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TAG DES FLÜCHTLINGS 1999

Ausgrenzen und bespitzeln
Die Realität des Asylbewerberleistungsgesetzes

Wer lange leidet, kann auch länger leiden

Bernd Mesovic

Materialheft zum Tag des Flüchtlings am 1. Oktober 1999

Herausgeber: PRO ASYL, Arbeitsgemeinschaft für Flüchtlinge
mit freundlicher Unterstützung von: Deutsche Stiftung für UNO-Flüchtlingshilfe e. V., Deutscher Caritasverband e. V., Interkultureller Beauftragter der Ev. Kirche in Hessen und Nassau, Kirchlicher Entwicklungsdienst der Ev. Kirche in Deutschland, durch den ABP, Land Hessen

Der Tag des Flüchtlings findet im Rahmen der Woche der ausländischen Mitbürger/ Interkulturellen Woche (26. September bis 2. Oktober 1999) statt und wird von PRO ASYL in Zusammenarbeit mit dem Ökumenischen Vorbereitungsausschuß zur Woche der ausländischen Mitbürger vorbereitet.

INHALT

Seit der vorletzten Novellierung des Asylbewerberleistungsgesetzes (AsylbLG), die zum 1. Juli 1997 in Kraft trat, werden Flüchtlingen im laufenden Verfahren für zunächst drei Jahre medizinische Leistungen nur dann gewährt, wenn akute Krankheits- und Schmerzzustände vorliegen. Welche Konsequenzen dies im Einzelfall haben kann, zeigt ein Fall aus dem Landkreis Celle:

Seit er vor sieben Jahren von irakischen Soldaten gefoltert worden ist, leidet der 28jährige irakische Asylsuchende unter den gesundheitlichen Folgen der Folter. Man hatte ihn mit Gewehrkolbenhieben im Gesicht und auf dem Rücken schwer verletzt. Seine obere Gesichtshälfte ist deformiert und vernarbt, die Nase in Schieflage zertrümmert. In der Sprache der Medizin: Mittelgesichtstrümmerfraktur mit chronischen Irritations- und Entzündungszuständen der Nasenschleimhaut. Traumatische Schief-/ Sattelnase mit tiefen Gesichtsnarben, traumatische De formation des inneren Nasengerüstes,

eingeschränktes Nasenatmungsvermögen rechts und komplette Nasenatmungsbehinderung links. Um wenigstens eine ausreichende Atmung zu gewährleisten, ist eine Operation erforderlich, so der Arzt. Die beantragte Operation lehnt der Landkreis Celle mit Bescheid vom 2. September 1997 ab: Zwar leidet der Patient infolge der Folterungen nicht nur unter einer Wirbelsäulenverkrümmung und einer Schulterverschmächtigung, sondern auch unter den diagnostizierten Nasenproblemen. Akute Schmerzzustände, so die Auffassung des Landkreises, liegen jedoch nicht vor. Auch weitere ärztliche Gutachten, in denen anfallartige Störungen, Krämpfe infolge der eingeschränkten Atmung und psychogen bedingte Hyperventilation (eine Art Panikatmung) bescheinigt werden, helfen nicht weiter.

Es folgt der Gang zum Verwaltungsgericht. Dessen Richter treiben den Zynismus auf die Spitze. In einer Entscheidung vom 18. März 1998 stellt das Gericht fest, daß offenbar kein unaufschiebbarer Handlungsbedarf bestehe. Der Antrag steller lebe ja schließlich schon nach eigenen Angaben seit 1991 mit dieser Verletzung. Luftmangel sei kein akuter Schmerzzustand. Und was die Kopfschmerzen angehe, so könne »nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit festgestellt werden, daß diese ihre Ursache gerade in der Nasenfraktur haben, da der Antragsteller weitere Verletzungen aufweist und zudem über psychische Leiden nach der seinem Vortrag erlittenen Folter klagt«. Ergo: Wer so lange gelitten hat, der kann auch weiter leiden. Seit sieben Jahren leidet M. unter den Verletzungen, die ihm irakische Soldaten bei der Folter beibrachten. Auf die Frage, wodurch die Verletzungen entstanden sind, komme es nicht an, urteilten die Richter. Das AsylbLG kenne keine Ausnahmeregelungen für Verletzungen, die von Folterungen herrühren. Unterlassene Hilfeleistung ist ein Straftatbestand. Mit dem AsylbLG allerdings wurde die unterlassene Hilfeleistung gesetzlich abgesegnet.

