele Tote es an der Grenze in den letzten Jahren wirklich gegeben hat, weiß niemand. Viele der Aufgefundenen bleiben namenlos, weil sie keine Dokumente bei sich haben oder ihre Leiche nach längerem Liegen im Wasser nicht mehr identifizierbar ist. In Deutschland warten Flüchtlinge auf Verwandte, die sich angekündigt hatten, aber niemals eingetroffen sind. Für einen Teil der Medien sind die Schuldigen klar. So schreibt der Berliner Kurier vom 14.10.1994 in einem Artikel über in der Neiße ertrunkene Tamilen: »Wieder hat eine Schlepperbande Menschen in den Tod getrieben.«
Die Entlastung des Gewissens beginnt bereits in den behördlichen Meldungen. Flüchtlinge dürfen es nicht sein, die dort ertrinken. Es sind gescheiterte »Illegale“. Wohl deshalb wurden im nachfolgend abgedruckten Fax des Grenzschutzpräsidiums Ost vom 4.10.1994, das allein die Wasserleichen in der Neiße im Jahre 1994 aufzählt, die Worte »erreichten bei Flucht das deutsche Ufer« umgeschrieben in »erreichten beim Überqueren der Neiße deutsche Ufer«. Dies ermöglicht Bundesinnenminister Kanther, über Totenquoten, die es nicht gibt, auch nicht zu reden.