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Frankfurter Neue Presse
4.12.1998

Chinesen bezahlen 17.000 Mark an ihre Schleuser

Von Katharina Henrich


Frankfurt. Ein Blick nach rechts, ein Blick nach links – wenn Amarjit Singh um 6 Uhr morgens seine Arbeitsstelle verläßt, schaut er sich immer ängstlich nach der Polizei um. Die Vorsichtsmaßnahme ist dem illegal in Deutschland lebenden Inder inzwischen zur zweiten Natur geworden. Fünfmal schon wurde er aufgefordert, seine Aufenthaltsgenehmigung zu zeigen und jedesmal gab sich die Polizei zu seiner Erleichterung mit der schlechten Kopie der Arbeitserlaubnis eines indischen Bekannten zufrieden.

Amarjit gehört der Religionsgemeinschaft der Sikhs an und fühlte sich in Indien diskriminiert. „Wenn man jung ist und Sikh, ist man in Indien sofort verdächtig“, erklärt der 28jährige aus Punjab in gebrochenem Deutsch. In Indien sah er keinerlei Perspektiven für sich. Zweimal hätte die indische Polizei ihn grundlos festgenommen und seine Eltern viel Geld für seine Freilassung bezahlt, bevor er sich zur Flucht entschloß.

Über Moskau gelang er 1990 nach Prag, von wo ihn Schleuser im Auto nach Frankfurt brachten. „Eine typische Route“, bestätigt Olaf Reermann, Experte für Einwanderungsfragen im Bundesinnenministerium. Sogar Menschen aus Afrika würden über die Stationen Rußland oder Weißrußland und dann Ungarn oder Tschechien in die Bundesrepublik kommen. Die Schlepper böten inzwischen schon verschiedene „Schleusepakete“ mit „gestaffelten Tarifen“ bis hin zum „garantierten Grenzübertritt“ an.

Bis zu 10.000 Dollar (rund 17.000 Mark) pro Person würde zur Zeit von Chinesen bezahlt. Ansonsten lägen die Preise zwischen 500 und 4.000 Mark.

Amarjit zahlte damals – kurz nach dem Fall der Berliner Mauer – 700 Mark für seinen Transfer von Prag nach Frankfurt. 1993 stellte er dann in Hannover einen Asylantrag, der abgelehnt wurde. Auf das Ergebnis des zweiten Antrags wartete er erst gar nicht, sondern tauchte ab.

Pro Asyl schätzt in ihrer „Broschüre zum Tag der Flüchtlinge“ die „Gesellschaft der heimlichen Menschen“ auf drei bis viereinhalb Millionen. Reermann hält seriöse Schätzungen nicht für möglich. Registriert seien etwa 600.000 Ausreisepflichtige. Die Zahl der statistisch niemals in Erscheinung getretenen Einwanderer läge gleichwohl sehr viel höher.

Die illegalen Einwanderer finden in der Regel Arbeit auf Baustellen, in Gastronomie und Landwirtschaft. „Da gibt es eine riesen Grauzone von Dienstleistungen niedriger Art“, erläutert der Einwanderungsexperte. Amarjit arbeitet in dieser Grauzone, die zwar genug Beschäftigung biete, aber auch die ständige Angst vor der Entdeckung. Er hat kein Bankonto und keine Krankenversicherung. Seine Wohnung und sein Telefonanschluß laufen nicht auf seinen Namen. Alltägliches wie ein Arztbesuch wird zu einem existenzbedrohenden Abenteuer. Wenn er wirklich mal sehr krank sei, leihe er sich die Versicherungskarte eines Bekannten.

Aber nicht nur die Angst vor der deutschen Polizei macht ihm Sorgen. Als Illegaler ohne staatliche und rechtliche Absicherung wird man schnell Opfer von Erpressern. Eine zeitlang zahlte Amarjit jeden Monat 300 Mark, „um nicht verraten zu werden“, berichtet er. „Das ist ein schrecklicher Druck“.

Kenner der Szene sprechen von fast schon mafios organisierten Banden, die sich auf Schutzgelderpressung von Illegalen spezialisiert hätten. Aber beim Eintreiben von Geld, das sich illegale Einwanderer leihen, um ihre Schleusung zu finanzieren, werden oft recht „fragwürdige und unfeine Mittel“ eingesetzt, die mafiosen Methoden recht nahe kommen.

Amarjits Hauptbestreben liegt deshalb darin, möglichst nicht aufzufallen. Er geht nicht ins Kino, nicht in Diskotheken, nicht zum Sport und erst recht nicht in Urlaub.

