TAG DES FLÜCHTLINGS 1997
Argumente gegen Populismus
Gegen überstürzte Massenabschiebungen nach Bosnien
Günter Burkhardt
INHALT
- Grußwort der Vertreterin der Hohen Flüchtlingskommissarin der Vereinten Nationen (UNHCR) in der Bundesrepublik Deutschland
- Ich bin ein Mißbraucher
- Juristisch wegdefiniert
- Europa nutzt die baltische Sehnsucht nach neuen Grenzen – eine Reportage aus Litauen
- Informelle Zusammenarbeit – Tor zu für Flüchtlinge
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ABSCHIEBEHAFT
- Weggesperrt zum Abtransport
- »Gib dem Herrn die Hand, er ist ein Flüchtling«
- Sachsens evangelischer Bischof besuchte Abschiebungshäftlinge in Leipzig
- In Lumpen gehüllt
- FRAUEN
- »Verfolgte Frauen schützen!«
- Geschlechtsspezifische Menschenrechtsverletzungen
- Europaparlament: Asylpolitik muß der Lage von Frauen Rechnung tragen
- KIRCHENASYL
- Zur Notwendigkeit des »Kirchenasyls«
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BEISPIELE UND ANREGUNGEN ZUM TAG DES FLÜCHTLINGS 1997
- Anregungen zum Tag des Flüchtlings 1997
- Dem Gedächtnis der Namenlosen
- Eine Verkettung unglücklicher Umstände? oder »Der Trend geht zur Urne«
- Der Tod eines unbedeutenden Mitläufers
- »Abgeschobene erwartet ein gefährliches Folterpotential«
- Die Härtefallkommission
- Illegalisierte Flüchtlinge
Seit Monaten werden Innenminister nicht müde zu betonen, Kriegsflüchtlinge aus Bosnien-Herzegowina könnten und müßten schnell zurück. Sie würden zum Aufbau des Landes dringend benötigt. Eine Gruppe von Mitarbeitenden aus Wohlfahrtsverbänden, der Verwaltung, Abgeordneten aus Rheinland-Pfalz und Hessen und PRO ASYL hat im Rahmen einer einwöchigen Reise nach Bosnien Gespräche mit Bürgermeistern, Gewerkschaften, UNHCR, der deutschen Botschaft und Nichtregierungsorganisationen geführt.
Das Ergebnis dieser Reise ist: Überstürzte Massenrückführungen von Flüchtlingen nach Bosnien werfen unlösbare Probleme auf.
Flüchtlinge aus der Republik Srpska
Die Bundesrepublik Deutschland hat ca. 320.000 Flüchtlinge aus Bosnien aufgenommen, davon sind 60% aus der Republik Srpska (R.S.).
Eine Rückkehr dieser Flüchtlinge in die R.S. ist unmöglich. Minderheiten wie Muslime, Kroaten oder Roma werden dort nicht geduldet. Ihre Sicherheit ist nicht gewährleistet. Dies gilt auch für Deserteure, für die es bisher keine Amnestie gibt.
Die soziale Lage in R.S. ist katastrophal. Nur 5 –10% der Bevölkerung haben Arbeit. Die internationale Hilfe konzentriert sich auf Bosnien-Herzegowina.
Nur 1 – 2% der Leistungen gehen in die R.S. UNHCR -Vertreter stellen heraus, daß es ohne einen Aufbau in R.S. nicht möglich ist, eine Akzeptanz für die Rückkehr von Flüchtlingen nach R.S. herzustellen.
Flüchtlinge aus der kroatischen »Republik Herzeg-Bosna«
Obwohl in Dayton nicht vorgesehen, ist Bosnien-Herzegowina faktisch dreigeteilt in die Republik Srpska, muslimisch dominierte Gebiete und die kroatische »Republik Herzeg-Bosna«, die entgegen dem Friedensvertrag weiter existiert.
Eine Rückkehr von Nicht-Kroaten nach Herzeg-Bosna ist nur in wenigen Einzelfällen gelungen. Rückkehrer werden schikaniert, bedroht und mißhandelt. Dies gilt insbesondere für Muslime und Roma. Ihnen wird die Registrierung verweigert. Die Folge ist, daß sie keine medizinische Hilfe oder soziale Unterstützungsleistungen in Anspruch nehmen können.