Kein Geld für den Zahnarzt – Zähne weg

Ein Effekt des AsylbLG ist, daß es die Behörden zur Verweigerung von Leistungen einlädt. Denn Recht haben und Recht durchsetzen sind, wie der Volksmund weiß, zwei verschiedene Paar Schuhe. Eilverfahren vor den Verwaltungsgerichten, mit denen man theoretisch sein Recht durchsetzen kann, dauern im besten Fall einige Wochen, meistens viel länger. Widerspruchsverfahren gegen einen ablehnenden Bescheid des Sozialamtes schleppen sich ebenfalls lange hin. Vor der Tür des Gesetzes und vor der Tür des Sozialamtes regeln sich dann manche Dinge von selbst. Dies wäre ein zynischer Kommentar zu dem folgenden Fall aus Berlin: Frau Y., 40jährige Albanerin und Asylsuchende, hatte des öfteren Zahnschmerzen. Die Zahnärztin teilt mit: Zwei Zähne des Oberkiefers seien sanierungsbedürftig, aber neue Plomben würden nicht mehr halten. Die Wurzeln sind in Ordnung, so daß die Zähne bei Überkronung erhalten werden könnten. Frau Y. war zuvor mehrere Jahre lang zuhause in Behandlung. Hier kann nicht unterstellt werden, daß sie erst in Deutschland auf die Idee gekommen wäre, eine besonders aufwendige Zahnsanierung vornehmen zu lassen.

Der Antrag beim Sozialamt, den Frau Y. wegen der zahnärztlichen Behandlung stellt, wird dennoch abgelehnt. Auf das Widerspruchsverfahren verzichtet Frau Y., da sich die Sache hinziehen würde. Sie hat aber bereits Schmerzen und kann kaum etwas essen. Sie entscheidet sich gegen die Schmerzen. Dafür sieht sie nur einen Weg: Sie läßt sich die Zähne ziehen.

Schikane mit System

Das AsylbLG sieht nicht nur vor, daß die sogenannten Grundleistungen möglichst als Sachleistungen gewährt werden sollten, sondern auch, daß Barleistungen den Asylsuchenden persönlich ausgehändigt werden. Begründet wird dies damit, daß die mißbräuchliche Inanspruchnahme von Leistungen verhindert werden soll.

