TAG DES FLÜCHTLINGS 1997
Dem Gedächtnis der Namenlosen
Iris Schöninger
INHALT
- Grußwort der Vertreterin der Hohen Flüchtlingskommissarin der Vereinten Nationen (UNHCR) in der Bundesrepublik Deutschland
- Ich bin ein Mißbraucher
- Juristisch wegdefiniert
- Europa nutzt die baltische Sehnsucht nach neuen Grenzen – eine Reportage aus Litauen
- Informelle Zusammenarbeit – Tor zu für Flüchtlinge
-
ABSCHIEBEHAFT
- Weggesperrt zum Abtransport
- »Gib dem Herrn die Hand, er ist ein Flüchtling«
- Sachsens evangelischer Bischof besuchte Abschiebungshäftlinge in Leipzig
- In Lumpen gehüllt
- FRAUEN
- »Verfolgte Frauen schützen!«
- Geschlechtsspezifische Menschenrechtsverletzungen
- Europaparlament: Asylpolitik muß der Lage von Frauen Rechnung tragen
- KIRCHENASYL
- Zur Notwendigkeit des »Kirchenasyls«
-
BEISPIELE UND ANREGUNGEN ZUM TAG DES FLÜCHTLINGS 1997
- Anregungen zum Tag des Flüchtlings 1997
- Dem Gedächtnis der Namenlosen
- Eine Verkettung unglücklicher Umstände? oder »Der Trend geht zur Urne«
- Der Tod eines unbedeutenden Mitläufers
- »Abgeschobene erwartet ein gefährliches Folterpotential«
- Die Härtefallkommission
- Illegalisierte Flüchtlinge
Das laute Quietschen rangierender Eisenbahnwaggons zerschneidet die glühend heiße Luft. Stille wechselt sich ab mit den durchdringenden Geräuschen aus dem Bahnhof, der förmlich über der spanischen Grenzstadt thront. Port Bou ist immer noch Umsteigebahnhof, immer noch Grenzort im sich langsam vereinenden Europa. Doch allmählich verliert er seine ursprüngliche Bedeutung, denn tatsächlich kontrolliert er nicht mehr die sich zwischen Spanien und Frankreich bewegenden Menschenströme.
Port Bou bleibt ein Durchgangsort, an dem Menschen nicht lange verweilen. Fremde Gesichter wechseln täglich. Wer möchte schon an der Grenze verharren, wo doch das Landesinnere und die weiten Küsten neue Entdeckungen versprechen.
Erst die überdimensionale und den ganzen Ort dominierende Bahnhofskonstruktion brachte einst im ausgehenden 19. Jahrhundert, schenkt man modernen Hochglanzprospekten Glauben, den Fortschritt in das kleine Fischernest. Gustave Eiffel konstruierte ein faszinierendes Gebilde aus Eisen und Glas, das sich nun über die nicht miteinander kompatiblen Gleise französischer und spanischer Nationalstaatstechnik wölbt. Die Eisenbahn, damals das unumstritten modernste Fortbewegungsmittel, riß Port Bou aus seiner schläfrigen Ruhe und gab ihm ein völlig neues architektonisches Gesicht. Grund war die gegenseitige Abschottungspolitik der damaligen Herrscher, die den gigantischen Rangier- und Umsteigebahnhof erst nötig machte. Eingebettet in eine malerische kleine Bucht und gesäumt von nackten, ausgedörrten Bergketten liegt der kleine Ort heute da.
Grenzen entscheiden immer auch über ein Dazugehören und ein Ausgestoßensein. Gerade Europa kann auf eine blutige Geschichte der Ausgrenzung und Verfolgung, des Überlebens und der Vernichtung zurückblicken. Port Bou bildete darin immer auch einen Brückenkopf auf dem Weg in die Freiheit für die Flüchtlinge des Spanischen Bürgerkriegs nach Frankreich, für die von den Nazis Verfolgten in Richtung Portugal und den USA, dann wiederum für die RegimegegnerInnen Francos. Erst 1978 ebbte diese Bewegung mit der Demokratisierung Spaniens langsam ab.
