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TAG DES FLÜCHTLINGS 1996

Beispiele und Anregungen

Das Asylbewerberleistungsgesetz
ein Schreckgespenst für Flüchtlinge
und Asylsuchende

Anfang April 1995 hielten Asylbewerber in Fürstenwalde (Landkreis Oder-Spree) ihr Wohnheim besetzt. Sie verweigerten die Annahme von Lebensmittelgutscheinen und versperrten Mitarbeitern des Sozialamtes den Zugang zum Wohnheim. Anlaß war die Umstellung der Versorgung auf Sachleistungen. Die Flüchtlinge erhielten Lebensmittelcoupons, mit denen sie in Fürstenwalde nur in zwei Supermärkten einkaufen können.

Über die Gründe der Widerstandsaktion der Flüchtlinge berichtet Schwester Lucia Wirte aus Berlin:

»Ich war fremd, und ihr habt mich diskriminiert!« – so war die Grundstimmung

für Flüchtlinge und Asylsuchende wie auch für ihre deutschen Freunde in Fürstenwalde am 3. April diesen Jahres, als die Anordnungen von Sozialministerin Regine Hildebrandt (Runderlaß vom 3.3.1994) für die Heimbewohner in Fürstenwalde in die Praxis umgesetzt wurden: Für Asylbewerber gibt es zum Einkaufen nur noch Coupons, für alle Heimbewohner, ungeachtet der Tatsache, dass die meisten schon drei, vier Jahre in Deutschland sind. Eine diskriminierende Maßnahme! Das Wozu und Warum kann selbstverständlich niemand verstehen, zumal das Sachleistungsprinzip für Asylsuchende gedacht ist, die erst kurze Zeit hier sind, und für Aufenthalt bis zu einem Jahr. Hinzu kommt, daß wir gerade dabei sind, uns an die Zeit und Geschichte von vor 50 Jahren zu erinnern und Politiker mit eindringlichen Worten bei den Gedenkfeiern vor jeder Form von Ausgrenzung warnen!

Die Reaktion der Betroffenen angesichts solcher Zwangsmaßnahmen: Protest, Annahmeverweigerung der Gutscheine, Hungerstreik. Der Protest v. a. der Frauen, Mütter und ihrer Kinder war der Schrei der Armen, die diese Entrechtung und Verletzung von Menschenwürde nicht hinnehmen wollten. Der Hungerstreik mußte nach drei Tagen aufgegeben werden, hauptsächlich, weil auch viele Kinder mitbetroffen waren.

Die Praxis sieht so aus, daß für den Einkauf zwei Supermärkte zur Wahl stehen. Der Asylbewerber muß sich für einen entscheiden. Für die Fürstenwalder ist die Wahl schwer, weil der eine verhältnismäßig billig, aber sehr weit entfernt (etwa 6 km vom Wohnheim Haus Hoffnung), der andere nahe gelegen, aber sehr teuer ist.

Die Tage, an denen Asylbewerber einkaufen dürfen, sind festgelegt, ebenso ist die Kasse bestimmt, die die Gutscheine annimmt. Mir kommt unweigerlich der Gedanke: klare Anzeichen, wie es in Südafrika mit der Apartheid war – hier für Weiße, dort für Schwarze!

Herr Q. aus Angola macht seine Erfahrungen: Er kommt mit dem Gutschein seiner Frau an die Kasse. Seine Frau hat ein krankes Baby zuhause. Bestimmung ist, daß nur die Frau berechtigt ist, mit einem Gutschein und denen der Kinder einzukaufen. Die Kassiererin muß erst beim Chef vom Sozialamt anrufen, was sie nun machen soll.

Für Frau F., Bürgerkriegsflüchtling aus dem Kosovo, Mutter von sechs Kindern, wurden die beschwerlichen Einkäufe zum Verhängnis. Die mühsame Schlepperei der schweren Tüten, jede Woche ein paar Mal, gaben ihrer ohnehin geschädigten Gesundheit den Rest, so daß sie vor dem Kaufhaus zusammenbrach und ins Krankenhaus eingeliefert wurde. Schon länger als zwei Wochen liegt sie im Krankenhaus. Sechs Kinder sind allein zu Hause ohne ihre Mutter; das Jüngste erst drei Jahre alt. Will das Frau Hildebrandt!?

