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12.06.1998
Süddeutsche Zeitung

Von Christian Schneider

Ungefähr 300 Familien aus Ex-Jugoslawien sind betroffen

An Krücken, doch reisefähig

Die Deutschen Ausländerbehörden setzen jetzt
auch behinderte Flüchtlinge vor die Tür


München, im Juni – Wenn Miran in seinem Bett liegt und schläft, sieht er aus wie jedes andere Kind. Die braunen Haare sind verwuschelt, die Backen rot und rund wie Äpfel. Gleichmäßig geht der Atem. Ein Bild des Friedens. „Miran ist ein lieber Junge“, sagt seine Mutter und zieht die Bettdecke zurecht. Um überhaupt halbwegs normal leben zu können, hat der Siebenjährige bereits sieben Operationen hinter sich. Schon wenige Tage nach seiner Geburt haben Ärzte in einer Klinik in Zagreb dem Säugling ein kleines Ventil in den Kopf implantiert, damit sich in den Gehirnkammern des Jungen nicht zuviel Flüssigkeit sammelt. Über einen Katheter, der als künstliche Ader durch den Körper führt, wird das Wasser aus dem Kopf in den Bauchraum abgeleitet. Wenn das Ventil versagt und der Wasserdruck im Kopf steigt, bekommt Miran epileptische Anfälle.

„Ein ziemlich komplizierter Fall“

Für die Medizin ist ein Ventilversorgter Hydrozephalus (Wasserkopf) nichts Ungewöhnliches mehr. Doch müssen Menschen mit dieser Krankheit unter ständiger ärztlicher Kontrolle stehen. Denn „bei so einer Mechanik im Kopf kann es immer wieder Störungen geben“, sagt Professor Frank Höpner. Der Chefarzt der Kinderchirurgie am Krankenhaus München-Schwabing hat derzeit rund 800 Patienten mit Hydrozephalus in Behandlung oder unter ständiger Beobachtung. Bei Miran, der als Frühgeburt zur Welt gekommen ist, haben die Ärzte damals nicht nur den Wasserkopf diagnostiziert, sondern auch spastische Lähmungen, einen „Spitzfuß links“ und zudem noch eine starke Sehbehinderung. „Der Junge ist ein ziemlich komplizierter Fall“, sagt Mirans derzeitiger Hausarzt in München, Danko Cerovecki.

Als seine Eltern 1993 zusammen mit ihm und seinem Bruder aus Mostar flüchteten und nach Deutschland kamen, konnte der Junge nur mühsam krabbeln. Inzwischen kann Miran mit Hilfe von Krücken stehen und auch einigermaßen gehen. Möglich gemacht haben das einige orthopädische Eingriffe und der inzwischen regelmäßige Besuch der Bayerischen Landesschule für Körperbehinderte in München. Die bescheinigt ihrem Schüler, er habe in den vergangenen 15 Monaten „sowohl im motorischen als auch im kognitiven und sozialen Bereich deutliche Fortschritte gemacht.“ Bei weiterem Besuch dieser Einrichtung könne von „kontinuierlichen Verbesserungen“ ausgegangen werden.

Das ist fraglich geworden. Das Kreisverwaltungsreferat (KVR) München hat die Familie Raljevic schriftlich aufgefordert, „die Bundesrepublik Deutschland bis spätestens 2.6.1998 zu verlassen.“ Sollte die Ausreise nicht fristgerecht erfolgen, „werden Sie nach Bosnien-Herzegowina abgeschoben“, droht der Bescheid des KVR. Die Eltern sind fassungslos, die Ärzte entsetzt. Miran ist kein Einzelfall. In einer Petition an den bayerischen Landtag hat das Spastiker-Zentrum München um Schonung und Einsicht für sechs seiner aus Ex-Jugoslawien stammenden Schützlinge gebeten. Auch sie sollen innerhalb des nächsten Vierteljahres zusammen mit ihren Familien Deutschland verlassen, eine Verlängerung des Aufenthaltes haben die Ausländerbehörden trotz der ärztlichen Atteste abgelehnt. Vergleichbares und Appelle verzweifelter Eltern werden auch aus anderen Teilen des Freistaates gemeldet. Vertreter von Betreuer-Initiativen schätzen, daß „vielleicht 300 Familien“ betroffen sind. Genaue Zahlen gibt es nicht.

In öffentlichem Interesse

Nach dem Willen der Innenminister von Bund und Ländern sollen bis Ende des Jahres möglichst alle Flüchtlinge aus Bosnien-Herzegowina die Bundesrepublik verlassen haben. Um das zu erreichen, wird nun offensichtlich auch Behinderten und ihren Angehörigen die Tür gewiesen. Ihr Rauswurf, wie es amtlich heißt, liege im „öffentlichen Interesse.“ Eine Sonderbehandlung für diese Personengruppe sei nicht vorgesehen, bestätigt das bayerische Innenministerium. Wer „reisefähig“ sei, müsse gehen. Im übrigen werde ja jeder Fall einzeln geprüft und bewertet, wiegelt der Sprecher des Ministeriums ab.

Die Ausweisungsbescheide – „entschieden wird nach Aktenlage“ – lassen das Gegenteil vermuten. In den Behördenschreiben wird unter anderem stereotyp auf den „derzeitigen Lagebericht des Auswärtigen Amtes“ (AA) in Bonn verwiesen, demzufolge „die medizinische Grundversorgung in Bosnien-Herzegowina gesichert“ sei. Das Gesundheitswesen in Bosnien, heißt es , habe einen „gemessen an westeuropäischen Maßstäben, mittleren Standard“. Manchmal wird im Ausweisungsbescheid eingeräumt, daß „die medizinische Versorgung ein Problem vieler Rückkehrer“ sei. Aber sogleich wird auch klargestellt: „Diese Angelegenheit fällt jedoch in die Zuständigkeit der dortigen Behörden und kann mit den Mitteln des deutschen Ausländerrechts nicht behoben werden.“

Pressesprecher Fuchs vom KVR in München läßt den Vorwurf, die Behörde gehe unmenschlich vor, nicht gelten. Jedes Attest werde genau geprüft. Im übrigen gebe der Lagebericht des AA, bezogen auf einzelne Krankheiten und Standorte, sehr detailliert Auskunft. Notfalls, so versichert Fuchs, werde sogar bei der deutschen Botschaft in Sarajewo zurückgefragt, die ihrerseits ihre Vertrauensärzte einschalte.

Der Lagebericht des AA sei „trefflich“, bestätigt das UN-Flüchtlingswerk (UNHCR), die Schlußfolgerungen aber, die daraus gezogen würden, seien fragwürdig. „Der Lagebericht ist das eine, die Wirklichkeit ist das andere“, sagt die Vertreterin einer privaten Hilfsorganisation in Bonn, die Behinderte in Bosnien betreut. Noch deutlicher wird Klaus Mock vom Deutschen Beratungsbüro in Sarajevo: „Die Zustände bei der medizinischen Versorgung sind noch sehr mangelhaft“. Die Flüchtlingsorganisation Pro Asyl in Frankfurt wirft der deutschen Botschaft in Sarajewo vor, Vertrauensärzte einzuschalten,“die sich teilweise undifferenziert zu Behandlungsmöglichkeiten äußern.“

Die Eltern von Miran, Senada und Hasan Raljevic wollen jetzt in die USA auswandern. Die letzte Frist dafür endet am 26. August. „Mein Herz ist in Bosnien“, beschreibt die Mutter ihre Seelenlage, „aber dort hat unser Sohn keine Chancen, und in Deutschland dürfen wir nicht bleiben.“


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