TAG DES FLÜCHTLINGS 1995
Ärzte als Handlanger
INHALT
- Grußwort der Vertreterin der Hohen Flüchtlingskommissarin der Vereinten Nationen (UNHCR) in der Bundesrepublik Deutschland
- Kriegsflüchtlinge brauchen eine Lebensperspektive
-
GRENZEN: LAND, WASSER, LUFT
- Justizlotto am Flughafen
- Kein faires Verfahren für nigerianische Flüchtlinge
- Datenschutz ist Flüchtlingsschutz
- Ein natürlicher Tod
- Deutsche Ufer – Tod an der Grenze
- Festung Europa: Die Odyssee eines Deserteurs aus Kosova
- Verhaftet, gefoltert, verschwunden – wenn deutsche Behörden abschieben
- Lageberichte des Auswärtigen Amtes: Verharmlosung von Menschenrechtsverletzungen?
- Zweierlei Wahrnehmungen: Behördliche Auskünfte und die Realitäten vor Ort
IN DEN HERKUNFTSLÄNDERN
Altersbestimmung durch Röntgen der Handwurzelknochen – das ist nicht nur ein medizinisches Fachthema, sondern auch ein asylpolitisches und eines der ärztlichen Ethik, wie der Frankfurter Orthopäde Dr. Winfried Beck an einem Beispiel zeigt:
»Im September 1994 landen die beiden minderjährigen Kinder einer seit 1993 anerkannten Asylbewerberin aus Afghanistan am Frankfurter Flughafen. Ausweis und Angaben der Mutter belegen ein Alter von 14 bzw. 15 Jahren. Der BGS unterstellt jedoch Falschangaben, schließlich geht es um viel: Nach dem Erlaß von Innenminister Manfred Kanther werden nämlich Jugendliche ab dem 16. Lebensjahr wie Erwachsene behandelt. Konkret bedeutet dies die schnelle Abschiebung und vorherige Unterbringung auf dem Flughafen. Minderjährige hingegen genießen einen völkerrechtlichen Schutz einschließlich der Einschaltung des Jugendamtes.
Der BGS beauftragt die Flughafenklinik, das Alter der Kinder festzustellen. Der Kommissarische Leiter kommt zu dem Ergebnis, die Kinder hätten ein »radiologisches Alter« von 16 und 18 Jahren. Er habe »nur« einen Auftrag ausgeführt, über mögliche Folgen habe er nicht nachgedacht, wie der Arzt später erläuterte.
Allerdings war sein Vorgehen bei der Altersbestimmung alles andere als üblich. Weder die Kinder, noch die anwesende Mutter waren um Einwilligung gebeten worden. Mit keinem Wort hatte er die erhebliche Ungenauigkeit der Methode erwähnt: Er hatte wissentlich ein Gutachten zum Schaden der Kinder abgegeben. Auch hier gibt es eine Vorgeschichte: 1988 hatte der damalige Leiter des Institutes für Gerichtsmedizin in Frankfurt am Main, Prof. Gerchow, »Zigeunerkindern« die Hände geröntgt. Er sollte herausfinden, ob die beim Diebstahl Erwischten nicht vielleicht doch älter als von ihnen angegeben, also strafmündig waren. Der Spuk, der nur unter den Nazis Vorläufer hat, wurde erst beendet, nachdem der Leiter der Pädiatrischen Radiologie der Frankfurter Uniklinik, Prof. Ball, die Unwissenschaftlichkeit der Methode nachgewiesen hatte.
