TAG DES FLÜCHTLINGS 1990
Begrüßungsgeld für Flüchtlinge
Herbert Leuninger, Sprecher von PRO ASYL
INHALT
- Grußwort des Vertreters des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen (1990)
- Grußwort der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (1990)
ANALYSEN
- Der gläserne Flüchtling – Gespräch mit Prof. Dr. Spiros Simitis
- Europäische Asylpolitik
- Was garantiert das Grundgesetz? – Zur Diskussion über Asylsuchende und Aussieder
- Behebung der Fluchtursachen
- Flüchtlinge im „Karlsruher Loch“
- Schnellverfahren an der Grenze
FLÜCHTLINGSSCHICKSALE
- Rückblick auf ein Jahrzehnt der Flucht
- „Ich fühle mich wie ein Mann, der mit seinen zwei Beinen in zwei verschiedenen Booten steht“
- „Alles wegen eines Weihnachtsbaumes“
BEISPIELE UND ANREGUNGEN
- Grundregeln der Pressearbeit
- Begrüßungsgeld für Flüchtlinge
- Aufnehmen oder Ausliefern? -Text für eine Meditation
- „Wir suchen Asyl in Ihrer Kirche“
- Aussiedler, Übersiedler, Flüchtlinge: die gleiche Betroffenheit
- Asylantrag als Eintrittskarte
- Umfrage in der Fußgängerzone
- „Bettelmarsch“ gegen drohende Abschiebung
STATISTIK
So ganz haben wir die Sprache nach den Ereignissen von Berlin nicht wiedergefunden. Tausende Menschen umarmen sich am ersten Wochenende nach Öffnung der Mauer, Verwandte, Freunde und wildfremde Menschen. Ähnliches wiederholt sich an allen überhastet geöffneten Grenzübergängen. Die Bundesrepublik heißt Millionen Besucher aus der DDR mit nie gekannter Herzlichkeit willkommen und läßt sich diese Verschwisterung eine Milliarde Begrüßungsgelder kosten; eine Kleinigkeit angesichts des weltbewegenden Vorgangs.
Am Flughafen Frankfurt geht es zur gleichen Zeit wesentlich stiller, ja verschwiegener zu. Täglich treffen dort Menschen ein, die aus den Krisengebieten der Welt in die Bundesrepublik flüchten. Kein Begrüßungskomitee erwartet sie. Dafür nimmt sie der Bundesgrenzschutz in Empfang, verbringt sie für Tage in ein abgeschlossenes Gebäude, manche sagen: in ein Gefängnis. Dort werden sie erstmals registriert und nach ihren Fluchtgründen und Fluchtwegen befragt. Dann werden sie mit einem Bus in ein Aufnahmelager in der Nähe Frankfurts gefahren.
Am vergangenen Sonntag, dem 19. November 1989, ist es anders gewesen. Vor der Abfertigungshalle des Frankfurter Flughafens wartet tatsächlich, vielleicht das erste Mal, ein Begrüßungskomitee auf die Flüchtlinge. Sie sollen ebenfalls ein Begrüßungsgeld in Höhe von DM 100 erhalten. Das Geld stammt nicht aus der Steuerkasse, sondern aus Spenden, die Frankfurter Christen aufgebracht haben. Es war ihre Idee, die Flüchtlinge in die große Sympathiewelle, die den Deutschen aus dem Osten entgegenbrandet, einzubeziehen. Alle sind uns willkommen, wollen sie sagen, die Menschen aus der DDR, die Übersiedler aus Osteuropa, nicht zuletzt auch die Menschen, die aus Angst um Leib und Leben vor totalitären Regimen und Unterdrückung aus außereuropäischen Ländern zu uns kommen.
Bereits um 11.00 Uhr versammelt sich die Gruppe zu einem Gottesdienst in der Flughafenkapelle. Es sind Kinder und Erwachsene, etwa 30 Personen. (Drei Herren gesellen sich dazu, die sich mit dem Beten und Singen offensichtlich ein wenig schwer tun. Sind es Polizisten in Zivil? Man sollte ja wirklich aufpassen, was Christen so Sonntag morgens in ihren Gottesdiensten und danach tun. Die Drei sind nach dem Gottesdienst allerdings schnell verschwunden. Es droht offensichtlich von diesen Christen keine Gefahr für den Weltflughafen Frankfurt. Dafür kommen jetzt die Vertreterinnen und Vertreter der Medien.)
Zwei Stunden muß die Gruppe mit den kleinen Kindern warten, zuerst in der Kapelle, dann vor dem Flughafengebäude. Die zum Empfang aufgeblasenen Luftballons zerplatzen einer nach dem anderen. Die Willkommensrosen fangen an, ihre Köpfchen hängen zu lassen. Das von zwei Buben gehaltene Spruchband „welcome“ bekommt Schmutzflecken. Wird der Bus halten? Werden die Flüchtlinge verstehen, was die Gruppe will? (Schließlich kommt der Bus, hält an der falschen Stelle, alles läuft hin; es sind aber keine Flüchtlinge, sondern businessmen, Geschäftsleute aus Übersee. Die hätten die irrtümliche Begrüßung sicher als großartige PR-Aktion verstanden.) Dann kommt ein Bus, der bei der Gruppe hält. Peter sitzt vorn, er hatte bereits im Flughafengelände zusteigen dürfen, um die Aktion zu erklären. Die dunklen Gesichter hinter den getönten Scheiben blicken fragend. Auch die Blümchen und Spruchbänder schwingende Gruppe erscheint unsicher. Die Flüchtlinge steigen aus, Hände werden ihnen entgegengestreckt, Kameras und Mikrofone umgeben die Szene. Fotoreporter versuchen Regie zu führen. „Ihr müßt Euch mischen!“ Erste Schrecksekunde auf beiden Seiten, dann kommt Herzlichkeit auf, die Fragen: „Woher kommen Sie?“, Händeschütteln, Umarmung, die Übergabe der Blumen und des Geldes. Die Menschen aus Ghana, Sri Lanka, aus dem Iran und aus Afghanistan legen ihre erste Scheu ab. Sie freuen sich über dieses Willkommen. Nach einer Viertelstunde müssen sie wieder einsteigen, sie werden in der Hessischen Gemeinschaftsunterkunft für ausländische Flüchtlinge in Schwalbach erwartet.
Zurück bleibt eine Gruppe, offensichtlich überrascht darüber, wie spontane Herzlichkeit gegenüber völlig fremden Menschen möglich ist. Geplant war alles als politische Aktion. Es sollte eine Werbung für mehr Sympathie gegenüber Flüchtlingen sein. Das konnte so aussehen, als wären die Flüchtlinge bloß Objekte eines medienwirksamen Spektakels. Heiligt der Zweck auch ein solches Mittel? Eine ernste Frage. Sie spielt aber auf einmal keine Rolle mehr. Was sich ereignet, ist eine Verschwisterung zwischen Menschen, überströmende Herzlichkeit von beiden Seiten, eine Welle gegenseitiger Sympathie, nicht gebunden an Nationalität, Sprache oder Rasse. Das Häuflein Christen steht noch zusammen, als der Bus längst weg ist, glücklich über diese neue, ja neuartige Erfahrung. Ein Zeichen sollte gesetzt werden. Das aber kann man wohl nur mit seiner ganzen Person.