FR 26.10.1998
Aufbruch und Erneuerung –
Deutschlands Weg ins 21. Jahrhundert
Die Grünen stimmten dem Koalitionsvertrag
zu und feierten sich selbst –
jetzt wollen sie die Kultur der Republik ändern
Von Pitt von Bebenburg (Bonn)
PRO ASYL and the Red-Green Coalition Agreements (en)
Menschenrechtsbeauftragter Poppe will „massiv“ auftreten
Der Rot-Grüne Koalitionsvertrag (Auszüge)
Die Grünen stimmten dem Koalitionsvertrag zu (FR 26.10.1998)
Der Regen prasselt heftig nieder auf mehrere hundert Anti-NPD-Demonstranten, die seit Stunden von der Polizei in der Bonner Römerstraße eingekesselt werden. Auch Michael Vesper steht im Regen. Der nordrhein-westfälische Bauminister ist samt einigen Bundestagsabgeordneten vom Parteitag der Bündnisgrünen in der nahegelegenen Beethovenhalle herübergeeilt, um den engagierten Linken zu Hilfe zu kommen. Er wolle, hatte Vesper den klatschenden Parteifreunden zugerufen, „jetzt den wichtigeren Part übernehmen und mit zur Demo gehen“.
Dadurch verpaßt er den Moment, den Joschka Fischer als wichtigsten seit Gründung der Grünen vor 18 Jahren einordnet: die überwältigende Zustimmung der Partei zum Koalitionsvertrag mit der SPD und zu den Personalvorschlägen der Parteiführung, zu den designierten Ministern Andrea Fischer, Joschka Fischer und Jürgen Trittin.
Wenige Gegenstimmen gibt es von den 850 Delegierten der Grünen-Basis und noch weniger Enthaltungen – da reißt es die begeisterten Mitglieder der Regierungspartei in spe von den Sitzen. Minutenlang klatschen sie rhythmisch und feuern sich an; die zwölf „Promis“ aus der Verhandlungskommission treten an den Bühnenrand und werfen gelbe Blumensträuße in den Saal. Manchen fällt auf, daß für solche Momente ein verbindendes Lied fehlt. Man ahnt, was losgewesen wäre, wenn die Parteitagsregie John Lennons „Imagine“ eingespielt hätte, die Hymne von den politischen Träumen einer – dieser – Generation.
Krista Sager, die Hamburger Wissenschaftssenatorin, hatte es geahnt: Es werde „wahrscheinlich ein SED-mäßiges Ergebnis über den Koalitionsvertrag geben“, flachste sie. Und obwohl viele in der Partei „Bauchschmerzen“ über einzelne Ergebnisse des Koalitionsvertrags beklagten, obwohl aus der Frauenversammlung vehementer Einspruch gegen die Aufgabe der grünen „Mindestquote“ bei der Vergabe der Ministerposten kam – „unehrlich“ sei das klare Votum der Versammlung nicht, befand Sager. Denn über allen Einzelheiten stehe das Ziel, die Grünen für die Bonn/Berliner Koalition zu stärken. Es waren nicht viele, die das anders sahen – die meisten davon Delegierte aus dem Ruhrgebiet.
Mit warmen Worten hatten die Galionsfiguren der Partei die drei großen Umbrüche herausgestrichen, die sie durch den Koalitionsvertrag eingeleitet sehen: Atomausstieg, Ökosteuer und Staatsbürgerschaftsrecht lauteten die Stichworte. Unverhohlen räumten sie aber vor allem eine „katastrophale Niederlage“ ein: das Durchwinken des Asylrechts.
Die traditionell mit den Grünen verbundenen Gruppierungen machen jetzt auf neue Weise Druck: manche besonders hoffnungsfroh angesichts der neuen Machtverhältnisse, andere abweisend angesichts der Zumutungen im Koalitionsvertrag. „Enttäuschen Sie unsere Hoffnung nicht!“ rief ein Sprecher der Initiative „Kein Mensch ist illegal“ in den Saal, die sich für Kurden im Kirchenasyl stark macht. Für die Umweltorganisation BUND warnte Angelika Zahrnt: „Wir werden weiterhin das ökologisch Notwendige einfordern – auch von den Grünen!“ Dagegen kündigte das „Anti-Atom-Plenum NRW“ die Freundschaft, weil die Bündnisgrünen nicht den „sofortigen Atomausstieg“ zur Bedingung für die Koalition gemacht hatten: „Die Grünen als Partei stehen ab sofort auf der anderen Seite des Bauzauns. Und tschüs …“, meinte Plenumssprecher Horst Homeier.