Was ist so bemerkenswert an diesen Beispielen? Behördenhilfe durch Ärzte findet seit Jahr und Tag statt: Gutachten für die Berufsgenossenschaften, die Krankenkassen, die Rentenversicherer, Blutentnahmen zur Bestimmung des Alkoholspiegels etc. Immer hat sich der Arzt oder die Ärztin dabei zu fragen: Schade ich damit dem Menschen? Und immer wenn diese Frage bejaht wird, muß und kann er oder sie die Maßnahme verweigern, nicht zuletzt, weil dies die Berufsordnung ausdrücklich verbietet. Selbst bei staatsanwaltlichen oder richterlichen Anordnungen kann auf den Amtsarzt verwiesen werden. Durch das verschärfte Asylgesetz, aber auch durch das Pflegegesetz, die Methadonsubstituierung, die strengere Anwendung der Regelungen im Bereich der Sozialhilfe usw. ist die Nachfrage nach bereitwilligen, gegen ein entsprechendes Honorar tätig werdenden Ärzten gestiegen.
Die Beispiele sind ein Indiz dafür, wie gefährlich eine unkritische ärztliche Haltung für die Patienten sein kann.
Wenn wir jetzt nicht einschreiten, die Diskussion über ärztliche Verantwortung auf allen Ebenen führen, die Berufsordnung in den entsprechenden Passagen durchsetzen, dann ist ein Dammbruch zu befürchten, das heißt ein massenhafter Mißbrauch ärztlicher Kompetenz für Behörden zum Schaden der Patienten.
Öffentlichkeit ist dabei notwendig und erfolgversprechend. In Frankfurt jedenfalls wurden die Knochenaltersbestimmungen inzwischen untersagt.«
Nachdem PRO ASYL Hinweise erhielt, daß Röntgenuntersuchungen zur Altersfeststellung an anderen Orten weitergehen, wurde ein Rechtsgutachten in Auftrag gegeben. Die Rechtsreferendarin Tanja Laier kommt darin zu dem Ergebnis, daß Röntgenaufnahmen der Hand ein ungeeignetes Mittel zum Zweck der Altersbestimmung sind. Ihre Aussagekraft ist gering, weil Skelettalterstabellen für Nicht-Europäer Abweichungen von mehreren Jahren aufweisen. Die Durchleuchtung mit Röntgenstrahlen erfüllt den Straftatbestand der Körperverletzung. Es gibt keine Rechtsnorm, die den Eingriff erlaubt. Der ausführende Arzt kann wegen Körperverletzung strafrechtlich verantwortlich sein. Ein Beamter des Bundesgrenzschutzes, der eine solche Röntgenaufnahme anordnet, macht sich wegen Körperverletzung im Amt strafbar. Da die Handwurzeluntersuchung völlig ungeeignet zur Bestimmung des Lebensalters ist, dürfte daher auch ein Richter die Altersbestimmung nicht anordnen.
Ärzte, Klinikchefs, Bundesgrenzschutzbeamte und Richter müßten sich nun über ihre Verantwortung klar werden. Die Bundesärztekammer teilte bereits am 16.2.1995 mit: »Im Zusammenhang mit der Durchführung von Skelettreifebestimmungen durch Handskelettröntgenaufnahmen sind in Hessen staatsanwaltschaftliche Verfahren eingeleitet worden, die es der zuständigen Landesärztekammer zunächst nicht ermöglichen, in den genannten Fällen tätig zu werden. Eine berufsrechtliche Würdigung der o.g. Verfahren kann erst nach Abschluß der laufenden staatsanwaltschaftlichen Untersuchungen erfolgen.«
Die Zulässigkeit von Röntgenaufnahmen der Hand zum Zweck der Altersfeststellung bei unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen.«
Gutachten im Auftrag des Fördervereins PRO ASYl e.V. und des Vereins demokratischer Ärztinnen und Ärzte. Von Tanja Laier, Rechtsreferendarin.
Mit einem Nachwort von Or. Winfried Beck. Frankfurt 1995
Zu beziehen zum Preis von DM 4,- über Förderverein PRO ASYl, Postfach 10 1843, 60018 Frankfurt/M
Zum Thema Kinderflüchtlinge: Elisabeth Petersen: »Kinder auf der Flucht. Kinderflüchtlinge in Deutschland« Rowohlt Taschenbuch-Verlag, Reinbek 1993.