TAG DES FLÜCHTLINGS 1990
Behebung der Fluchtursachen
Victor Pfaff
INHALT
- Grußwort des Vertreters des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen (1990)
- Grußwort der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (1990)
ANALYSEN
- Der gläserne Flüchtling – Gespräch mit Prof. Dr. Spiros Simitis
- Europäische Asylpolitik
- Was garantiert das Grundgesetz? – Zur Diskussion über Asylsuchende und Aussieder
- Behebung der Fluchtursachen
- Flüchtlinge im „Karlsruher Loch“
- Schnellverfahren an der Grenze
FLÜCHTLINGSSCHICKSALE
- Rückblick auf ein Jahrzehnt der Flucht
- „Ich fühle mich wie ein Mann, der mit seinen zwei Beinen in zwei verschiedenen Booten steht“
- „Alles wegen eines Weihnachtsbaumes“
BEISPIELE UND ANREGUNGEN
- Grundregeln der Pressearbeit
- Begrüßungsgeld für Flüchtlinge
- Aufnehmen oder Ausliefern? -Text für eine Meditation
- „Wir suchen Asyl in Ihrer Kirche“
- Aussiedler, Übersiedler, Flüchtlinge: die gleiche Betroffenheit
- Asylantrag als Eintrittskarte
- Umfrage in der Fußgängerzone
- „Bettelmarsch“ gegen drohende Abschiebung
STATISTIK
In der ersten Hälfte März 1990 haben anläßlich eines europäischen Flüchtlingskongresses katholische Bischöfe und Vertreter katholischer Organisationen eine „Botschaft an Europa“ verkündet. Darin heißt es unter anderem, das Gebot der Stunde sei eine Politik, die in ihren Grundzügen auf die Behebung der Fluchtursachen ausgerichtet sei.
1989 stellten 20.020 Personen türkischer Staatsangehörigkeit einen Asylantrag in der Bundesrepublik Deutschland. Sie machten 16,6 % aller Antragsteller aus. Die Gruppe war nach den Polen die stärkste. Im Januar 1990 standen die türkischen Staatsangehörigen unter den Asylantragstellern mit 2.500 weitaus an der Spitze. Das Bundesinnenministerium gab der Hoffnung Ausdruck, die Einführung der Visumpflicht für Türken durch Österreich werde die Zahl zurückgehen lassen. Das Bundesinnenministerium verschwendete keinen Gedanken darauf, wie durch Behebung der Fluchtursachen die Zahl der türkischen und kurdischen Flüchtlinge aus der Türkei gesenkt werden könnte.
Nimmt man die „Botschaft an Europa“ ernst und teilt man die Meinung, das Gebot der Stunde sei es, die Fluchtursachen zu beheben, gibt es gute Gründe, gerade bei der Türkei zu beginnen. Aus doppeltem Grund:
- Kein Staat diesseits der Islamischen Republik Iran mißachtet die Menschenrechte im Inneren so sehr wie die Türkei.
- Die Türkei ist uns, der Bundesrepublik Deutschland, und allen anderen Europarat-Staaten völkerrechtlich zur Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten verpflichtet. Und umgekehrt: Die Bundesrepublik Deutschland und alle anderen Europarat-Staaten sind völkerrechtlich verpflichtet, für die Achtung der Menschenrechte (auch) in der Türkei einzutreten:
I.
Die türkischen Staatsorgane foltern, mißachten die religiösen und ethnischen Grundrechte und Grundfreiheiten und schicken sich an, Völkermord am kurdischen Volk zu begehen.
Die Fülle des Materials zum Beweis dieser Behauptung ist bereits drückend (vgl. z. B. die Dokumentation in der Frankfurter Rundschau vom 3. März 1990, S. 12). Es gibt historische Wahrheiten, die nicht ständig neu bewiesen werden müssen. Die Menschheit ist zum Beispiel nicht verpflichtet, den nationalsozialistischen Massenmord am jüdischen Volk neu zu beweisen, wenn einzelne ihn noch heute bestreiten. Genauso wenig müssen die menschen- und völkerrechtlichen Untaten der türkischen Staatsorgane, begangen am kurdischen Volk, ständig neu bewiesen werden, auch wenn in der Bundesrepublik Deutschland einzelne, einzelne Ämter, einzelne Gerichte sie leugnen oder doch nicht zur Kenntnis nehmen wollen. Es ist eine historische Tatsache, daß bis auf den heutigen Tag türkische Staatsorgane viele Menschen unsäglich foltern, ja ganze Dörfer vernichten, nur weil diese Menschen sich friedlich zu ihrem kurdischen Volkstum bekennen. Schon die Veröffentlichung von Vorschlägen zur Aussöhnung des türkischen und kurdischen Volksteils führt zu Verhaftung (FAZ vom 15. März 1990,S.8).