Es war die alte und neue Fraktionschefin Kerstin Müller, die die Antwort an all diese jetzigen und ehemaligen Grünen-Sympathisanten in den Mittelpunkt rückte. Es gehe darum, „gesellschaftliche Mehrheiten“ zu erkämpfen, „mit Euch gemeinsam“, wandte sie sich an die Atomgegner. Das gleiche gelte in der Asylpolitik, wo man „auf eine völlig vom Stammtisch verängstigte SPD getroffen“ sei. „Ich mißbillige zutiefst das, was zum Asylrecht im Koalitionsvertrag steht, und das tun wir alle“, sprach ausgerechnet Müller, die diese Passage ausgehandelt hatte, den Flüchtlingsgruppen aus der Seele. Die Wende könne aber nur kommen, wenn die Bevölkerung mitziehe. Daran müsse die Partei arbeiten, „gemeinsam mit Pro Asyl, gemeinsam mit den Kirchen“ – und diese Aufgabe beginne jetzt erst richtig.
Niemand nahm den Begriff von der „geistig-moralischen Wende“ in den Mund, mit dem Helmut Kohl bei seinem Amtsantritt hausieren gegangen war. Doch nicht nur in Müllers Rede erinnerte manches an dessen Ziel: das gesellschaftliche Klima zu verändern, die kulturellen Werte zu erneuern. Es gehe um einen „Kulturbruch“, freute sich Daniel Cohn-Bendit, für den die Besetzung des Außenamts mit seinem alten Frankfurter Freund Fischer das beste Signal dafür ist.
Der kommende Außenminister hieb bei seiner Abschlußrede in die gleiche Kerbe. Selbst die SPD nahm Fischer in Schutz, deren Innenpolitiker Otto Schily viele Vorredner zum Sündenbock für die Flüchtlingspolitik gemacht hatten. „Viele von uns würden in eine ähnliche Position kommen, wenn sie 40 plus X erreichen müßten“, behauptete er und folgerte: „Wir werden dafür sorgen müssen, daß sich die Stimmung wendet im Land.“ Dahin aber werde mit dem neuen Staatsbürgerschaftsrecht ein großer Schritt gemacht.
Das hätte Genugtuung sein können für einen, der das Konzept zum Einbürgerungsrecht maßgeblich mitentwickelt hat: Cem Özdemir. Doch der türkischstämmige Schwabe war bitter enttäuscht über seine Partei, die nicht ihn, sondern Marieluise Beck zur Ausländerbeauftragten macht. Wenn man erlebte, wie Özdemir die Delegierten in einer pointierten Rede mitriß, mag man seiner Einschätzung glauben, daß er „das Ding hier hätte kippen können“. Doch er entschied sich, „Parteisoldat“ zu bleiben.
Er war in der historischen Stunde nicht der einzige Enttäuschte. Ohne durchschlagenden Erfolg rangen mehrere Linke dafür, daß die Minister ihre Mandate abgeben müssen – der beschlossene Kompromiß sichert diesen für zwei Jahre ihre Doppelrollen. Nicht durchsetzen konnten sich auch jene Frauen, die eine zweite Ministerin für die Grünen erzwingen wollten – selbst bei der Abstimmung unter den weiblichen Delegierten fand sich dafür keine Mehrheit. Vielleicht auch, weil sich die grünen Frauen in vielen Bereichen bereits durchgesetzt hatten: von zwölf herausgehobenen Posten – Minister, Staatssekretäre, Bundestagsvizepräsidentin, Ausländerbeauftragte und Fraktionschefs – gehen acht an Frauen.
Dagegen sieht die Bilanz der Ostdeutschen wahrlich ernüchternd aus: Sie erhalten keinen einzigen Spitzenposten. Entsprechend verbittert zeigte sich Werner Schulz, der gerne Fraktionschef geworden wäre, am Sonntag. Der gemeinsame Name Bündnis 90/Die Grünen sei nur noch „ein leerer Vorsatz“, die Partei habe den Osten aufgegeben. Abends zuvor hatte Schulz bei den Promis vorne auf der Bühne gestanden, den Blumenstrauß als einziger in der Hand: Er hatte ihn nicht den Grünen-Delegierten zugeworfen.
Als die von der großen Einigkeit bei ihren wichtigen Beschlüssen gewärmten Basis-Grünen in die Nacht traten, kehrte der nasse Minister Vesper mit den befreiten Demonstranten gerade zur Beethovenhalle zurück. „Wir haben fünf Stunden im Kessel gesessen“, sinnierte ein junger Mann im Anorak, „während ihr da eure Veranstaltung abgezogen habt.“