Einer, der sein rettendes Schiff nicht mehr erreichen konnte, war der deutsche Philosoph Walter Benjamin. Port Bou stellte für ihn die entscheidende Hürde und den endgültigen Ort seines Scheiterns dar. Trotz des rettenden Schiffstickets und dem Einreisevisum für die USA in der Tasche verlor er 1940 in diesem beschaulichen Grenzort die Nerven. Wegen eines fehlenden Ausreisestempels aus Frankreich sollte er am folgenden Tag von der spanischen Polizei in das Frankreich des Vichy-Regimes abgeschoben werden. Nach seiner langen, beschwerlichen Flucht über die Pyrenäen glaubte er, durch mehrere Lageraufenthalte bereits gesundheitlich schwer angeschlagen, nicht mehr an eine Rettung vor den Nazischergen. Im ehemaligen Gasthaus »Fonda de Franca« (heute »International«) beendete er sein Leben mit einer Überdosis Morphium. Das von ihm als Durchgangstation gewählte Port Bou wurde für ihn zu einer Stätte des ewigen Bleibens. Irgendwo auf dem kleinen Friedhof ruhen seine Gebeine, niemand kennt inzwischen mehr genau die Stätte seiner sterblichen Überreste.
Gerade Port Bou bewies bei der Aufarbeitung seiner eigenen Geschichte Mut: Bereits 1979, kurz nach dem Ende der Franco-Ära, brachte die Stadt für den deutschen Flüchtling eine Gedenktafel an der Mauer des Friedhofs an und ehrte damit einen Fremden, ja sogar den Angehörigen eines Staates, der ihr während des Spanischen Bürgerkriegs so übel mitgespielt hatte.
Die erst Mitte 1994 von dem israelischen Künstler Dani Karavan vollendete Gedenkstätte für Walter Benjamin entstand ganz in derselben Tradition, wohingegen deutsche Politiker sich während der Planungsphase viel schwerer mit der Auseinandersetzung über die eigene deutsche Geschichte taten: Immer wieder schlugen sie den Fluchtweg der Verdrängung ein. Nur der Beharrlichkeit einiger weniger ist es zu verdanken, daß Port Bou am Wendepunkt seiner eigenen Entwicklung noch rechtzeitig ein Symbol der Erinnerung erhielt, kurz bevor die Gegenwart mit ihren schnellen Veränderungen die letzten Spuren aus seiner Zeit als Grenzort auslöscht.
Die »Passagen« – ein Gesamtkunstwerk verschiedener Wege der Besinnung und der Meditation – sind in Anlehnung an Benjamins Werk und im Gedenken an sein Flüchtlingsschicksal entstanden. Der enge, zum Wasser führende Eisentunnel, dessen Treppe die Freiheit verspricht und die doch so jäh hoch über dem Meer abbricht, während eine durchsichtige Glasplatte den Weg versperrt, ist tatsächlich ein Fluchtpunkt ohne Ausweg. So kurz vor dem Licht, dem Wasser, der wunderschönen Landschaft gibt es nur eine Möglichkeit: die Umkehr.
Allein der sich mühsam an die felsige Erde klammernde Olivenbaum am Rande der Friedhofsmauer vermittelt einen Hauch von Hoffnung und von Überleben.
Port Bou wird wahrscheinlich nicht wieder zum Ort der Entscheidung über Leben und Tod, über Einlaß und Ausgrenzung werden. Längst haben sich die Grenzen verlagert, die Reisemittel verändert. Heute gehen die Flüchtlingsströme nicht über europäische Grenzen nach draußen, sondern es drängen Überlebenswillige, Verfolgte und Hoffnungssuchende hinein in die »Festung Europa«. Jetzt sind die Stempel von Algeciras, von Görlitz, von all den internationalen Flughäfen europäischer Großstädte viel wichtiger als das Papier eines spanischen oder französischen Grenzpostens. Die Verzweiflung ist nicht weniger groß, neue »Benjamins« verlieren immer wieder die Nerven angesichts bürokratischer Schikanen und der drohenden Abschiebung. Hunderte von Menschen, die ihr Schicksal kleinen Booten anvertraut haben, um Gewalt und Armut in ihren Herkunftsländern zu entkommen, ertrinken vor den Küsten Europas. »Dem Gedächtnis der Namenlosen« sind die »Passagen« in Port Bou gewidmet. An Walter Benjamin erinnernd, stehen sie so auch für die vielen Frauen, Männer und Kinder, die auf dem Weg der Flucht scheitern und das Ziel ihrer Hoffnungen nicht mehr erreichen.