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TAG DES FLÜCHTLINGS 1999

50 Jahre Grundgesetz –
(k)ein Feiertag für Flüchtlinge (?)

Hubert Heinhold

Materialheft zum Tag des Flüchtlings am 1. Oktober 1999

Herausgeber: PRO ASYL, Arbeitsgemeinschaft für Flüchtlinge
mit freundlicher Unterstützung von: Deutsche Stiftung für UNO-Flüchtlingshilfe e. V., Deutscher Caritasverband e. V., Interkultureller Beauftragter der Ev. Kirche in Hessen und Nassau, Kirchlicher Entwicklungsdienst der Ev. Kirche in Deutschland, durch den ABP, Land Hessen

Der Tag des Flüchtlings findet im Rahmen der Woche der ausländischen Mitbürger/ Interkulturellen Woche (26. September bis 2. Oktober 1999) statt und wird von PRO ASYL in Zusammenarbeit mit dem Ökumenischen Vorbereitungsausschuß zur Woche der ausländischen Mitbürger vorbereitet.

INHALT

Am 8.5.49 stimmte der Parlamentarische Rat über das Grundgesetz ab. Mit dieser Verfassung hat sich Deutschland von den autoritativen Staatsordnungen verabschiedet. Seitdem bekennt sich auch das deutsche Volk zur Selbstverantwortung, die aus der Freiheit und Gleichheit der Individuen hervorgeht und im Bewußtsein der Gemeinschaftsgebundenheit Gerechtigkeit und Gleichheit für alle anstrebt. Dem totalitären Staat, dem sich als totale Herrschaftsmacht alles unterzuordnen hat, ist durch das Grundgesetz und die Akzeptanz dieser Verfassung seit 50 Jahren die Grundlage entzogen.

Betrachtet man vom Ausgangspunkt im Jahre 1949 unser aktuelles Staatsverständnis, unseren Umgang mit der Macht, bedenkt man, welche sozialen Errungenschaften erreicht sind und welche Freiheiten uns längst selbstverständlich geworden sind und von niemandem ernsthaft in Frage gestellt werden, darf uns Stolz und Zufriedenheit erfüllen, auch wenn manche Ereignisse in letzter Zeit zur Wachsamkeit herausfordern.

Von vielen dieser Errungenschaften profitieren auch Flüchtlinge. Das für sie wesentliche Grundrecht jedoch ist demontiert.

Das Asylrecht in Deutschland konnte seinen 50. Geburtstag nicht erleben. Art. 16 II GG der am 8.5.49 beschlossenen Verfassung verkündete in seinem Satz 2 großartig »Politisch Verfolgte genießen Asylrecht«; und wollte ein solches umfassendes, unbedingtes, absolutes Recht auch gewähren: »Entweder wir gewähren Asylrecht, ein Recht, das, glaube ich, rechtshistorisch betrachtet, uralt ist, oder aber wir schaffen es ab.«;, so der Abgeordnete Wagner (SPD) in der 44. Sitzung der 2. Lesung im Grundrechtshauptausschuß am 19.1.49. Durch den sogenannten Asylkompromiß wurde am 29.6.93 Art. 16 II GG so geändert, daß er praktisch ins Leere geht.

Ein Pfeiler unserer Verfassung wurde damit zum Einsturz gebracht, was das BVerfG in seiner Entscheidung vom 14.5.96 ausdrücklich billigte. Das Grundrecht auf Asyl »stehe zur Disposition des verfassungsändernden Gesetzgebers«;, dieser sei »nicht gehindert, das Asylgrundrecht als solches aufzuheben.«

Unter diesem Freibrief leiden seitdem alle Flüchtlinge in Deutschland. Denn die Verfassungsgerichtsentscheidungen markieren Wendepunkte in der Haltung der deutschen Gesellschaft zu schutzsuchenden Flüchtlingen. Bis dahin war die Stimmung zwar nicht gerade von Offenheit und Sympathie geprägt, die deutsche Wohlstandsgesellschaft war sich allerdings bewußt, Verpflichtungen gegenüber den Ärmeren zu haben. Flüchtlingsinitiativen, die sich gründeten, die Wohlfahrtsverbände und die Kirchen, die im Beistand für die Schwachen schon immer ihre Aufgabe sahen, wußten sich von einem gesellschaftlichen Konsens getragen, daß zumindest den Schutzbedürftigen der Schutz nicht versagt werden sollte. Hieran änderte eine rassistische und populistische, teilweise parteipolitisch motivierte Propaganda zunächst wenig. Im Gegenteil: Teile der Gesellschaft stemmten sich durch Lichterketten, Anzeigenkampagnen und verstärkten Eifer dieser Tendenz entgegen.