Flüchtlinge aus muslimischen Gebieten
Auch hier ist die Lage gespannt. Selbst für Muslime, die aus diesem Gebiet stammen, ist eine Rückkehr nur schwer möglich. Keinesfalls können in diesen Gebieten im Jahr 1997 100.000 Flüchtlinge aus Deutschland aufgenommen werden. Folgende Gründe sprechen dagegen:
60% der Wohnungen in Bosnien-Herzegowina sind zerstört. In einer Stadt wie Sarajewo sind von 300.000 Menschen 100.000 Binnenflüchtlinge. Eine ähnliche Situation gibt es in ganz Bosnien. Häuser und Wohnungen, die intakt sind und die möglicherweise nach Deutschland Geflüchteten gehören, wurden von Binnenvertriebenen belegt. Eine Räumung ist ohne neue Konflikte nicht möglich.
Trotz der schlechten Perspektive geht UNHCR davon aus, daß 1997 insgesamt 200.000 Flüchtlinge freiwillig zurückkehren werden. Zusätzlich dürften ca. 100.000 Binnenvertriebene versuchen, in ihre Wohnungen zurückzukehren. Für diese mit relativ großer Sicherheit zu erwartenden 300.000 freiwilligen Rückkehrer werden Unterkünfte benötigt.
UNHCR kalkuliert, daß 4,5 Personen im Durchschnitt in einem Haus leben könnten. Für diese Rückkehrer sei die Wiederherstellung von 65.000 Häusern nötig. Alle Hilfsorganisationen könnten jedoch zusammen nur 13.000 Häuser im Jahr rekonstruieren.
Um eine soziale Eskalation zu vermeiden, kann dieser Wohnraum nicht allein für Rückkehrer gebaut werden. Wiederaufbauprogramme müssen auch der dort verbliebenen Bevölkerung zugute kommen.
Die größte Gefahr für Rückkehrer sind die Minen. Vorsichtige Schätzungen gehen von 3 Millionen Minen aus. Bisher wurde nur ein Teil der Minen kartographiert. Pro Monat gibt es ca. 50 Tote und Verletzte. Rückkehrer, insbesondere Kinder, sind hier besonders gefährdet. Es wurde berichtet, daß Einheimische noch eher wissen, wo Minen liegen.
Faktisch ist Bosnien dreigeteilt in serbisch, kroatisch und moslemisch kontrollierte Gebiete. Eine Rückkehr von Minderheiten ist in aller Regel nicht möglich. Rückkehrende werden schikaniert und bedroht.
UNHCR berichtet dies von verschiedenen Orten in Bosnien. Eine kroatischen Familie sollte z.B. genötigt werden, für drei Jahre im voraus Telefongebühren zu bezahlen. Rückkehrern, insbesondere Roma, wird die Registrierung verweigert. Dies bedeutet, daß sie keine medizinische oder soziale Unterstützung erhalten können.
Die Polizei kann keine rechtsstaatlichen Verhältnisse durchsetzen. Ein deutscher Polizist, der in Kljuc bei der Internationalen Police Task Force (IPTF) arbeitet, berichtet, daß sogar Polizisten Menschen »ausrauben« würden. Polizisten erhalten einen Monatslohn von 20,- DM zuzüglich freier Wohnung und freiem Essen. »Ausrauben« bedeute, daß Straßenkontrollen durchgeführt werden, bei denen willkürlich abkassiert würde.
10–20% der Bevölkerung in der Föderation haben Arbeit. Das Land lebt in erster Linie von Überweisungen aus dem Ausland. Zweitgrößte Einnahmequelle sind die Ausgaben von internationalen Helfern, die durch Mieten und Konsum vielen Menschen ein Überleben ermöglichen. Das Land produziert faktisch nichts selbst. Die Industrie ist zerstört.
Die Landwirtschaft kann eine Selbst-versorgung wegen der großen Minengefahr auf längere Zeit nicht sicherstellen.
Im Unterschied zu Deutschland nach dem 2. Weltkrieg sind vor allem Dörfer und alleinstehende Bauernhöfe und Häuser komplett zerstört worden. In ihrer Verzweiflung brennen die Menschen Felder ab oder treiben Schafherden über Weiden, um sie zu entminen. Ein koordiniertes Minenräumprogramm findet bisher nicht statt. Deshalb liegen große Flächen brach.
Zwar arbeiten in Bosnien-Herzegowina ca. 20.000 internationale Helfer aus 400 verschiedenen Nichtregierungsorganisationen. Trotzdem gibt es keine Auffangstruktur für individuelle Rückkehrer. Es existieren weder Existenzgründungsprogramme noch Beratungsstellen für Rückkehrer, die dem einzelnen Hilfe anbieten.