Eines Tages, im Sommer 1998, erhält der vor etwa vier Jahren in die Bundesrepublik Deutschland eingereiste und inzwischen vom Bundesamt anerkannte Türke B. einen Brief des Samtgemeindebürgermeisters Clausthal- Zellerfeld. Der belehrt ihn, daß er ausländerrechtlich verpflichtet sei, den Wohnsitz in der Gemeinde zu nehmen und daß ein Leistungsbezieher nach dem AsylbLG grundsätzlich nur Anspruch auf Leistungen hat, wenn er sich im Zuständigkeitsbereich des zuständigen Trägers aufhält. Weiter heißt es in dem Behördenbe scheid: »Seit dem Monat Dezember 1997 zahle ich Ihnen Ihre Leistungen nach dem AsylbLG wöchentlich aus. Mit dieser Maßnahme wollte ich sicherstellen, daß Sie sich zumindest an den festgelegten Zahltagen im Bereich der Samtgemeinde Oberharz aufhalten. Wie ich jedoch feststellen mußte, haben Sie die Wertgutscheine meistens nicht an den festgelegten Wochentagen (grundsätzlich freitags), sondern ein oder zwei Arbeitstage später abgeholt. In den übrigen Zeiten sind Sie so gut wie nie in Clausthal-Zellerfeld gesehen worden. Ich muß daher davon ausgehen, daß Sie sich auch weiterhin die wenigste Zeit im Bereich der Samtgemeinde Oberharz aufhalten. Bei Ihren Vorsprachen haben Sie auch mündlich erklärt, daß Sie sich häufig bei Verwandten in Seesen oder bei Hannover aufhalten. Für mich ist es dabei unerheblich, ob Sie zum Verlassen des Landkreises ausländerrechtlich berechtigt sind oder nicht. Wie oben festgestellt, bin ich nur zur Gewährung von Leistungen nach dem AsylbLG an Sie verpflichtet, wenn Sie sich tatsächlich im Bereich der Samtgemeinde Oberharz aufhalten.« Es müsse im übrigen unterstellt werden, daß der Flüchtling möglicherweise wegen einer Erwerbstätigkeit an den festgelegten Tagen verhindert war, seine Gutscheine abzuholen. Deswegen würden ihm ab August 1998 Leistungen nur noch täglich ausgehändigt. Und weiter heißt es: »Unter täglich sind die Öffnungstage des Sozialamtes, also die Tage Montag, Dienstag, Donnerstag und Freitag, zu verstehen. Den an Sie zu leistenden Barbetrag von 80,00 DM habe ich wegen Verweigerung von zumutbarer Arbeit gem. § 5 IV2AsylbLG um 50% auf 40,00 DM gekürzt. Von diesem Betrag zahle ich auf Ihre Bitte 10,00 DM monatlich zur Tilgung eines Bußgeldes an den Landkreis Goslar. (…) Außerdem erhalten Sie von mir neben den Kosten für Unterkunft, Heizung und Strom noch Wertgutscheine über 285,00 DM. Bei einer täglichen Ausgabe dieser Wertgutscheine ergibt sich ein Betrag von ca. 10,00 DM. Ab dem 31. Juli 1997 gebe ich die Gutscheine wie folgt aus: (es folgt eine Liste der Auszahlungstermine). Erscheinen Sie über einen längeren Zeitraum zu den Ausgabeterminen nicht, behalte ich mir eine vollständige Einstellung Ihrer Leistungen vor.«

Der Bescheid macht deutlich: Offensichtlich wird der Flüchtling bespitzelt, wenn darauf hingewiesen wird, er sei so gut wie nie in Clausthal-Zellerfeld gesehen worden. Der Bescheid ist auch in mehrfacher Hinsicht rechtswidrig: Nach dem Asylverfahrensgesetz brauchen Flüchtlinge, die in einer Instanz anerkannt wurden (auch wenn die Entscheidung noch nicht rechtskräftig ist), keine Erlaubnis der Ausländerbehörde, um ihren Zuweisungsort zu verlassen. Auch das AsylbLG sieht nicht vor, daß ein Flüchtling grundsätzlich nur Anspruch auf Leistungen hat, wenn er sich permanent im Zuständigkeitsbereich seines Sozialamtes aufhält, wie dies die Samtgemeinde behauptet. Die schikanöse Festlegung eng begrenzter Auszahlungstage ist nicht statthaft. Von dem absoluten Existenzminimum des Taschengeldes nach dem AsylbLG, das die Gemeinde nochmals um die Hälfte gekürzt hat, hätte kein weiterer Betrag zur Tilgung eines Bußgeldes einbehalten werden dürfen. Für deutsche Sozialhilfeempfänger wie für Flüchtlinge gilt: Einbehaltungen von der laufenden Hilfe, egal, für welchen Verwendungszweck, sind nicht zulässig.

Der von B. eingeschaltete Rechtsanwalt weist die Behörde darauf hin, daß es nach der Rechtsprechung nicht Aufgabe der Sozialhilfe ist, einen Sozialhilfeempfänger zu einer bestimmten Haltung zu erziehen. Die Behörde wolle jedoch offensichtlich sogar ein rechtmäßiges Verhalten unterbinden. Denn Herr B. sei als Angehöriger der yezidischen Religionsgemeinschaft auch unterwegs, um seine Religion auszuüben.