Der Asylkompromiß und die Verfassungsgerichtsurteile vom 14.5.96 veränderten auch das gesellschaftliche Klima gründlich. Seitdem ist das Asylrecht nicht nur aus den Zeitungen als uninteressant verbannt, sondern auch gesellschaftlich ins Abseits gestellt. Flüchtlinge werden nicht mehr als Menschen, die unsere Hilfe brauchen, gesehen, sondern als »Sozialschmarotzer«; oder jedenfalls als Last für das Gemeinwesen; Helfer als »Gutmenschen« oder Sozialromantiker diskreditiert; Behörden, Bundesamtsentscheider und Gerichte werden nicht mehr an der Richtigkeit und Menschlichkeit ihrer Entscheidung gemessen, sondern nach ihrer Rigidität bewertet. Es gilt die Parole: »Alle raus so rasch wie möglich und niemand mehr rein!«; Dies ist die Essenz im Umgang mit Flüchtlingen im fünfzigsten Jahr des Grundgesetzes, bewirkt durch vielfältige Rechtsbeschneidungen, Diskriminierungen im Alltag, oberflächliche Gerichtsentscheidungen und manchmal auch Behördenwillkür; unwiderlegbar dokumentiert durch die Verschärfung des Asylbewerberleistungsgesetzes im letzten Jahr.

Für Flüchtlinge gibt es 1999, trotz einer rot-grünen Bundesregierung, nicht viel zu feiern.

In der Präambel des Grundgesetzes heißt es: »Im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen, von dem Willen beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen, hat sich das deutsche Volk kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegeben.«

Fragen wir auch nach den Feierstunden unsere Politiker, aber auch unsere Beamten und Richter, wie sie ihrer »Verantwortung vor Gott« gerecht werden können und wollen, wenn Frauen aus Afghanistan ein Asylrecht verwehrt wird, weil die Taliban dort angeblich nicht einmal eine staatsähnliche Gewalt besitzen. Diskutieren wir mit ihnen, ob nicht diese Formulierung der Verfassung, die zum Ausdruck bringen will, daß sie die grundlegenden Gerechtigkeitspostulate anerkennt, daß sie in Verantwortung vor Gott an die unverbrüchlichen Menschen rechte als ethisches Fundament von absoluter Tragfähigkeit gebunden ist, jeglicher menschlichen Disposition entzogen, das Kirchenasyl rechtfertigt, weil und solange die Asylrechtspraxis fehlerhaft ist. Weisen wir Politiker darauf hin, daß die Forderung der Präambel, in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen, nicht nur den Schutz der Opfer des Unfriedens verlangt, sondern auch das Gebot beinhaltet, dies europaweit durchzusetzen und nicht umgekehrt, Europa abzuschotten.

Zuletzt: Gedenktage machen auch die Geschwindigkeit der Entwicklungen deutlich. Vor 50 Jahren hätte sich niemand ein vereintes, weitgehend grenzenloses und im Inneren Freizügigkeit gewährendes Europa mit einheitlichem Geld vorstellen können. Heute ist dies weitgehend Realität.

Die gesellschaftliche Ausgrenzung und menschliche Ablehnung als Fremden trifft nicht mehr die EU- Bürger, sondern die Außenstehenden, die Angehörigen der Dritten Welt. Diese Ausgrenzungsmentalität ist rückwärts gewandt und historisch überholt. Nicht nur einzelne Länder und große Konzerne agieren global, sondern auch die Individuen sind in ihrer Kommunikation und in ihrem kulturellen Verhalten weltläufig geworden. Auch die Probleme sind längst internationalisiert: Konflikte sind nicht mehr lokal begrenzbar; Krankheiten breiten sich weltweit aus, das ökologische Desaster betrifft den ganzen Globus. Die durch die Globalisierung der Wirtschaft, des Warenverkehrs, der Information und der Kommunikation erzeugte Mobilität der Menschen ist derzeit noch auf jene der Ersten Welt konzentriert. Aus den Schwellenländern und der Dritten Welt werden noch überwiegend Produkte (nicht mehr nur Rohstoffe) importiert. Es zeigt sich jedoch bereits ein – von den Konzernen verlangter und auch durchgesetzter – Import auch von Fachleuten der neuen Technologien (und nicht nur von Spezialitätenköchen). Dies wird sich weiter und immer schneller fortsetzen.

Die deutsche (und europäische) Abschottungspolitik wird hieran nichts ändern. Sie feiert teuer erkaufte Scheinerfolge durch die Abwehr der Schwächsten – derer, die vor politischer Verfolgung, vor Menschenrechtsverletzungen oder auch nur großer Not geflohen sind. Der Preis ist die Militarisierung an den Außengrenzen und die Mißachtung der in der Präambel des Grundgesetzes verankerten grundlegenden Gerechtigkeitspostulate.

Die Feierstunden zum fünfzigsten Jahrestag des Grundgesetzes sollten daher Anlaß sein, sich der Zuwanderungsproblematik aus der Dritten Welt mit Gelassenheit, Augenmaß und Offenheit anzunehmen und sie nicht durch eine Abschottungspolitik zu verdrängen. Dies ist nicht nur ein Gebot der Menschlichkeit, sondern auch der politischen Klugheit.


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