TAG DES FLÜCHTLINGS 1990
Aufnehmen oder ausliefern?
INHALT
- Grußwort des Vertreters des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen (1990)
- Grußwort der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (1990)
ANALYSEN
- Der gläserne Flüchtling – Gespräch mit Prof. Dr. Spiros Simitis
- Europäische Asylpolitik
- Was garantiert das Grundgesetz? – Zur Diskussion über Asylsuchende und Aussieder
- Behebung der Fluchtursachen
- Flüchtlinge im „Karlsruher Loch“
- Schnellverfahren an der Grenze
FLÜCHTLINGSSCHICKSALE
- Rückblick auf ein Jahrzehnt der Flucht
- „Ich fühle mich wie ein Mann, der mit seinen zwei Beinen in zwei verschiedenen Booten steht“
- „Alles wegen eines Weihnachtsbaumes“
BEISPIELE UND ANREGUNGEN
- Grundregeln der Pressearbeit
- Begrüßungsgeld für Flüchtlinge
- Aufnehmen oder Ausliefern? -Text für eine Meditation
- „Wir suchen Asyl in Ihrer Kirche“
- Aussiedler, Übersiedler, Flüchtlinge: die gleiche Betroffenheit
- Asylantrag als Eintrittskarte
- Umfrage in der Fußgängerzone
- „Bettelmarsch“ gegen drohende Abschiebung
STATISTIK
„Zu Rabbi Josua ben Levi kam eines Tages ein Flüchtling und sprach: „Die Häscher des Königreiches sind hinter mir her, um einer Staatssache willen mein Leben zu nehmen; verbirg du mich und errette mich!“ Und Rabbi Josua sah sein gehetztes Angesicht, nahm ihn auf in seinem Haus und vergab ihm.
Gegen Abend umringten die Häscher die Stadt, sandten einen Boten hinein und ließen sagen: „Der Flüchtling ist in die Stadt geflohen. Gebt ihn heraus, wo nicht, so soll euer aller Leben für seines büßen.“ Da lief das Volk auf dem Marktplatz zusammen, die Weiber erhoben ihre Stimme in Geschrei, und die Menge brandete um Rabbi Josua, daß er ihnen rate und helfe. Er aber stand bleich und still in ihrer Mitte und erbat Bedenkzeit bis zum Morgen.
Da es Nacht war, saß Rabbi Josua in seiner Stube bei der brennenden Lampe. Vor dem verhüllten Fenster klang noch das Heulen aufgeregter Weiber. Im Zimmer war es still. In den Decken des Lagers ruhte der Flüchtling im erschöpften Schlaf, das Licht der Lampe entdeckte scharfe Schatten in seinem unter Träumen angstvoll zuckenden Gesicht. Rabbi Josua aber saß in Bangigkeit über der schweren Entscheidung, die ihm aufgeladen war, und wußte sich nicht zu helfen. Leben lag in seinen Händen. In der einen dieses gehetzte, das zu ihm geflohen war, in der anderen das Leben seiner Gemeinde. Durfte er den vertrauenden Flüchtling opfern? Durfte er die ihm anvertrauten Menschen in Gefahr bringen? Er bebte, daß er nicht mit reinem Herzen die Frage entscheide, an der er selbst so nah beteiligt war. Und er wagte nicht allein zu handeln, zu verantworten die furchtbare Wahl. So suchte er sich Rat bei den Meistern der Lehre, die vor ihm gewesen waren. Er saß vor der Lampe, gebeugt über die Bücher, und forschte im Gesetz und in der Mischna nach. Zuletzt fand er ein Wort, das entschied: „Wenn das Leben vieler in Gefahr ist, so darf der Angeklagte ausgeliefert werden.“ Er lehnte sich zurück im Stuhl und atmete tief auf. Hinterm Fenstervorhang graute schon der Morgen. Rabbi Josua sah mit schlaflos brennenden Augen übergroß die Schrift der Mischna, erkannte aber nicht die Schrift im Angesicht des Menschen, jenes Flüchtlings, der sich seinem Schutz anempfohlen hatte. Er beugte sich über das Lager und schüttelte den Schlafenden wach: „Ich bin verantwortlich für die Gemeinde, von meiner Hand wird dein Leben gefordert. Ich habe nach bestem