Die Türkische Republik hat ihr völkerrechtswidriges Verhalten gesetzlich verankert und vor der Welt offengelegt: „Die Muttersprache der türkischen Staatsbürger ist türkisch“ (Gesetz Nr. 2932 vom 19. Oktober 1983).
Ganz Europa kennt die Beispiele von Kurden in der Türkei, die nur kurdisch sprechen können – und es nicht dürfen, und wo sie es doch tun, inhaftiert werden. Der Widerstand gegen diese Barbarei wird militärisch niedergewalzt. Hohe türkische Militärs sprechen von der Ausrottung der Kurden.
Was macht die Bundesrepublik Deutschland amtlich mit den Menschen, die vor diesem Terror flüchten? Die aktiven Kämpfer werden als Terroristen gebrandmarkt, die Asylanträge werden abgelehnt; die passiven Opfer werden als Wirtschaftsflüchtlinge, die es abzuwehren gelte, bezeichnet und behandelt. Neuerdings werden ihnen Verfahren zugemutet, die nur wenige Stunden dauern.
II.
Die Türkei ist Mitglied des Europarates. Durch ihren Beitritt hat sich die Türkei der Satzung unterwofen. Nach Artikel 1 der Satzung hat der Europarat die Aufgabe, eine engere Verbindung zwischen seinen Mitgliedern zum Schutze und zur Förderung der Ideale und Grundsätze, die ihr gemeinsames Erbe bilden, herzustellen und ihren wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt zu fördern. Diese Aufgabe wird von den Organen des Rates erfüllt, unter anderem durch den Abschluß von Abkommen und durch gemeinschaftliches Vorgehen auf wirtschaftlichem, sozialem, kulturellem und wissenschaftlichem Gebiet und auf den Gebieten des Rechtes und der Verwaltung sowie durch den Schutz und die Fortentwicklung der Menschenrechte und Grundfreiheiten. Artikel 3 der Satzung verpflichtet jedes Mitglied des Europarates auf die Anerkennung des Grundsatzes der Vorherrschaft des Rechts und des Grundsatzes, daß jeder, der seiner Hoheitsgewalt unterliegt, der Menschenrechte und Grundfreiheiten teilhaftig werden soll.
Der Gedanke, daß Voraussetzung für das friedliche Zusammenleben der Völker nicht nur die Achtung des Völkerrechtes, sondern auch die Achtung der Menschenrechte ist, gehört heute in Europa, keineswegs nur Westeuropa, zum allgemeinen Gedankengut. Einzig die Türkei erlaubt es sich, systematisch gegen die Grundlagen unserer Kultur zu verstoßen und damit den Europarat-Staaten gegenüber vertragsbrüchig zu werden.
Der Schutz der Menschenrechte im Bereich des Europarates erfolgt auf der Grundlage der Europäischen Menschenrechtskonvention vom 4. November 1950, in Kraft seit 3. September 1953. Heute sind alle Europarat-Staaten an die Konvention gebunden, also auch die Türkei. Die Europäische Menschenrechtskonvention verbietet Folter oder unmenschliche Behandlung oder erniedrigende Strafe oder Behandlung (Artikel 3). Die Europäische Menschenrechtskonvention gewährt nicht nur den Individuen unmittelbar Rechte und Verfahrensrechte, sondern sie räumt den Mitgliedsstaaten das Recht ein, die Menschenrechtskommission mit jeder angeblichen Verletzung der Bestimmungen der Konvention durch einen anderen Staat zu befassen. Die Konvention schafft Verpflichtungen zwischen den Mitgliedstaaten. Mit einer Staatenbeschwerde macht der beschwerdeführende Staat keinerlei eigene Rechte geltend. Er braucht auch kein irgendwie geartetes Interesse an dem Ausgang des Verfahrens deutlich zu machen. Es genügt, wenn es dem die Beschwerde erhebenden Staat lediglich darum geht, den europäischen ordre publique, der durch die Konvention gewährleistet wird, durchzusetzen. Der Europäische Gerichtshof hat im Verfahren Irland gegen Großbritannien (GH 25, 90, Ziff. 239 = EuGRZ 1979, 159) dargelegt, die Konvention erzeuge zusätzlich und oberhalb des Systems gegenseitiger bilateraler Verpflichtungen objektive Pflichten, die, wie es die Präambel zeige, von einer kollektiven Durchsetzung gekennzeichnet werden. Ein Beispiel hierfür ist die Beschwerde einiger europäischer Staaten gegen die Türkei, die im Jahr 1982 erhoben wurde.