Der Fall B. zeigt, daß die vielen Einschränkungen des AsylbLG und die vom Gesetz gebilligten Eingriffe in die Menschenwürde Behörden animieren, aus eigener Initiative noch weiter zu gehen, als es die Gesetze vorsehen. Das AsylbLG stiftet an – zum Versuch fast totalitärer Verhaltenskontrolle. PRO ASYL hat bereits zum Inkrafttreten der ersten Fassung dieses Gesetzes darauf hingewiesen, daß es den Zählappell möglich mache. Was die Samtgemeinde Oberharz in ihrem Bescheid verlangt, ist die kreative Umsetzung dieser Idee: Asylbewerber B. meldet sich sozialamtsarbeitstäglich zur Stelle. Asylbewerber B. angetreten zum Leistungsempfang.

Anläßlich dieses und ähnlicher Vorfälle hat der Niedersächsische Flüchtlingsrat darauf hingewiesen, daß es zwischen Kontrollmechanismen und Ausgrenzungsstrategien bei der Umsetzung des AsylbLG Parallelen, aber auch Unterschiede zur Entrechtung von Menschen in der Anfangszeit des Naziregimes gibt: »Demokratie und Menschenrechte gehen nicht mit einem großem Knall zu Ende. Sie enden leise mit dem allmählichen Entzug der Menschenwürde für stigmatisierte Gruppen der Bevölkerung, mit der Aufgabe der allgemeinen Menschenrechte für benachteiligte Minderheiten, mit der Aufgabe des Gleichheitsgrundsatzes für unerwünschte Menschen.« Auszüge aus dem Buch »Judenpolitik im Dritten Reich« von U. D. Adam belegen, daß in den ersten Jahren der Naziherrschaft Art und Umfang der öffentlichen Fürsorge für Minderheiten in einer Weise in die Diskussion gebracht wurden, die bedrückende Parallelen zur Debatte ums Asylbewerberleistungsgesetz aufweist. So war 1935 in Berlin die Forderung erhoben worden, alle jüdischen Wohlfahrtseinrichtungen unter öffentliche Kontrolle zu stellen, so »daß ein Mißbrauch öffentlicher Fürsorgegelder durch ihre Tätigkeit nicht mehr möglich ist«. Die Stadt Königsberg schlug auf Drängen örtlicher Gauleiter im gleichen Jahr vor, für die Beurteilung der Hilfsbedürftigkeit jüdischer Unterstützungsberechtigter einen schärferen Maßstab anzulegen. Derartige Wünsche stießen naturgemäß beim deutschen Gemeindetag auf offene Ohren. Auf einer Sitzung eines Wohl fahrtsausschusses am 10. Mai 1937 in Heidelberg wurde der Vorschlag eingebracht, »Juden in der Fürsorge unter Ausländerrecht zu stellen. Diese Anregung gab der deutsche Gemeindetag sofort an den Reichsinnenminister weiter (…)« Der Reichsinnenminister legte dann im Sommer 1938 den Entwurf einer »Verordnung über die öffentliche Fürsorge für Juden« vor, durch die hilfsbedürftige Juden generell auf die Inanspruchnahme der jüdischen freien Wohlfahrtspflege verwiesen wurden. Die öffentliche Fürsorge sollte nur bei deren »Überforderung« eingreifen dürfen. In einer Sitzung zur Beratung dieses Gegenstandes am 28. Juli 1938 stellte sich heraus, daß das Naziregime eine aus der heutigen Perspektive geradezu überraschende Grenze für die Ausgrenzung mit den Mitteln der Sozialhilfegesetzgebung sah: Der Vorschlag, die Hilfe der öffentlichen Fürsorge »auf das zum Lebensunterhalt Unerläßliche« zu beschränken, fand wegen der erwarteten außenpolitischen Reaktion keine Zustimmung.

Leistungen an Asylbewerber sind inzwischen auf das zum Lebensunterhalt Unerläßliche (im Gesetzestext nebulös: »das Unabweisbare«) beschränkt. Das entsprechende Gesetz wurde von einem frei gewählten Parlament in demokratischer Abstimmung beschlossen. Keiner der Abgeordneten ist verdächtig, neonazistisches Gedankengut zu unterstützen. Von einer außenpolitischen Reaktion wurde nichts bekannt.


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