In Bosnien-Herzegowina leben z. Z. genügend Menschen, die bereit sind, das Land wieder aufzubauen. Es fehlen nicht Hände, sondern finanzielle Hilfestellungen. Die wiederholten Aussagen der Innenminister, daß die Rückkehrer zum Wiederaufbau des Landes gebraucht würden, stellen sich als Populismus heraus.
Die möglichen Folgen einer Massenabschiebung aus Deutschland
- Eine geordnete Aufnahme ist kurzund mittelfristig nicht möglich. Bei einer zwangsweisen Rückkehr würde sich die soziale Lage deshalb verschärfen. Rückkehrende müßten sich auch in umstrittenen Gebieten ansiedeln. Die Folge: Die Spannungen zwischen den Ethnien nehmen erneut zu.
- Die Einrichtung von Massenlagern ohne weitergehende Perspektive würde die Gefahr einer Radikalisierung der in ihnen Lebenden bergen. Menschen, die sich überwiegend bislang selbst helfen konnten, werden in eine Situation gebracht, die viele unter ihnen psychisch destabilisieren muß.
- Die verschärfte Konkurrenzsituation zwischen Einheimischen und Rückwanderern, die verstärkt auch Eigentumsrechte reklamieren müßten, würde die bereits jetzt schon feststellbaren Schikanen, Diskriminierungen und Übergriffe vervielfachen.
- Eine illegale Rückwanderung nach Westeuropa wird folgen.
- Sollte die Anwesenheit internationaler Truppen und deutscher Einheiten nicht mehr auf der Basis eines Minimalkonsens’ zwischen den bisherigen Konfliktparteien akzeptiert werden und eine erneute Eskalation eintreten, so besteht – wie vom Bundesverteidigungsminister angedeutet – die Gefahr von Angriffen auf diese Einheiten.
Forderungen von PRO ASYL:
- Deutschland muß seinen gefährlichen Sonderweg beenden. Alle anderen europäischen Staaten gehen nicht so rigoros vor wie Deutschland.
- Die Innenminister des Bundes und der Länder müssen ihren Beschluß, Flüchtlinge aus Deutschland in den nächsten Monaten abzuschieben, revidieren. Aufnahme- und Integrationsmöglichkeiten für größere Zahlen von Rückkehrenden bestehen z.Z. noch nicht. Die meisten notwendigen Wiederaufbauprogramme sind kaum oder gar nicht angelaufen. Im Jahr 1997 darf es deshalb keine Abschiebungen nach Bosnien-Herzegowina geben.
- Wie viele andere europäische Staaten auch sollte sich die Bundesrepublik auf die Förderung der freiwilligen Rückkehr und die Integration dieser Rückkehr inWiederaufbauprogramme konzentrieren. Die Zahl der freiwilligen Rückkehrer könnte wesentlich größer sein, wenn sie mit Unterstützung nicht nur auf dem Papier rechnen könnten.
- Vor dem Hintergrund der labilen Lage in dem Spannungsgebiet Bosnien-Herzegowina müssen für jene Flüchtlingsgruppen adäquate Schutzregelungen gefunden werden, die voraussichtlich in den nächsten Jahren oder gar auf Dauer nicht zurückkehren können.
Dazu gehören u.a.:- Flüchtlinge, die in ihrer Heimatregion zur Minderheit wurden;
- Menschen, die in binationalen Ehen leben;
- Deserteure und Kriegsdienstverweigerer, insbesondere aus der Republik Srpska;
- Roma, die in allen Landesteilen diskriminiert und schikaniert werden
- traumatisierte Personen;
- Zeugen, die bereit sind, vor dem internationalen Kriegsverbrechertribunal auszusagen.
- Die Revision des Phasen- und Zeitplanes für die Abschiebung bosnischer Kriegsflüchtlinge muß auch beinhalten, daß auf alle Formen des »sanften Druckes« durch die Erteilung lediglich kurzfristiger Duldungen oder Grenzübertrittsbescheinigungen, durch die Verweigerung oder Kürzung von Sozialhilfe oder die Nichtverlängerung von Arbeitserlaubnissen verzichtet wird.
Es ist zum Preis von DM 0,25 pro Exemplar zuzügl. Versandkosten zu bestellen beim
Förderverein PRO ASYL e.V.
Postfach 10 18 43
60018 Frankfurt/Main