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TAG DES FLÜCHTLINGS 1998

Ausgrenzung kommt von oben

Kontinuitäten der Sozialpolitik von Weimar bis heute

Hulle Hartwig

Herausgegeben zum Tag des Flüchtlings am 2. Oktober 1998

Herausgeber: PRO ASYL, Arbeitsgemeinschaft für Flüchtlinge mit freundlicher Unterstützung der Deutschen Stiftung für UNO- Flüchtlingshilfe e. V., dem Deutschen Caritasverband e. V., dem Hessischen Ministerium für Umwelt, Energie, Jugend, Familie und Gesundheit und dem Interkulturellen Beauftragten der Ev. Kirche in Hessen und Nassau.

Der Tag des Flüchtlings findet im Rahmen der Woche der ausländischen Mitbürger (27. September bis 3. Oktober 1998) statt und wird von PRO ASYL in Zusammenarbeit mit dem Ökumenischen Vorbereitungsausschuß zur Woche der ausländischen Mitbürger vorbereitet.

INHALT

In der Laudatio auf den türkischen Schriftsteller und Menschenrechtler Yasar Kemal anläßlich der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels in der Frankfurter Paulskirche sagte Günter Grass: »Es ist wohl so, daß wir alle untätige Zeugen einer abermaligen, diesmal demokratisch abgesicherten Barbarei sind!« (…)

Grass trifft die etablierte Gesellschaft – die untätigen Zeugen – an ihrem wundesten Punkt: Er weist öffentlich auf Zusammenhänge hin, aus denen alle, die sie gehört haben, ein späteres Resümee nicht ziehen können, nämlich irgendwann später einmal wieder sagen zu können: »Das haben wir alles nicht gewußt.« Wie ist das nun mit der »demokratisch legitimierten Barbarei« in der Sozialpolitik?

Ein Rückblick in die Geschichte der deutschen Sozialpolitik und der Bezug zur Gegenwart macht deutlich: Sozialpolitik orientierte sich mit wenigen kurzfristigen Ausnahmen in der Nachkriegszeit grundsätzlich nicht an den Bedürfnissen der Menschen, sondern immer an den nationalen Interessen des Staates. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Die Sicherung des Standorts Deutschland und die Wahrung nationaler Interessen haben zu einer in der Geschichte der BRD beispiellosen Diffamierung des Sozialstaates und der von ihm Abhängigen geführt.

Die »nationale Frage« hat Vorrang vor der sozialen Sicherung und Verantwortung.

Eine solche gefährliche nationalistische Schieflage ist nicht neu in Deutschland; aus der Weimarer Republik führte sie in ein verbrecherisches Terrorregime und zur Vernichtung von Millionen Menschen.

Die sozialpolitischen Diskursfelder der Weimarer Republik und das spätere Ausrotten sogenannter »Asozialer« durch die Nazis haben ihre Wurzeln schon in den im Kaiserreich entstandenen Grundideen zur Rassenhygiene und Bewahrung bzw. Verwahrung sozial Schwacher.

In der Weimarer Republik entwickelte sich die »Rassenhygiene« zu einer sozialpolitischen Bewegung mit wissenschaftlichem Anspruch. So waren sich die Politik, die Wohlfahrtsverbände und die Kirchen in folgenden Grundsätzen einig (nach Wolfgang Ayaß): 1. »Minderwertige Ballastexistenzen« sollten keinesfalls durch aufwendige, aber sinnlose Sozialleistungen aufgepäppelt werden, während gleichzeitig vollwertige Arbeitslose hungerten. Die heutige Parallele zu der Diskussion um »Arbeitsunwillige« und die Sozialschmarotzer-Kampagne schließt nahtlos an! 2. Stammbäume »asozialer Dynastien« sollten wissenschaftlich die Vererbbar keit minderwertiger Charaktereigenschaften beweisen. Eine die Wurzeln sozialer Not erkennende Sozialpolitik müsse minderwertiges Erbgut von der Fortpflanzung ausschalten, sei es durch Sterilisation oder Internierung der Betroffenen.

Heute will die sogenannte »Bioethikkonvention« die Forschung an Behinderten und sozial Schwachen ohne ihre Zustimmung ausdrücklich erlauben, wenn es im öffentlichen Interesse ist. So als hätte es Auschwitz, das Kaiser-Wilhelm-Institut für Erblehre und Mengele nie gegeben.

Ein Ergebnis der »Studie zur ungehemmten Fortpflanzung Asozialer« (Ende der 20er Jahre) war, »daß ein maroder Volkskörper nur durch Abschneiden seiner kranken Teile geheilt werden könne«. Dieses pseudowissenschaftliche Volksvorurteil fand schon lange vor dem Machtantritt der Nazionalsozialisten breite Zustimmung.

