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TAG DES FLÜCHTLINGS 1987

Christen und Asyl

Jürgen Micksch

Christen setzen sich für Flüchtlinge ein. Das hat eine lange Tradition. Die Bibel ist einmal als ein Buch von Flüchtlingen für Flüchtlinge bezeichnet worden. Wer in der Bibel liest, der wird überrascht: sie ist in der Tat voll mit Geschichten von Flüchtlingen. Bereits Abraham, der „Vater des Glaubens“ (Römer 4, 16) für Juden, Christen und Muslime, war ein Flüchtling. Im ersten Buch Mose lesen wir: „Es kam aber eine Hungersnot über das Land. Da zog Abraham nach Ägypten hinab, um dort eine Weile zu verbleiben; denn die Hungersnot lastete schwer auf dem Lande“ (1. Mose 12,10). Abraham versuchte ‑ wir würden heute sagen: als Wirtschafts-Flüchtling ‑ in Ägypten zu überleben. Menschen, die wie Abraham handeln, werden in unserem Land von manchen als „Schmarotzer“ bezeichnet.

Einige Zeit später kamen nach dem biblischen Bericht Josephs Brüder nach Ägypten und sprachen zum Pharao: „Wir sind gekommen als Fremdlinge, im Lande zu wohnen; denn deine Knechte haben keine Weide für ihre Schafe, so schwer ist die Hungersnot im Lande Kanaan. So laß doch nun deine Knechte im Lande Gosen bleiben“ (1. Mose 47, 4). Wie ihr Stammvater Abraham flüchteten sie wegen einer Hungersnot, die ihre Existenz bedrohte. Da Pharao den Joseph kannte und schätzte, antwortete er ihnen, daß, ihnen das Land offensteht und sie „am besten Ort des Landes wohnen können“.

Die Stämme Israels, so erzählt die Bibel weiter, wurden jedoch bald danach in Ägypten in schlimmster Weise ausgebeutet und bedrückt. Dennoch vermehrten sie sich und wurden offenbar von einem später lebenden Pharao als Bedrohung empfunden. Obgleich sie im Vergleich zu den Ägyptern nur eine unbedeutende Minderheit waren, sah der Pharao in diesen Flüchtlingen eine Gefahr. Er ließ sie grausam verfolgen und bedrohte sie mit Ausrottung ‑ Völkermord würden wir heute sagen. Er ließ anordnen, daß alle Söhne der Stämme Israels, die geboren werden, in den Nil geworfen werden sollen.

Gott hat die Verzweiflung und das Schreien des Volkes Israel in Ägypten erhört. Aus dem brennenden Dornbusch sprach er zu Moses: „Ich habe das Elend meines Volkes gesehen und ihr Geschrei über ihre Bedrängnis gehört, ich habe ihre Leiden erkannt. Und ich bin herniedergefahren, daß ich sie errette aus der Ägypter Hand und herausführe aus diesem Land in ein gutes und weites Land, in ein Land, darin Milch und Honig fließt“ (2. Mose 3, 7 u.8). Der dann folgende Auszug aus Ägypten zeigt in allen Phasen des Geschehens, wie Gott sein geflüchtetes Volk begleitet und sich mit ihm identifiziert.

Das Volk Israel hat diese Erfahrung in sein Glaubensbekenntnis aufgenommen und betont, daß es in Israel den Fremden besser gehen solle. Sie sollten Schutzrechte erhalten und wie die eigene Bevölkerung behandelt werden. Aber die Propheten mußten immer wieder darauf hinweisen, daß entgegen diesen Bekenntnissen auch in Israel Flüchtlinge und Fremde benachteiligt wurden.

Im Neuen Testament spielen Flüchtlinge und Fremde von Anfang bis zum Ende eine wichtige Rolle. Die erste Kindheitserfahrung Jesu ist nach Matthäus die Flucht nach Agypten. In seinem Leben wiederholt sich die Verfolgung, die Jahrhunderte vorher Stämme des Volkes Israel zur Asylsuche gezwungen hatte. Aber auch in seiner Heimat zog Jesus umher wie ein Fremder, der keine Bleibe hat. An vielen Stellen in den Evangelien wird berichtet, daß er sich mit den Außenseitern der Gesellschaft und mit den Fremden solidarisierte. Er selbst sagt von sich: „Die Füchse haben Gruben und die Vögel des Himmels Nester; der Sohn des Menschen aber hat nichts, wo er sein Haupt hinlegen kann“ (Lukas 9, 58). Er ist ein heimatloser, umherwandernder Prediger und endet als ein zum Tode Verfolgter. Er wird als ein Fremder draußen vor dem Tor ans Kreuz geschlagen.