Und was für ihn noch schlimmer ist: Es besteht keine Aussicht, irgendwann aus diesem Schattendasein herauszukommen. „Ich müßte eine deutsche Frau finden“, sagt er.

Zurück nach Indien möchte er aber auf keinen Fall, da ihn dort Armut und Diskriminierung erwarte. „Ich bin gerne hier, hier kann ich arbeiten“, und das teilweise bis zu 18 Stunden am Tag, sagt er. Von dem Geld schicke er jeden Monat 1.000 Mark nach Hause zu seinen Eltern. – Sein größter Wunsch sei es, „Papiere“ zu haben.


PRO ASYL
ANMERKUNGEN

zu dem Artikel der Neuen Frankfurter Presse vom 4. Dezember 1998
(Torsten Jäger)

„Chinesen bezahlen 17.000 Mark an ihre Schleußer“

In einem Artikel der Neuen Frankfurter Presse vom 4. Dezember 1998 – „Chinesen bezahlen 17.000 Mark an ihre Schleußer“ – befasst sich die Verfasserin u.a. mit der Thematik nicht oder nicht mehr registrierter Flüchtlinge in der Bundesrepublik Deutschland. Sie führt aus, PRO ASYL schätze „in ihrer ‚Broschüre zum Tag der Flüchtlinge‘ die ‚Gesellschaft der heimlichen Menschen auf drei bis viereinhalb Millionen'“. Damit wird der falsche Eindruck erweckt, diese Zahlen bezögen sich auf das Bundesgebiet.

Richtig ist vielmehr, daß Dr. Matthias Lange, Mitglied des Niedersächsischen Flüchtlingsrats und Vorstandsmitglied der Bundesweiten Arbeitsgemeinschaft PRO ASYL e.V. in seinem im „Heft zum Tag des Flüchtlings 1997“ erschienenen Aufsatz „Illegalisierte Flüchtlinge“ für die Bundesrepublik Deutschland von einer halben Millionen nicht oder nicht mehr registrierten Flüchtlingen ausgeht. Die im ihrem Artikel genannte Größe der „Gesellschaft der heimlichen Menschen“, die drei bis viereinhalb Millionen Personen umfaßt, bezieht Dr. Lange auf alle Mitgliedsstaaten der Europäischen Union.

Darüber hinaus ist die im Artikel vorgenommene Gleichstellung der Zahl nicht oder nicht mehr registrierter Flüchtlinge mit der Zahl der Ausreisepflichtigen sachlich falsch. Die Gruppe der Ausreisepflichtigen rekrutiert sich weitgehend aus Personen, die gemäß §53.4 des Ausländergesetzes nicht abgeschoben werden dürfen, weil sie Gefahr laufen, in ihrem Herkunftsland der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen zu werden oder die gemäß §53.6 AuslG nicht abgeschoben werden, weil ihnen im Herkunftsland eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit erwächst. Dazu gehören Flüchtlinge aus Bürgerkriegsländern wie Afghanistan oder Somalia, aus Ländern, in denen unbestrittene Verfolgungsmaßnahmen nicht dem Staat zugeschrieben werden (Algerien) und – vorwiegend weibliche – Opfer sexualisierter Gewalt, die regelmäßig als nicht-staatlich definiert wird. Der Gruppe der Ausreisepflichtigen gehören darüber hinaus staatenlose Flüchtlinge an, die auf keinen schutzmächtigen Staat zurückgreifen können (Palästinenser und Palästinenserinnen, Sinti und Roma). Diesen Menschen verweigert die Bundesrepublik Deutschland aufgrund der engen Definition des Begriffs der politischen Verfolgung adäquaten Schutz gemäß Artikel 16a GG oder der Genfer Flüchtlingskonvention (§51.1 Ausländergesetz). Durch die sogenannte Duldung wird ihnen – bei fortbestehender Ausreisepflicht – lediglich die Aussetzung der Abschiebung bescheinigt.

Bei nicht oder nicht mehr registrierten Flüchtlingen dagegen handelt es sich z. B. um Personen, die in die Bundesrepublik Deutschland einreisen, dort aber in Kenntniss der geringen Anerkennungschancen keinen Asylantrag stellen oder um Menschen, die sich einer Abschiebung aufgrund von Gefahren im Herkunftsland entziehen, denen die Bundesrepublik Deutschland nicht oder nicht mehr mindestens durch die Erteilung einer Duldung Rechnung trägt.


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