Da die Gesetze, Erlasse und Richtlinien in der Weimarer Republik durch die Beschlüsse des Reichstages demokratisch legitimiert waren, wirkten die Behörden und auch die Wohlfahrtsverbände an allen Repressionen gegen Menschen entschlossen mit. Mit der demokratischen Legitimation wurde der Geist der Gesetze und die Barbarei nicht mehr hinterfragt. Die Nationalsozialisten konnten auf vielen demokratisch legitimierten Gesetzen aufbauen, denn daß der »gesunde Volkskörper« verteidigt werden mußte und ein höheres nationales Gut war als die Lebenssituation des einzelnen, hatte »das Volk« schon verinnerlicht!

Der sozialpolitische staatliche und verbandliche Umgang mit sozial Schwachen definierte sich deutlich am nationalen »Wir-Gefühl«:

die Leistungsfähigen – die Ballastexistenzen die Volksgemeinschaft

  • die Gemeinschaftsfremden die vollwertigen Fürsorgeempfänger
  • die Asozialen und heute: die Deutschen
  • die Fremden (auch wenn sie hier geboren sind!) die Leistungsfähigen
  • die Arbeitsunwilligen, die Sozialschmarotzer, die Wirtschaftsflüchtlinge bis hin zu belasteten Bezeichnungen wie »Asoziale« und »Asylanten« im sprachlichen Umgang der Behörden.

Der Standort Deutschland muß gesichert werden – Sozialabriß und Ausgrenzung sollen dazu beitragen, dieses nationale Ziel zu erreichen, denn schließlich »muß der marode Volkskörper seine kranken Teile abschneiden…«.

Konkret lassen sich die Kontinuitäten von Weimar bis heute exemplarisch an folgenden Beispielen darstellen:

Im §19 der Reichsfürsorgepflichtversicherung von 1924 wurde gesetzlich festgelegt, Fürsorgeempfänger zur Arbeit zu verpflichten. Der §19 des heutigen BSHG sieht die Eingliederung von Sozialhilfeempfängern als eine Maßnahme vor. § 20 regelt die »Gewöhnung an Arbeit« und wird von vielen Kommunen zur Zwangsverpflichtung von Sozialhilfeempfängern genutzt. Wer sich entzieht, hat mit Leistungskürzungen zu rechnen!

Und noch eine erschreckende Kontinuität: Die Verpflichtung zur Arbeit von 1924 war zu Anfang in vielen Städten politisch nicht konsequent durchsetzbar. Nach Machtantritt der Nationalsozialisten und teilweiser personeller Umbesetzung in den Wohlfahrtsämtern fingen Mitarbeiter der Behörden gezielt an, »asoziale Unterstützungsschwindler« gegenüber Arbeitslosen abzugrenzen. Autoritärforsches Auftreten des Beamtenapparates war ausdrücklich gewünscht und funktionierte. Im Februar 1934 schrieb das Hamburger Fremdenblatt: »Im nationalsozialistischen Staat können die Beamten die Fürsorge wieder mit der nötigen Autorität ausüben; sie können Unwürdige und Wohlfahrtsschwindler abweisen und Asoziale mit Zwang anpacken. Sie können es, weil hinter ihnen ein starker Staat steht!« Der Ruf nach dem starken Staat, dem ordnungs- und innenpolitischen Vorgehen gegen sogenannte »Sozialschmarotzer« ist heute wieder täglich hörbar und spürbar.

1934 zeigte sich Autorität und Härte gegen »Asoziale und Gemeinschaftsfremde« durch

  • kleine Schikanen
  • weitgehenden Ausschluß von freiwilligen Leistungen
  • willkürliche Kürzung der Richtsätze (Regelsätze)
  • Lager- und KZ-Einweisung
  • und rigide Anordnung von Pflichtarbeit

Heute zeigt sich unser demokratisch legitimierter Sozial- und Rechtsstaat gegenüber Sozialhilfeempfängern, Arbeitslosen, Asylbewerbern u. a. durch

  • kleinliche Schikanen
  • Einschränkung von Leistungen im Rahmen des Ermessensspielraums
  • zwangsweise Lagerunterbringung für Flüchtlinge
  • Verpflichtung zu gemeinnütziger Arbeit
  • Kürzung der Sozialhilfe bei »mangelnder Mitwirkung« des Betroffenen

Der Beamtenapparat – nicht alle einzelnen Beamten – demonstriert seine Härte und Stärke und übertrifft sich in immer neuen Einschränkungen für die Menschen in Treue und Pflichterfüllung und in Loyalität mit der geistig moralischen Wende gegenüber dem Staat.

Der Gipfel der Perversion und der Apartheidpolitik der Bundesregierung ist die Herausnahme der Asylbewerber aus dem BSHG und die Schaffung des Asylbewerberleistungsgesetzes als rassistisches Sondergesetz – auch dieses ausdrücklich demokratisch beschlossen und legitimiert.

Das heutige Existenzminimum orientiert sich nicht mehr an den Menschen generell. Wir haben ein »deutsches Existenzminimum« nach dem BSHG und ein »fremdes Existenzminimum« für Asylbewerber, Kriegsflüchtlinge, Menschen ohne Paß usw.

Auch hier ist die Kontinuität direkt gewahrt. Wer diese Tatsache – so wie ich – auch im Parlament laut und deutlich ausspricht, wird bepöbelt oder ausgegrenzt.