Es gibt nicht nur das Recht zur Staatenbeschwerde, es gibt auch die Pflicht – wenn schon nicht im juristisch-zwingenden Sinn, so doch im Geiste der Satzung des Europarates. Artikel 3 Satz 2 der Satzung „verpflichtet“ die Mitglieder, bei der Erfüllung der in Kapitel 1 der Satzung festgelegten Aufgaben „aufrichtig und tatkräftig“ mitzuarbeiten.
Die Bundesrepublik Deutschland leistet jedoch keinen Beitrag, das menschenrechtswidrige und völkerrechtswidrige Verhalten seines türkischen Vertragspartners zu beenden. Als am 1. Juli 1982 einige Europarat-Staaten Beschwerde gegen die Türkei wegen der angeblichen Nichtbeachtung der Konventionsrechte durch die dortige Militärregierung erhoben, hat sich die Bundesrepublik Deutschland dieser Beschwerde nicht angeschlossen. Beschwerdeführer waren Frankreich, Norwegen, Dänemark, Schweden und die Niederlande.
Wenn die Bundesrepublik Deutschland wirklich ein Interesse hat, die Zahl der Flüchtlinge zu verringern und sie durch Behebung der Fluchtursachen zu verringern, dann mag sie endlich, gemeinsam mit anderen Staaten des Europarates, dafür eintreten, daß die türkische Regierung die Menschenrechte achtet.
1982 hat Professor Martin Kriele in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung einen ausführlichen Beitrag zum Thema „Wie wird Entspannung wieder möglich? Recht als Basis des Friedens“ veröffentlicht. In diesem Beitrag trat er mit Nachdruck dafür ein, Rechtsbrüche international zu diskreditieren und moralisch zu isolieren, und zwar nicht nur die Verletzung von Völkerrecht, sondern auch die von Menschenrechten. Nicht die leise Diplomatie sei das angemessene Mittel, sondern beharrliches öffentliches Anprangern. Denn die Gewöhnung an Mißachtung der Menschenrechte bedeutet die Gewöhnung an die Mißachtung des Rechtsprinzips überhaupt. Natürlich war dieser Beitrag damals gegen die Mißachtung der Menschenrechte durch die Ostblockstaaten geschrieben. Aber alles, was zu diesem Thema jemals verfaßt wurde, läßt sich mit gleichem Recht auf die Türkei anwenden.
War die Straßburger Botschaft an Europa eine unverbindliche Mahnung?
Wenn nicht, die Hebel der Umsetzung liegen bereit.
Die Bundesregierung wird nicht von sich aus tätig werden. Sie muß durch Beschlüsse von Organisationen, Wohlfahrtsverbänden, Menschenrechtsorganisationen, kirchlichen Gremien an ihre Aufgabe erinnert werden.
Victor Pfaff ist Mitglied von PRO ASYL und als Rechtsanwalt in Frankfurt tätig
Aufgespießt
„Wer ein schon stark besetztes kleines Rettungsboot mit beschränktem Fassungsvermögen und ebenso beschränkten Vorräten zu kommandieren hat, indessen Tausende von Opfern einer Schiffskatastrophe nach Rettung schreien, muß hart scheinen, wenn er nicht alle aufnehmen kann. Und doch ist er noch menschlich, wenn er beizeiten vor falscher Hoffnung warnt und wenigstens die schon Aufgenommenen zu retten sucht“.
(Schweizerische Verfügung des Justiz- und Polizeiministeriums von 1942)
aus: Fremde unter uns, Materialmappe der Evangelischen Frauenhilfe im Rheinland, Bonn 1990
Hassan Dewran
Sie heißen die Kurden
Sie heißen die Kurden
ihre Heimat ist die Angst ihr Leben ist die Flucht.
Der Nördliche treibt sie nach Süden der Südliche treibt sie nach Osten
der Östliche nach Norden, der Nördliche
nach Süden, der Südliche wieder
nach Norden. Es treibt und treibt
bei Tag und Nacht.
Ihr Todeschrei hat kein Echo
bleibt ohne Anwalt.
Über die Leichen ihrer Toten
werden sie gejagt in den Tod.
Die Toten heißen die Kurden.
Sie erwärmen sich an ihren frischen Wunden
und der kalte Tod
überrascht sie nicht.
Der größte Herd im Orient
der sich Kurdistan nennt
brennt und brennt
von Gestern bis Heute.
Das beste Brennholz sind die Kurden
es flammt und flammt
bei Tag und Nacht.