Nachbarn und Freunde sehen sich gefordert in Solidaritätsaktionen. Dennoch hoffen alle, daß diese unselige Maßnahme bald wieder ein Ende hat.

Quelle: nah + fern
Material- und Informationsdienst für die ökumenische Ausländerarbeit; Heft 18/Juli 1995

Die volle Härte des Gesetzes: Statt einer Zahnprothese gewährte das Sozialamt nur einen Pürierstab

Das Asylbewerberleistungsgesetz sieht vor, daß ärztliche und zahnärztliche Versorgung nur bei akuter Krankheit und Schmerzzuständen gewährt wird. Zahnersatz – häufig auch provisorischen – gibt es nur, wenn dies im Einzelfall unaufschiebbar ist. Die bundesweit geltende gesetzliche Regelung wird von einzelnen Städten und Gemeinden mit unterschiedlicher Härte umgesetzt.

Die Stadt Bochum kam auf die Idee, einen »Behandlungseinschränkungskatalog« einzuführen, in dem bestimmte Behandlungen für Asylbewerber von vorne herein ausgeschlossen werden sollen. Zu diesen nicht durchzuführenden bzw. nicht durch den Arzt abrechnungsfähigen Behandlungen gehören u.a.:

  • die Entfernung von Zahnstein
  • die medikamentöse Behandlung von Schleimhauterkrankungen
  • vorbeugende Behandlungen zur Verhinderung von Karies und Zahnfleischerkrankungen bei Kindern

In der Praxis bedeutet dies: Stellt ein Zahnarzt z. B. eine vereiterte Tasche im Zahnfleisch fest, so darf er nach der Vorstellung der Stadt Bochum eventuell noch ein Schmerzmittel oder ein Antibiotikum verabreichen. Der Zahnstein als unmittelbare Ursache der Probleme wird aber nicht entfernt, eine weitere medikamentöse Behandlung der Tasche nicht durchgeführt. Nicht durchgeführte Behandlungen aber haben häufig negative Auswirkungen: Die Beschwerden werden schlimmer, unter Umständen chronisch. Ein Zahnarzt, der sich gegen diese Eingriffe in seiner ärztlichen Verantwortung wehrt, schreibt an die Kassenzahnärztliche Vereinigung zum Problem der Verweigerung von Zahnsteinentfernungen folgendes: »Welchen Sinn würde die Behandlung haben, wenn der Zahnstein nicht beseitigt wird? War nicht der Zahnverlust im Mittelalter häufiger durch Zahnstein und der dadurch entstehenden Paradontalerkrankung als durch die Zahnzerstörung durch Karies bedingt? Sollen wir auf der Schwelle des 21. Jahrhunderts diesen Zustand wieder herbeiführen?« Das Asylbewerberleistungsgesetz führt, interpretiert wie in Bochum, geradewegs ins Mittelalter.

Ein Meisterstück der harten Auslegung eines ohnehin restriktiven Gesetzes lieferte der Kreis Hildesheim. Einem liberianischen Flüchtling, der wegen ei“ nes zerstörten Gebisses Speisen nicht abbeißen konnte, wurde Zahnersatz verweigert. Begründung: Die Maßnahme dulde Aufschub. Einer anderen Asylbewerberin ist ärztlich bescheinigt worden, sie brauche, eine Zahnprothese, andernfalls seien Folgeerkrankungen des Verdauungstraktes zu befürchten. Als die Frau einige Monate später schwere Gallenbeschwerden bekam, teilte ihr das Sozialamt offiziell mit, es gebe keinen Zusammenhang mit der Zahnlosigkeit. Was nach ihrer Auffassung die sachgerechte Behandlung solcher Probleme ist, zeigte schließlich die zuständige Gemeinde: Statt eines Zahnersatzes gewährte man einen Pürierstab.