Dabei wurde es 1934 in den Fürsorgeämtern üblich, »asozialen Hilfeempfängern, Gemeinschaftsfremden und Ballastexistenzen« die ohnehin geringe Fürsorgeunterstützung weiter zu kürzen bzw. nur Naturalunterstützung zu gewähren. So nachzulesen z. B. im Beschluß des Kreisausschusses in Neuwied vom April 1935, in Unterlagen aus Stuttgart und Hamburg, wo »sozial nicht vollwertige Gemeinschaftswidrige« um 20% geringere Sozialleistungen in Form von Sachleistungen statt Bargeld erhielten. Am 31. Oktober 1941 wurde das regional unterschiedliche repressive Handeln durch den Richtsatzerlaß reichsweit vereinheitlicht und festgeschrieben, daß Sachleistungen Vorrang vor redballuzierten Geldleistungen haben. Der Richtsatzerlaß mußte mit aller Strenge und Härte gegen Asoziale umgesetzt werden.

Das Asylbewerberleistungsgesetz von 1993 und in seiner neuesten Fassung von 1997 schreibt für Asylbewerber und andere »sog. Fremde« für die Dauer von drei Jahren um 20% gekürzte Sozialleistungen fest. Dabei besteht besonders der Niedersächsische Innenminister in seinem Erlaß darauf, daß Sachleistungen vor Geldleistungen mit Strenge und Härte gewährt werden. Der Sozialregelsatz stand ab 1934 in voller Höhe und als Bargeldleistung übrigens nur der erbgesunden, leistungsfähigen deutschen Durchschnittsbevölkerung zu. Wir sind also noch lange nicht am Ende!

Fazit

(…) Zur Sicherung des »Standorts Deutschland« wird mit dem Wiederaufleben eines neuen Nationalismus und der Verinnerlichung der dumpfen geistig-moralischen Wende gezielt, konsequent von oben gewollt, der Abriß des Sozial- und Rechtsstaats vorangetrieben. Damit der »nationale Volkskörper« gesunde, wird ausgegrenzt und »Ballast« abgeworfen – die Fremden und die Schwachen zuerst, getreu dem Motto der russischen Schlittenfahrt, den Wölfen immer den letzten zum Fraß vorzuwerfen, in der Hoffnung, selbst nicht dran zu kommen.

Damit dieses politisch gewollte Ziel erreichbar wird und reibungslos funktioniert, beschließen demokratisch gewählte Parlamente Gesetze zur Diskriminierung und Ausgrenzung immer größerer Teile der Bevölkerung. Darum beschließen demokratisch legitimierte Landesregierungen Schikanen und hartes ordnungspolitisches Durchgreifen. Darum reißt vor unseren Augen in einem humanitären, sozialen, demokratischen Rechtsstaat die dünne Decke zwischen Menschlichkeit und Barbarei immer weiter auf.

In meiner beruflichen Tätigkeit als Vorsitzende der Ausländerkommission habe ich mit einer Vielzahl von erschütternden Einzelfällen zu tun, in denen Familien auseinander gerissen werden, in denen Menschen in eine ausweglose Illegalität gezwungen werden, in denen Menschen verletzt oder zu Tode gekommen sind, in denen Menschen rücksichtslos deportiert worden sind.

In der überwiegenden Zahl der Fälle geschieht dies zweifellos auf der Grundlage und im Rahmen geltender Gesetze. Dies kann aber weder beruhigen noch befriedigen. Nicht alles, was rechtmäßig ist, ist legitim. Und erst recht ist nicht alles legitim, was nicht ausdrücklich unter Strafe gestellt ist. Ich denke, ein Blick auf die Geschichte anfangs der 30er Jahre und die Auseinandersetzung mit Assoziationen, die sich zwangsläufig daraus ergeben, wäre ein sehr guter Weg für alle Agierenden in Politik, Verbänden und Verwaltungen, um den eigenen Standort zu finden in bezug auf die verfassungsmäßige Grundrechtsforderung, auf Gewährleistung der Menschenwürde, die ihnen eben nicht abgenommen wird von irgendeinem Gesetz des Bundes oder irgendeinem Erlaß des Landes.

Auf nichts jedoch reagieren genau diese Verantwortlichen in Politik und Behörden so rabiat und allergisch wie auf diese Bezüge zur finsteren Nazi-Vergangenheit. Aber diese Assoziationen sind da und sie sind richtig: Denn sie sollen uns warnen, vor genau der Art nur effizienzorientierten, entmenschlichenden behördlichen Handelns, wie sie im Bereich der Flüchtlingsverwahrung und -abschiebung so barbarisch praktiziert wird.

Der vorliegende Text ist die gekürzte Fassung eines Referats, das Hulle Hartwig als damalige SPD-Landtagsabgeordnete und Vorsitzende der Ausländerkommission des Niedersächsischen Landtags auf dem Folgeforum des Niedersächsischen Sozialbündnisses »Verantwortung wofür?« am 25.10.1997 in Hannover gehalten hat.

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