Die ersten Christen haben dann bald die Erfahrung gemacht, daß sie verfolgt wurden und fliehen mußten. Die ersten Missionare waren nach dem Bericht der Apostelgeschichte solche Flüchtlinge. Die Anrede „Fremdlinge und Pilger“ wurde zur Selbstbezeichnung der Christen. Ihre wirkliche Heimat und ihr „Bürgerrecht“ haben Christen in der zukünftigen Welt Gottes. In dieser Welt sind sie deshalb in einem letzten Sinn immer „fremd“, oft genug verfolgt und zu Außenseitern oder Flüchtlingen gemacht. Das bringt sie in eine besondere Nähe zu Fremden und schafft eine innere Solidarität mit allen Heimatlosen.

Jahrhundertelang galten Kirchen als Orte des Asyls, aus denen kein Flüchtling gewaltsam entfernt werden durfte. Verfolgte sollten im Schutz der Kirche Gelegenheit erhalten, ihre Sache einem Richter vorzutragen. Bereits in der Gesetzgebung des Moses gab es ein solches Asylrecht. Damals war festgelegt, daß jemand, der aus Versehen getötet hatte, in eigens dafür ausgewählten Asyl‑ oder Freistätten Schutz erhalten sollte. Wer als Flüchtling eine solche Freistatt erreichte, war zwar der Blutrache enthoben, nicht aber der Prüfung seiner Tat. Das Asylrecht in Israel war nicht willkürlich, sondern klar begrenzt und definiert. Und es galt in Israel als göttliches Recht.

Christen und Kirchengemeinden in den USA haben diese biblische Tradition wieder lebendig gemacht. Ähnlich wie schon einmal vor etwa hundert Jahren in der Zeit der Sklavenbefreiung haben sie begonnen, Flüchtlinge unter bestimmten Voraussetzungen bei sich aufzunehmen, um sie dem Zugriff staatlicher Verfolgungsbehörden zeitweilig zu entziehen. Bei ihrem Handeln verweisen sie auf die

Befreiungsgeschichte Israels und das in der Kirche praktizierte Recht, Flüchtlingen in Notsituationen Zuflucht zu gewähren. In den USA gibt es ein über das ganze Land gespanntes Netz von über 300 miteinander in Verbindung stehenden christlichen und jüdischen Gemeinden, die in dieser Weise aktiv sind. Inzwischen haben sich dieser Bewegung einzelne Städte und Bundesländer in den USA angeschlossen. Ähnliche Ansätze gibt es in der Schweiz, in Holland und in Kirchengemeinden der Bundesrepublik und in Berlin (West).

Eine solche Aufnahme von Flüchtlingen, die in der Regel mit einem Rechtsbruch verbunden ist, kann nur das letzte Glied in einer Kette von Versuchen sein, einen Menschen, dessen Leben durch eine gewaltsame Abschiebung bedroht ist, zu schützen. Zunächst ist davon auszugehen, daß der Rechtsstaat, in dem wir leben, zahlreiche Möglichkeiten zum Schutz auch von Flüchtlingen bietet. Dieses Instrumentarium ‑ einschließlich von Demonstrationen und Petitionen ‑ ist in vollem Umfang auszuschöpfen. Führen solche Versuche nicht zum Ziel und besteht die begründete Annahme, eine Abschiebung bedeute die akute Gefahr für Leib und Leben, können einzelne Christen und sogar Kirchenvorstände sich dazu genötigt sehen, Flüchtlinge zu verstecken. Eine solche das geltende Gesetz verletzende Handlung kann die dafür vorgesehene Strafverfolgung durch den Staat nach sich ziehen und hat deshalb die Bereitschaft, Strafe zu übernehmen, zur Voraussetzung. Doch hat sie immer zum Ziel, mit den zuständigen Behörden nach menschlich und rechtlich vertretbaren Lösungen zu suchen. Damit wird weder die Rechtsautonomie des Staates noch sein Gewaltmonopol in Frage gestellt. Allerdings wird darauf gehofft, daß ein solches Zeichen zum Anlaß genommen wird, behördliche Entscheidungen zu überprüfen.

Christen sind wie alle Bürger dem Rechtsstaat gegenüber zur Loyalität verpflichtet. Die Bibel sagt aber auch, man müsse Gott mehr gehorchen als den Menschen. In extremen Situationen kann es also zu einem Gewissenskonflikt kommen. Der Schutz von Flüchtlingen, deren Leben bedroht ist, kann eine solche extreme Situation sein, in der sich Christen zum Glaubensgehorsam aufgerufen wissen.


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