Dieses Gesetz zu befolgen heißt, gegen höherrangige Gesetze zu verstoßen

Mit den Plänen, das Asylbewerberleistungsgesetz nochmals zu verschärfen und auf weitere Personengruppen auszudehnen, setzt sich die Bundesarbeitsgemeinschaft der Psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer in einem Brief an Bundestagsabgeordnete vom Februar 1996 auseinander. Geschildert werden die Konsequenzen, ‚wenn diese Pläne tatsächlich Gesetz würden: »Betroffen davon sind fast alle Patientlnnen der Beratungs- und Behandlungszentren für traumatisierte Flüchtlinge und Folteropfer. Die bisher 12 Monate dauernde Einschränkung der medizinischen Versorgung auf lediglich »akute« Krankheiten und Schmerzzustände für diesen Personen kreis hatte bereits viele fatale Folgen (z.B. Chronifizierung und weitere Verschlechterung der Krankheiten usw.). Die zeitliche Ausweitung der Einschränkung der medizinischen Versorgung bedeutet darüber hinaus die völlig fehlende Hilfe für seelische Traumafolgen (..;)«

Von der medizinischen Versorgung bleiben nach dem Asylbewerberleistungsgesetz Patientlnnen der genannten Zentren ausgeschlossen, bei denen z. B. folgende trauma- und folterbedingte Krankheiten bestehen:

  • Depressionen, Angstzustände, Suizidalität
  • Symptomatik im Rahmen des posttraumatischen Belastungssyndroms,
  • akute reaktive Psychosen u.a. – psychosomatische Erkrankungen usw.
  • Kontrakturen nach ausgedehnten Verbrennungen (…)
  • Fehlheilungen nach Knochenbrüchen
  • Zustand nach Gelenkluxationen und Gelenkverletzungen (Bänder- oder Knochenverletzungen)
  • Sehstörungen, Sehverlust
  • Hörstörungen oder Hörverlust
  • Zahnlockerungen, Zahnverlust
  • Nierensteinleiden, andere chronische Behinderungen

Die MitarbeiterInnen der Psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer haben die Erfahrung gemacht, daß in fast allen diesen Fällen durch amtsärztliche Dienste Diagnostik und insbesondere Therapie nicht genehmigt wurden. Es wurde vielmehr billigend in Kauf genommen, daß bei Hinauszögern der adäquaten Behandlung Chronifizierungen und weitere körperliche Verschleißerscheinungen nachfolgen.

Zur Illustration der bedrückenden Praxis des Asylbewerberleistungsgesetzes nur zwei Beispiele:

Die Operation ausgedehnter Kontrakturen im Bereich des rechten Unterarmes bei einer 19jährigen Frau aus Zaire wurde durch den amtsärztlichen Dienst eines Gesundheitsamtes versagt, obwohl von einer Fachklinik eine umgehende Operation wegen drohender Versteifung des Ellbogengelenks angeraten wurde. Es wurde somit eine bleibende Behinderung in Kauf genommen und damit auch eine bleibende eingeschränkte Arbeitsfähigkeit.

Ein 37jähriger sudanesischer Asylbewerber verlor aufgrund einer Schußverletzung in seinem Heimatland ein Auge. Auf dem anderen Auge blieb ihm ein Restsehvermögen von 15%. Der schwer traumatisierte Flüchtling wollte versuchen, in Deutschland sein Studium fortzusetzen. Die dazu dringend benötigte Sehhilfe wurde ihm amtsärztlicherseits versagt.

(…) Dieses Gesetz zu befolgen heißt, gegen höherrangige Gesetze zu verstoßen:

  • so gegen im Grundgesetz verankerte Rechte
  • gegen internationale Konventionen
  • gegen die ärztliche und psychologische Berufsordnung und
  • gegen den ärztlichen Eid (»… alle Menschen gleich zu behandeln… «)
  • ferner kann dies unterlassene Hilfeleistung bedeuten

Wie aus Veröffentlichungen zu Untersuchungen von Holocaustüberlebenden und den Folgegenerationen bekannt ist, ist für traumatisierte Menschen die Nachfluchtphase im Exil entscheidend für ihr weiteres Leben. Dies beinhaltet die Notwendigkeit therapeutischer Maßnahmen zur Verhinderung von Chronifizierungen psychosomatischer Erkrankungen, Depressionen und Angstneurosen.


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