Wissen und Gewissen die Mischna durchforscht und die Vorschrift gefunden: wo das Leben vieler in Gefahr steht, darf der Angeklagte ausgeliefert werden“. So sprach der Rabbi Josua tonlos. Der Flüchtling aber sank zurück in Todesangst. Rabbi Josua sprach hastig weiter: „Entkommen kannst du nicht, denn die Stadt ist von Häschern umstellt. Ich muß dich ausliefern um der vielen Leben willen, die mir anvertraut sind. Erspare mir die letzte Bitterkeit, daß ich Gewalt gegen dich anwende, und liefere dich selbst aus!“ Des Lehrers Entschlossenheit aber war größere Gewalt als Faust und Schlag. Der Flüchtling sah die letzte Brücke seiner Rettung brechen. Vor der Stadt erschollen die Signale der Häscher; heulend vor Angst stürzte das Volk gegen Rabbi Josuas Haus. Und er stand bleich und still in ihrer drängenden Mitte, während der Flüchtling hinausging, sein einziges Leben zu opfern.
In der nächsten Nacht saß Rabbi Josua wieder still bei der Lampe. Draußen auf der Straße verklang der Jubel des geretteten Volkes. Sein Gesicht aber war bleich; er wußte seine Gemeinde in Sicherheit, den Flüchtling aber tot. Wieder prüfte er alles, was seinen Entschluß bestimmt hatte. Doch plötzlich bemerkte er in der Stille draußen leises Bewegen an der Wand, und die Tür öffnete sich. Eine große Gestalt trat herein, es war der Prophet Elia. Josua stand auf und grüßte ihn mit schweigendem Gruß. Der Prophet sah zunächst stumm im Zimmer umher, deutete auf das leere Lager und fragte: „Wo ist der Flüchtling?“ -Rabbi Josua erschrak und antwortete hastig: „Die Häscher drohten, wenn er nicht ausgeliefert würde, die ganze Stadt zu zerstören. Ich aber forschte nach dem Gewissen in der Mischna und fand eine Vorschrift: wo das Leben vieler in Gefahr steht, darf der Angeklagte ausgeliefert werden“. Der Prophet aber stand, als höre er nicht, und fragte erneut nach dem Flüchtling. Rabbi Josua sank zurück in seinen Stuhl, bedeckte sein Gesicht mit den Händen, konnte aber vor dem forschenden Blick des Propheten nicht bestehen und antwortete bebend: „Er ist gegangen, sich selbst auszuliefern, denn ich sprach mit ihm, und ich fand eine Vorschrift in der Mischna…“ Da trat der Prophet dicht an den Rabbi und sprach mit starker Stimme: „Warum warst du nicht eingedenk der Mischna der Frommen, die allein in den Herzen der Gerechten geschrieben steht? Bist du darum ein Gerechter ohne Fehl, daß du an den Buchstaben der Vorschrift dich klammerst? Siehe, helfen in der bittersten Not nicht in die Meister der Lehre, weder die vorher waren, noch die nachher sein werden, da bist du mit Gott allein und mußt vor ihm erleiden die menschliche Nichtigkeit bis auf den Grund. Wehe dir, daß du geflüchtet bist zu irdischer Hilfe und hast Gottes Angesicht nicht ertragen!“
Und der Prophet wandte sich und ging ohne Gruß. Rabbi Josuas Kopf aber sank auf den Tisch nieder in bitterster Not, und er erkannte, daß er falsch gewählt hatte“.
in: In Deinen Tagen, Jerusalem, Eugen Salzer Verlag, Heilbronn, 1984